51. Ich fliege
Wie von Sinnen marschiere ich los. Ich fühle mich wie eine Flasche Champagner, die zu kräftig geschüttelt wurde – jeden Moment kann der Korken knallen. Allerdings komme ich mir gerade kein bisschen exquisit, perlend und angenehm im Abgang vor, sondern lediglich emotional aufgewühlt.
Zwei starke Fäuste halten mein Herz umklammert, während ich einen Schritt nach dem anderen tue, mein Ziel klar vor Augen: Thors Haus.
Ich kann im Grunde genommen nicht einmal so richtig in Worte fassen, warum ich unbedingt zu ihm muss, es ist ein unbesiegbarer Drang, dem ich nachgebe.
Ich muss seine Stimme hören. Ich muss seine Arme um meinen Körper haben. Ich muss seine Lippen auf meinen fühlen. Ich muss die Liebe zu ihm spüren. Ich. Muss. Zu. Ihm.
Während ich immer schneller und schneller werde, ziehen die ganzen perfekt gestutzten Hecken, die makellosen Fassaden und die weitläufigen Einfahrten mit den blitzsauberen Autos an mir vorbei wie ein Film in Fast-Forward. Mein keuchender Atem ist das einzige Geräusch weit und breit. Doch selbst als meine Lunge beginnt, sich schmerzhaft zusammenzuziehen, werde ich nicht langsamer.
Langsam sehe ich den Supermarkt näher kommen und atme erleichtert auf. Thors Haus ist ganz in der Nähe.
Ich werde mich wieder zu ihm durchs Fenster schleichen müssen, aber darin habe ich schon einigermaßen Übung. In letzter Zeit haben wir uns oft bei ihm getroffen, was verschiedene Gründe hatte. Zum einen, fanden wir es irgendwie komisch. Meine Schwester wohnt ja gerade wieder in unserem Haus und... naja, sie wüsste ganz genau, was wir da in meinem Zimmer tun, das war uns einfach zu komisch.
Zum anderen, hat es einen spannenden und leicht verruchten Charakter sich heimlich zu treffen, das fanden wir irgendwie, keine Ahnung, sexy oder so.
Und außerdem kann man sich bei ihm viel leichter reinschleichen als bei mir, da das Zimmer zu seinem Fenster direkt über der kleinen Garage liegt. Diese kann man wiederum sehr leicht erklimmen, da ein recht robustes Rosenspalier dran angebracht ist.
Völlig atemlos schlurfe ich zu der bescheiden Auffahrt des kleinen Häuschens. Bei Thor gefällt es mir soviel besser als bei mir. Es ist nicht so riesig und schön heimelig.
Als ich näher komme, sehe ich, dass sein Fenster offen steht und er das sanfte Licht dieser rosa Lampe eingeschaltet hat, die ich so mag.
Meine ganze Erschöpfung und Verwirrung scheint mit einem mal wie weggeblasen zu sein und ich grinse breit. Es ist fast schon so, als hätte er geahnt, dass ich kommen würde. Hoffentlich schläft er noch nicht. Ich hätte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wenn ich ihn wecken würde.
Mit einem Schwung neuer Energie und viel klarerem Kopf laufe ich zur Garage und komme vor den wunderschönen, sich am Spalier hochrankenden Rosen zum Stehen. Vorsichtig lege ich meine Hände um das hölzerne Gitter.
Doch gerade, als ich los klettern will, ertönt ein leises, langgezogenes Seufzen von oben. Irritiert halte ich inne.
Was war das denn gerade? Kam das aus seinem Zimmer? Ich schüttle den Kopf.
Blödsinn, mein Gehirn ist nach dieser Rennerei nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgt, das ist alles.
Als ich mich daran mache, hochzuklettern, höre ich dasselbe Geräusch nochmal, nur ein wenig lauter.
Was zum –?!
Ich erstarre, die Zähne zusammengebissen, die Finger um das Spalier gekrampft, und lausche konzentriert.
Da! Da war es wieder! Mein Herz beginnt zu rasen und ich merke, wie mir schwindelig wird.
Was für Geräusche sind das?
Fahrig klettere ich das Spalier hoch. Ganz entfernt spüre ich, wie sich einzelne Holzspäne in meine Handflächen bohren, aber eigentlich bemerke ich es kaum. Als ich mit meinem rechten Fuß fast abrutsche und im Reflex direkt in die Dornen einer Rosenranke greife, spüre ich auch nichts. Alles, was ich wahrnehme, ist das laute Dröhnen meines Herzschlages in den Ohren.
Ich habe kein Gefühl mehr in den Armen und Beinen. Mir kommt es vor, als würde ich mir selbst dabei zusehen, wie ich mich mit einem Satz auf das Garagendach stemme und aufrappele, wie ich mit wackeligen Knien zum Fenster laufe...
Und das, was ich da sehe, will zuerst überhaupt keinen Sinn in meinem Kopf ergeben.
Ich meine... Wieso sind Monas Beine um Thor geschlungen? Und wieso sind sie nackt?
Was soll das?
Wie betäubt stehe ich also da und kann den Blick einfach nicht von den beiden wenden. Monas Gesicht ist mir zugewandt, ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet.
Und dann sieht sie mich plötzlich direkt an.
Ihre Augen weiten sich und sie schreit auf. Jetzt verrenkt sich auch Thor in meine Richtung und schnappt erschrocken nach Luft. Während ich ihnen so dabei zusehe, wie sie sich hastig voneinander losmachen und sich das erstbeste Kleidungsstück in ihrer Nähe überziehen, denke ich trocken: ›Das habe ich nicht anders verdient.‹
Ich habe Eros geküsst. Ich habe ihn sogar gerne geküsst. Ich habe es nicht anders verdient. Ich habe Thor betrogen.
Aber so wie es aussieht, bin ich hier nicht die einzige, die jemanden betrogen hat.
»W-was tust du hier?«, stammelt Thor jetzt, die Augen weit aufgerissen. Erstaunlich ruhig entgegne ich: »Wonach sieht es denn aus? Ich erwische euch in flagranti, würd ich sagen.«
Beide starren mich an, als wären mir plötzlich zwei Hörner gewachsen.
Keiner der beiden macht irgendwelche Anstalten, etwas zu erklären. Sie sehen mich lediglich geschockt an. Ich bemerke, wie Thors Adamsapfel hüpft, als er schwer schluckt.
Ich räuspere mich und murmle: »Naja, ich geh dann mal besser.« Niemand widerspricht.
Was sollten sie auch sagen? Es gibt nichts mehr zu sagen.
In einer ungelenken Bewegung drehe ich mich um und gehe vom Fenster weg. Meine Füße fühlen sich an, als würden sie über das Garagendach schweben. Habe ich gerade sowas, wie eine außerkörperliche Erfahrung?
Als ich runterklettere, rutsche ich mehrere Male fast vom Spalier, aber das registriere ich nur ganz am Rande.
Wie ein Roboter laufe ich die Auffahrt wieder runter, ein Fuß vor den anderen setzend, immer weiter und weiter und weiter... bis laufen irgendwann nicht mehr reicht und ich anfange zu rennen.
Ich renne am Supermarkt vorbei, der um diese Stunde dunkel und verlassen wirkt. Ich renne an den ganzen wunderschönen Häusern mit ihren wunderschönen Gärten und den wunderschönen Autos vorbei. Ich renne an dieser so verdammt wunderschönen Welt dieses Dorfes vorbei, zu der ich nie gehört habe und auch nie gehören werde.
Ich renne und renne, doch das reicht längst nicht mehr, also sprinte ich. Ich sprinte, bis ich das Gefühl habe, dass meine Lungen jeden Moment kollabieren müssen. ›Sollen sie doch, ist mir egal‹, denke ich bitter.
Irgendwann sehe ich eine riesige Front an Maispflanzen immer näher und näher kommen, doch auch das ist mir vollkommen gleichgültig. Als mein kometenschneller Körper auf die länglichen Blätter und Stiele trifft, klatscht es laut, doch nichts kann mich mehr aufhalten. Ich fliege einfach immer weiter und weiter durch die Felder.
Als meine Füße irgendwann in der Erde unter mir steckenbleiben, falle ich auf die Knie.
Ein lautes Schluchzen dringt an mein Ohr und ich hebe irritiert den Blick, um nach der Geräuschquelle zu sehen...
...bis mir klar wird, dass ich die Geräuschquelle bin. Das Schluchzen kommt von mir.
Der Schmerz darüber, betrogen worden zu sein, erfasst mich wie eine Tsunami-Welle, ich fühle mich, als würde ich in zwei gerissen, wieder zusammengefügt und nochmal in zwei gerissen. Ich stecke mir die Faust in den Mund und schreie, schreie so lange, bis keine Luft mehr da ist.
Als mich zwei Hände vorsichtig an den Schultern fassen, zucke ich zusammen und drehe mich um. Eine riesenhafte Gestalt ragt über mir auf und als ich aus geschwollenen Lidern blinzele, kann ich Eros im silbernen Halbdunkel des Mondscheins ausmachen.
Er fragt nicht, was passiert ist. Er sieht mich einfach nur an.
Ich schniefe einmal, dann murmle ich mit kratziger Stimme: »Ich habe gekriegt, was ich verdient habe.«
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