Kapitel 8 Emily
Ich bin eigentlich ein pünktlicher Mensch. Ernsthaft. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Obwohl man sie wohl eher als überpünktlich bezeichnen kann. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich bestimmt mehrere Hundert Stunden meines Lebens auf Leute oder Termine warten konnte.
Aber wegen der Sache gestern konnte ich nicht wirklich schlafen und deshalb werde ich jetzt zu spät zur Arbeit kommen. Ich bin es immer wieder in meinem Kopf durchgegangen. Wie meine Schwester mir vorwirft, ich würde mich an Cody ranmachen. Und dass ich ja so armselig wäre, mir den Freund meiner Schwester auszusuchen.
Wie kann sie das ernsthaft denken? Ich meine, für was für einen Menschen muss sie mich halten, wenn sie mir das wirklich zutraut? Nur, weil wir noch nie gut miteinander klargekommen sind, heißt das nicht, dass ich ihr so etwas antun würde. Generell würde ich das nie jemandem antun. Frauen sollten doch zusammen halten, vor allem bei Männern. Meistens ist es ja auch so, dass Frauen sich gegenseitig die Augen auskratzen würden für einen Typen, der das nicht mal wert ist. Ich habe das noch nie verstanden und werde es auch nie verstehen. Vielleicht bin ich einfach zu unromantisch oder zu pragmatisch, um mich auf so einen Schwachsinn einzulassen. Aber wie Sophie darauf kommt, ist mir wirklich ein Rätsel. Ist es so selbstverständlich für sie, dass man was voneinander will, nur weil man sich gut versteht?
Ich meine klar, wer nicht weiß, dass er der Freund meiner Schwester ist, der könnte uns für ein Pärchen halten. Das haben sogar schon ein paar Leute, wenn wir mal Essen geholt haben oder so, aber wir haben das nie ernst genommen. Wir fanden es eher unglaublich lustig, weil es für uns beide so abwegig ist. Nachdem ich die ganze Nacht über die Sache nachgedacht habe, kam ich letztendlich zu der einzigen Idee, die für mich Sinn macht. Ich vermute, es passt ihr nicht, dass Cody mit mir so ausgelassen sein kann und deswegen ist sie eifersüchtig. Dann stellt sich allerdings die Frage, wieso sie deshalb wütend wird. Was würde das ändern?
Es wäre so viel leichter, wenn sie nicht so gemein und rachsüchtig wäre. Dann könnte Cody bei ihr auch so locker sein wie bei mir und alles hätte sich geklärt. Ich befürchte allerdings, dass meine Schwester nicht mal mitbekommt, wie sie auf Leute wirkt, denen sie ihr wahres Gesicht zeigt. Sie wird davon aber auch keine großartigen Konsequenzen erwarten, weil sowieso niemand etwas sagen würde. Und weil sie das weiß, hat sie freie Hand. Klar, manche Freunde haben sich von ihr abgekoppelt, aber denen hat sie nur vorgeworfen, dass sie sich für etwas Besseres halten. So wie mir gestern. Auch eine Sache, die ich nicht verstehe. Nur weil ich mich auf keinen Streit mit ihr einlasse, halte ich mich nicht für etwas besseres. Das ist fast so unlogisch, dass es schon wieder logisch ist.
Nachdem ich 10 Minuten vor Arbeitsbeginn erst aufgewacht bin, habe ich mir nur schnell die Haare gekämmt und hochgebunden, mich umgezogen und meine Zähne geputzt. Ich schminke mich sowieso nur dezent, also kann ich es mir auch sparen, obwohl meine Augenringe sich nach so einer kurzen Nacht wohler fühlen würden unter eine Schicht Concealer. Dann ziehe ich mir meine Jacke an und hänge mir meine Tasche über die Schulter.
Ich öffne schnell die Tür und mir steigt ein seltsamer Geruch in die Nase, der mich zögern lässt. Als ich dann nach rechts sehe, bleibt mir fast mein Herz stehen. Collin liegt total blutverschmiert im Türrahmen und schläft tief und fest. Das hoffe ich zumindest. Wenn er tot ist, wird Avery sofort mich verdächtigen. Anscheinend setzt mein Hirn auch für einen Moment aus. Unglaublich, dass das mein erster Gedanke ist, wenn ich einen schwerverletzen Menschen sehe. Aber das ist das erste Mal, dass mir so etwas passiert. Ich denke, da ist es in Ordnung, erstmal etwas überfordert zu sein.
Ich erstarre, als er sich kurz bewegt, um sich wohl etwas bequemer hinlegen zu können. Was natürlich nicht funktionieren wird. Ich meine, er liegt am Boden angelehnt an eine Tür. Er riecht nach Alkohol und hat mehrere blutige Wunden im Gesicht. Sein Shirt ist etwas hochgerutscht und ich kann viele blaue Flecken auf seinem Bauch ausmachen, die sich wohl bald in einen großen Fleck verwandeln werden und schon langsam von blau ins lila und grün wechseln. Es wäre eigentlich wunderschön, wenn es nicht auch verdammt schmerzhaft aussehen würde.
Oh man Emily, konzentrier dich mal. Ich weiß nur ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll. Gleich den Krankenwagen rufen? Oder erstmal versuchen, ihm selbst zu helfen? Wieso lernt man in der Schule eigentlich so unnötiges Zeug wie Mathe oder Physik, aber nicht, wie man sich in so einem Notfall verhalten soll? Sollte ich ihm überhaupt helfen? Dieser Gedanke ist echt mies, aber ich gebe zu, dass ich 1 Sekunde ernsthaft darüber nachdenke. Ebenso schnell verwerfe ich ihn aber auch wieder, weil es einfach falsch wäre. Auch wenn ich mir sicher bin, dass er mich einfach liegen gelassen hätte, wenn er mich letztens wirklich überfahren hätte.
Ich gehe vor ihm auf die Knie und sehe, wie sich seine Brust langsam hebt und senkt. Ein Glück, er schläft wirklich nur und ist nicht kurz davor, zu sterben. Nachdem ich das überprüft habe, ziehe ich schnell mein Handy aus der Tasche und rufe Ben an. Er ist ein Freund und Arbeitskollege, der das hier hoffentlich verstehen wird.
"Wo bist du? Mrs. Meisner dreht schon die dritte Runde vor dem Büro. Wenn du mich fragst, wartet sie nur darauf, dir den Kopf abzureißen, sobald du da bist."
"Dir auch einen guten Morgen. Hör zu, ich habe hier einen kleinen Notfall und komme etwas später. Könntest du bitte allen Bescheid sagen?", frage ich ihn leise, um Collin nicht zu wecken. Bei uns in der Firma ist sowas eigentlich kein Problem. Es sei denn, man hat Kollegen, die es zu einem Problem machen.
"Ja klar, mach ich. Geht es dir gut?"
Ich höre aufrichtige Sorge in seiner Stimme und kurz freue ich mich, dass nicht alle meine Kollegen so sind wie Mrs. Meisner.
"Ja, mir geht es gut. Ich erkläre es dir später, okay? Bis dann."
"Okay. Bis dann", antwortet er erleichtert und legt auf. Ich stecke mein Handy wieder in meine Tasche und schaue Collin an. Wie kann er so friedlich schlafen, wenn er doch anscheinend eine schlimme Nacht hatte? Ich würde echt gerne wissen, was passiert ist, allerdings beschließe ich, dass meine Neugier erstmal warten muss und überlege mir stattdessen, wie ich jetzt weiter vorgehen soll.
Mein Erste-Hilfe-Kurs für meinen Führerschein ist gefühlt eine Ewigkeit her und ich bezweifle, dass sich mein Gehirn etwas aus den Ärzteserien, die ich so liebe, gemerkt hat. Und das, obwohl ich damit mehr Zeit verbracht habe, als ich ehrlich zugeben will. Naja, logisch betrachtet sollte ich ihn erst mal reinbringen, aber ich kann ihn unmöglich tragen. Also muss ich wohl versuchen, ihn aufzuwecken und das könnte witzig werden.
"Collin?", frage ich ihn leise, um ihn nicht zu erschrecken. Dann lege ich vorsichtig meine Hand auf seine Schulter, da ich ja nicht weiß, ob er da auch verwundet ist. Er sieht im Vergleich zu sonst richtig verletzlich aus und ich bekomme fast Mitleid mit ihm. Andererseits hat er sich das Ganze wahrscheinlich selbst eingebrockt, weil er irgendeinen Typen provoziert hat. Oder gleich mehrere, so wie das hier aussieht.
"Collin? Hey, hörst du mich?", frage ich ihn erneut etwas lauter, als er nicht reagiert, und schüttele ihn leicht an seiner Schulter. Er gibt ein genervtes Brummen von sich, schlägt aber zum Glück die Augen auf. Er scheint total verwirrt und benommen zu sein. Da es durch das Fenster im Flur ziemlich hell ist, schlägt er sich aber sofort die Hände vors Gesicht, nachdem er sich aufrecht hingesetzt hat. Ich sehe, dass neben ihm sein Wohnungsschlüssel liegt und sperre schon mal die Tür auf. Das hat er gestern wohl nicht mehr hinbekommen. Ich gebe der Tür einen kleinen Schubs, damit sie aufgeht und knie mich wieder neben Collin. Der hat sich mittlerweile an das Licht gewöhnt und erkennt mich, als er seine Hände aus dem Gesicht nimmt.
"Wie kommst du in meine Wohnung?", fragt er mich mit leicht nuschelndem Ton. Anscheinend merkt er nicht mal, dass wir uns im Hausflur befinden.
"Glaub mir, mich würden keine zehn Pferde in deine Wohnung bringen. Da du aber verkatert und verletzt vor deiner Tür liegst, brauchst du wohl Hilfe", antworte ich ihm und er sieht mich verwirrt an. Kurz glaube ich sogar, dass er kein Wort verstanden hat, doch dann sieht er sich um und bemerkt, wo er ist. Ruckartig zieht er sich am Türrahmen hoch, verliert aber sofort das Gleichgewicht und stürzt uns beide fast um, als ich ihn stützen will. Er drückt mich gegen den Türrahmen und hält sich mit einer Hand daran fest, während er die andere um meine Schulter legt. Dabei legt er sein Kinn auf meinen Kopf ab und versucht mir ernsthaft weiszumachen, dass er keine Hilfe braucht. Eigentlich würde ich ihn jetzt von mir wegschubsen, weil er mir viel zu nah ist, aber da er kaum alleine stehen kann, wäre das wohl keine gute Idee.
"Hör zu. Mir gefällt das genauso wenig wie dir, aber ich will nicht schuld sein, wenn du dein Schlafzimmer mit dem Balkon verwechselst und dich aus Versehen mehrere Meter in die Tiefe stürzt. Also lass mich dir kurz helfen und wir können beide unser Leben weiterleben", schlage ich ihm vor und ich spüre, wie er den Kopf neigt und darüber nachdenkt. Ich stehe so dicht vor ihm, dass ich sehen kann, wie sein Adamsapfel sich bewegt und wie definiert sein Schlüsselbein ist. Sein Geruch umschließt mich und ich wage es kaum zu atmen, da er, abgesehen vom Alkohol, wirklich gut riecht. Irgendwie nach Natur und Wald. Von seinem schweren Arm auf meiner linken Schulter geht eine unglaubliche Wärme aus und als ich es nicht mehr aushalte, lege ich den Kopf in den Nacken und sehe ihm in die Augen. Er ist mir mit seinem Gesicht jetzt näher als mit seinem Körper und schon bereue ich es. Es vergehen gefühlt Stunden, in denen er mich einfach nur ansieht und ich vermute, dass er schon wieder vergessen hat, was ich gesagt habe.
"Na schön", erwidert er dann doch und ich atme erleichtert auf, als er sich langsam mit dem Rücken gegen die andere Seite des Türrahmens lehnt. Als er einigermaßen klar im Kopf wirkt, helfe ich ihm bis zum Esszimmertisch, wo er sich auf einen der Stühle fallen lässt. Ich schließe die Wohnungstür und lege seinen Schlüssel auf den Tisch.
"Solltest du mich nicht lieber ins Bett bringen?"
"So wie du aussiehst? Lieber nicht", antworte ich ihm und suche währenddessen in der Küche und im Bad nach Verbandszeug oder Ähnlichem. Eigentlich wäre es mir unangenehm, mich in einer fremden Wohnung so umzusehen, aber da der Mieter nicht wirklich ansprechbar ist, hat er hoffentlich nichts dagegen. Ich bin überrascht, wie sauber und aufgeräumt es hier ist, doch in der Küche finde ich nicht wirklich das, was ich brauche. Im Bad dagegen werde ich fündig. Eine große Tasche mit Pflastern und vielem mehr. Anscheinend ist er gut vorbereitet für so einen Fall. Ich gehe zurück ins Esszimmer und ziehe einen Stuhl näher zu Collin, um ihn verarzten zu können. Wenn man das so nennen kann. Ich schätze mal, meine medizinischen Fähigkeiten sind ziemlich erbärmlich, aber es reicht, damit er seine Matratze behalten kann. Er lässt es über sich ergehen und hat die meiste Zeit die Augen geschlossen. Ich hoffe nur, dass er nicht im Sitzen einschläft.
Zuerst tupfe ich das überflüssige Blut mit einem feuchten Tuch leicht ab. Dann verteile ich auf die größte offene Wunde eine antibakterielle Salbe und klebe ein Pflaster drüber. Durch das ganze Blut sah sein Gesicht schlimmer aus als es eigentlich ist. Neben der großen Wunde hat er noch ein blaues Auge und sonst noch kleinere Schrammen, die in ein paar Tagen verheilt sein dürften. Allerdings mache ich mir mehr Sorgen um seine Organe, da ich auch ohne medizinische Ausbildung weiß, dass er innere Blutungen haben könnte, wenn jemand so fest auf ihn eingetreten hat. Aber dann müsste er eigentlich schlimmere Schmerzen haben und Blut spucken. Dennoch will ich es mir lieber nochmal ansehen und versuche vorsichtig sein Shirt etwas anzuheben.
"Wenn du mich nackt sehen willst, gibt es andere Wege als meine Lage auszunutzen", flüstert er mir plötzlich leise zu und öffnet die Augen. Wie kann er in seinem Zustand noch an Sex denken?
"Bild dir nichts ein. Du bist körperlich für mich so interessant wie ein Pavianarsch. Aber du könntest verbluten, wenn du innere Blutungen hast, also will ich mir das genauer ansehen", erkläre ich ihm, aber er schaut mich an, als würde er mir kein Wort glauben.
"Und woher weißt du, ob ich innere Blutungen habe, Doktor Emily?" Gute Frage.
"Ähm...das sehe ich dann schon", erwidere ich, klinge jedoch nicht wirklich überzeugend. Er schaut mich kritisch an, aber aus einem mir unbekannten Grund greift er dennoch mit beiden Händen an den Saum seines Shirts und zieht es sich langsam über den Kopf. Er stöhnt leise vor Schmerzen, aber er schafft es und wirft das Shirt auf die Couch.
"Okay, meinetwegen. Aber wenn du mich betatschst, darf ich auch mal", flirtet er mit mir und ich verdrehe die Augen. Männer. Nicht mal schlimme Verletzungen halten sie davon ab, nur an das Eine zu denken.
Ich sehe, dass seine Schultern und seine Brust verschont geblieben sind, aber auf seinem Bauch breitet sich ein gigantischer bunter Fleck aus. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ich bin mir zwar relativ sicher, dass man beim Abtasten fühlen kann, ob jemand innerlich verletzt ist, allerdings glaube ich nicht, dass ich durch seine Bauchmuskeln etwas spüren werde. Ich blicke konzentriert den Fleck an und wäge ab, ob es noch einen anderen Weg gibt. Vielleicht haben seine Muskeln die Organe ja vor den Tritten geschützt. Ich überlege gerade, ob das überhaupt Sinn macht, als ich merke, wie er mich anstarrt.
"Gefällt dir, was du siehst?"
"Nicht wirklich. Hast du dir das schon mal angesehen?", frage ich ihn und versuche dabei, nicht mehr auf seinen Bauch zu schauen.
"Nein. Komisch. Den meisten Mädchen gefällt mein Sixpack", erklärt er mir und klingt fast ein wenig gekränkt. Ich glaube, er muss echt dringend ins Bett.
"Ich bin nicht wie die meisten Mädchen", erwidere ich ernst und er nickt nur zustimmend, als wüsste er das schon. Ich runzle die Stirn und packe das Verbandszeug wieder ein, stelle es aber erstmal in die Küche, falls er später das Pflaster wechseln will. Dann ziehe ich ihn hoch und helfe ihm ins Schlafzimmer. Zum Glück sind die Wohnungen hier alle ziemlich gleich angeordnet, deshalb weiß ich, wo welches Zimmer ist. Ich ächze unter seinem Gewicht und bin froh, als wir endlich an seinem Doppelbett stehen. Er legt sich sofort hin und streift seine Schuhe ab.
"Endlich", meint er mehr zu sich selbst als zu mir und ich habe das Gefühl, dass er sofort eingeschlafen ist. Seine ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge bestätigen meine Vermutung. Er sieht so friedlich aus, wenn er schläft. Wahrscheinlich, weil er da mal die Klappe hält, denke ich mir und habe damit vermutlich auch recht. Ich decke ihn vorsichtig zu und bleibe noch eine Weile, um sicher zu gehen, dass auch alles in Ordnung ist. Dann lasse ich so leise wie möglich die Rolläden runter und sammele seine Schuhe ein, bevor ich das Zimmer verlasse. Nachdem ich langsam die Tür hinter mir geschlossen habe, stelle ich seine Schuhe an der Garderobe ab.
Ich gehe nochmal in die Küche und stelle ihm ein Glas mit Wasser auf die Kücheninsel. Außerdem hole ich ihm aus der Tasche noch eine IBU, schreibe eine kurze Nachricht an ihn und lege beides neben das Glas. Falls er sich später nicht an meine Hilfe erinnert, wird er spätestens durch die Notiz auf mich kommen. Und dann erwarte ich ein ernstgemeintes Danke von ihm.
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