2. Thor
»Finja! Das kann doch nicht dein beschissener Ernst sein!«
Ich verdrehe die Augen. Vanessa übertreibt mal wieder und versteht sich anscheinend ausgezeichnet darauf, mir auf den Sack zu gehen.
Ich hole tief Luft, dann lege ich los: »Nur zu deiner Info: Ich bin nicht vierundzwanzig sieben verfügbar für dich, weil du wegen irgendeinem Idioten rumheulen willst, von dem ich dir gleich gesagt habe, dass er ein Arschgesicht ist. Außerdem hörst du nicht mal zu, wenn ich dir einen Rat gebe, der dir gerade nicht in den Kram passt. Ich bin nicht deine Seelenklempnerin, klar? Ich habe einen anderen Job, bei dem ich auch Geld für meine Zeit und Mühe kriege, weshalb ich mich heute leider nicht mit dir treffen kann.«
Ein knisterndes Schnauben dringt durch den Hörer an mein Ohr. »Boah, a-also... echt, Finja! Du kannst manchmal so eine Bitch sein!«
»Erzähl mir was neues.«
Empörtes Schweigen in der Leitung. Naja, zumindest gehe ich davon aus, dass es ein empörtes ist, wie ich Vanessa kenne. »Fahr doch zur Hölle!«, zischt sie, dann ist die Leitung tot.
Ein paar Sekunden lang lausche ich dem Freizeichen, dann zucke ich die Schultern und schmeiße das Handy auf mein Bett.
Sie hat mich in letzter Zeit sowieso zu viel Energie gekostet. Menschen, die mit meiner brutalen Ehrlichkeit nicht zurechtkommen, müssen nicht mit mir befreundet sein – ich bin nicht der Typ fürs Verhätscheln oder gar Arschkriecherei.
Aber trotzdem. Ich kann mich nicht dagegen wehren... Ein kleiner Kloß bildet sich in meinem Hals.
Und während ich so in meinem Zimmer stehe und meine Fußspitzen anstarre – obwohl ich mich eigentlich für die Arbeit fertig machen sollte – wird der Kloß größer und größer.
Ich hebe den Blick und begegne mir selbst in meinem Stehspiegel.
Ich sollte mal wieder zum Frisör. Mein Pony hängt mir schon weit über die Brauen und die Spitzen meiner leicht gewellten Haare (die Woche sind sie dunkelblau) sind schon voll mit Spliss. Meine Augen, die normalerweise rötlich braun sind, sehen fast schwarz aus. Das passiert immer, wenn meine Emotionen mit mir durchgehen. Trotzig recke ich mir das Gesicht entgegen und schlucke den Kloß einfach runter.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich in spätestens einer Dreiviertelstunde losgehen sollte. Also mache ich mich auf ins Bad, um mich zu schminken.
Ich arbeite als Kellnerin in einem italienischen Restaurant im Dorfzentrum. Das höchste, was mir meine Chefin Federica an Make-up durchgehen lässt, ist roter Lippenstift und ein schwarzer Cateye-Lidstrich. Meine ständig wechselnde Haarfarbe ist wahrscheinlich sowieso schon eine Zumutung für sie.
Einmal, als ich mit lila Glitzerlidschatten und schwarzem Lippenstift zur Arbeit erschienen bin, hat sie fast der Schlag getroffen.
Aber sie ist eine gute Chefin, ich mag sie.
Meine Arbeitsuniform besteht aus einem schlichten, ärmellosen schwarzen Kleid, welches mir ein wenig bis über die Mitte der Oberschenkel geht und dazu passenden, schwarzen Sneakers – Absatzschuhe mutet Federica uns Gott sei Dank nicht zu.
Die rot-weiß karierte Schürze mit dem schnörkeligen Schriftzug Federica's und ein kleines passendes Hütchen bekomme ich vom Restaurant gestellt. Meine Chefin fliegt voll auf Retro und so. Der ganze Laden sieht aus, als käme er direkt aus den Fünfzigern.
Ich muss ehrlich sagen, nach diesem wirklich tollen Gespräch mit Vanessa habe ich noch viel weniger Lust zur Arbeit zu gehen. Ich schüttle den Kopf.
Ach, scheiß doch der Hund drauf! Wegen solcher rückgratlosen Kühe wie Vanessa habe ich mir noch nie einen Kopf gemacht und ich werde jetzt bestimmt nicht damit anfangen!
Ich schüttle den Kopf und richte mich entschlossen auf. Weg mit diesen Gedanken! Ich lasse mich nicht runterziehen, nicht mal von mir selbst.
Ich atme kurz durch, dann gehe ich ins Bad, um mich zu schminken. Roter Lippenstift und ein geschwungener, schwarzer Lidstrich, wie immer, wenn ich arbeiten gehe, was ich Mittwochs und Samstags tue. Jetzt in den Semesterferien habe ich Zeit, sodass ich auch mal Zusatzschichten schiebe.
Als ich fertig bin, betrachte ich mich kritisch im Badezimmerspiegel. Nachdenklich wickele ich mir eine nachtblaue Haarsträhne um den Finger. Soll ich mir eine Frisur machen? Oder die Haare hochstecken?
Genervt puste ich mir den Pony aus den Augen. Am liebsten würde ich mich jetzt einfach nur in den Garten auf meine quietschpinke Liege legen, einen Mojito mit zu viel Rum trinken und die Spätnachmittags-Sonne genießen.
Ich schnaube. Man kann aber nicht immer das haben, was man will.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich zeitlich sowieso nichts komplizierteres als einen Pferdeschwanz machen kann, also beschränke ich mich darauf. Als ich fertig bin, schaue ich erneut auf die Uhr an meinem Handgelenk.
Nur noch zwei Minuten, bevor ich wirklich los muss!
Schnell werfe ich einen Blick in mein Schmuckschränkchen und krame eilig ein paar silbernere Kreolen für meine ersten Ohrlöcher und kleine Stecker in Form von Dreiecken für meine zweiten heraus. Ich verlasse das Haus selten ohne Ohrringe.
Nachdem ich mir die Schuhe angezogen und mir meinen Beutel geschnappt habe, haste ich nach draußen, sperre hinter mir zu, blinzele in die strahlende Sonne... und stelle fest, dass ich meine beschissene Sonnenbrille oben in meinem Zimmer vergessen habe. Genervt verdrehe ich die Augen und gehe sie holen.
Glücklicherweise liegt sie auf meinem Kopfkissen, sodass ich sie nicht noch ewig suchen muss – in meinem Zimmer herrscht nicht immer die größte Ordnung.
Wie soll ich sagen? Es ist nicht direkt chaotisch, aber es ist auch nicht nicht chaotisch. Ergibt das irgendwie Sinn?
Nein, vermutlich nicht.
Wieder unten setze ich mir unwirsch das schwarze Gestell in Katzenaugenform auf die Nase und schwinge mich auf mein Fahrrad.
Ich bin froh, dass meine Schicht heute von fünf bis neun geht, da die Sonne dann nicht mehr so heftig knallt. Ich hasse es, zu schwitzen, bei der Arbeit erst recht.
Der Fahrtwind spielt mir um die Nase, während ich so durch dieses Bilderbuchdorf fahre, und ich genieße es... Also, den Fahrtwind, nicht das Dorf.
Als ich am riesigen, pfirsichfarbenen Haus von Frau Inker vorbeifahre (der besten Freundin meiner Mutter) bewegen sich die Gardinen.
Ganz ehrlich, manchmal kommt es mir vor, als würde diese Frau den lieben langen Tag nichts anderes tun, als am Fenster zu stehen und das Geschehen vor ihrer Haustür bewachen.
Ich verstehe wirklich nicht, was meine Mutter von dieser Frau will, zumal die mal ganz offensiv meinen Vater angebaggert hat.
Aber sie hat Geld, viel Geld. Wahrscheinlich hält meine Mutter sie für einen guten Kontakt.
Als ich ihr demonstrativ zuwinke, sehe ich, wie sich die Vorhänge erneut bewegen, diesmal nur ganz leicht, aber definitiv wahrnehmbar.
Ich grinse. Mir gefällt der Gedanke, sie brüskiert zu haben. Tja, selber schuld, wenn man andere Leute bespannt und sich dabei auch noch erwischen lässt.
Als ich meinen Blick wieder auf den breiten Kiesweg vor mir richte, sehe ich plötzlich jemanden da stehen, mitten im Weg. Ich keuche erschrocken auf und kann gerade noch so den Lenker herumreißen.
Dummerweise lande ich bei der Scheiß-Aktion in den Rosenbüschen von Frau Waldner, die schräg gegenüber von der Inker wohnt.
»Au, verdammt!« Fluchend rappele ich mich wieder hoch und klopfe mir den Dreck von den Knien, was ziemlich wehtut, wie ich feststellen muss. Super, Schürfwunden! Was will man mehr?
Wutentbrannt fahre ich herum. »Kannst du nicht aufpassen?!«, schnauze ich den Typen an, der da wie ein Schaf im Weg gestanden ist.
Wo zur Hölle kam der überhaupt her?!
Verwundert blinzelt er und schiebt sich die Nerd-Brille hoch. »Du hast mich fast umgefahren. Ich denke, du solltest besser aufpassen, nicht?«
»Nein!«, maule ich. Wieder blinzelt er überrascht. »Was glotzt du so blöd?«, fahre ich ihn an. Er zuckt zusammen.
Ich lege den Kopf schief. Wenn er nicht so ein beklopptes Weichei wäre... hm. Er sieht sogar ganz gut aus. Feine Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, rauchblaue Augen und ein ganz passabler Körper, aber er ist leider Gottes ein Volltrottel. Solche Typen verspeise ich zum Frühstück. Langweilig.
Genervt hebe ich mein Fahrrad vom Boden. »Du solltest etwas freundlicher sein«, ertönt plötzlich seine Stimme hinter mir.
Mit hochgezogenen Brauen drehe ich mich um.
»Ich sollte was?« Er räuspert sich und hebt entschlossen das Kinn. Wie putzig.
»Freundlicher sein. Täte dir und vor allem anderen ganz gut.«
Ich ziehe die Brauen zusammen. »Und wer bist du, bitte? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich schon mal hier gesehen zu haben.«
»Daniel Thor. Man nennt mich Thor.«
Thor, Thor... ah, ja! Ich kenne seine Mutter, Antonia. Ihr Sohn (was dann wohl er sein dürfte) studiert eigentlich im Ausland, das hat sie mir erzählt. Antonia lebt etwa fünf Minuten Fußweg von mir entfernt in einem kleinen weißen Häuschen am Supermarkt. Sie ist eine der freundlichsten Menschen, die ich je kennengelernt habe.
»Dann hör mir mal gut zu, Thor: Ich mag deine Mom ganz gern, das ist der einzige Grund, warum ich mich jetzt einfach auf mein Fahhrad schwingen, weiterfahren und die ganze Sache vergessen werde, klar? Nochmal so 'ne dumme Aktion und ich kann sehr unangenehm werden. Stell mich nicht auf die Probe!«
Damit steige ich auf und fahre davon.
Wegen diesem Sackgesicht komme ich noch zu spät! Federica wird ausrasten...
Tja, erst der Typ gestern, der scheinbar mein neuer Nachbar ist, und jetzt der Blödmann hier. Diese Neuzugänge im Dorf sind ja wirklich alles andere als erste Sahne.
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