Kapitel 3 Emily
"Komm schon, noch ein Satz und dann sind wir fertig, Em", meint Avery, meine beste Freundin und selbsternannte persönliche Sporttrainerin, zu mir.
Ich schnaufe kurz und sehe sie dann fassungslos an. Ich gehe seit ungefähr einem Jahr ins Fitnessstudio und das, obwohl ich der unsportlichste Mensch der Welt bin. Also für mich zumindest. Aber ich brauchte irgendwas als Ausgleich für den Stress und damals habe ich es noch für eine gute Idee gehalten.
Dort habe ich Avery kennengelernt und seitdem hat sie es sich zum Ziel gemacht, mich umzubringen. Naja, eigentlich will sie mich fitter und stärker machen, aber so wie es sich anfühlt, gibt es da wohl keinen großen Unterschied.
Das lenkt mich wenigstens von meinem neuesten Problem ab. Collin. Wie werde ich den nur wieder los? Ich habe versucht, mir seit gestern Abend nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, aber er könnte ein Problem werden und je früher ich eine Lösung habe, desto besser. Ich befürchte nur, dass ich nichts tun kann. Er wird so schnell nicht wieder umziehen wollen. Mist, Mist, Mist.
"Du hast leicht reden. Du bist der weibliche Hulk", entgegne ich, doch sie grinst mich nur an und macht weiter. Obwohl sie viel schwerere Übungen macht als ich, sieht sie aus, als würde sie trotzdem gleich auf den Laufsteg gehen können.
Mit ihrer blonden Lockenmähne, den blauen Augen und der schlanken Figur würde sie dort auch gut dazu passen. Allerdings sind wir beide uns einig, dass GNTM einfach zu viel Zickenkrieg ist.
Ich wiederhole die Übung noch 12 Mal und hole mir dann was zum Trinken. Jedes Mal wird es anstrengender und ich habe nicht wirklich das Gefühl, das ich stärker werde.
Auch äußerlich hat sich meiner Meinung nach nicht viel verändert. Ich tue das nicht, um Abzunehmen, aber für die Motivation wäre es dennoch ein guter Ansporn.
Ich bin zwar meistens mit meiner kurvigen Figur zufrieden, allerdings habe ich natürlich auch manchmal Tage, an denen ich mir wünsche, ich wäre dünner. Schöner. Glücklicher.
Aber genau da ist der Denkfehler. Nur, weil man dünner ist, heißt das nicht man ist glücklicher. Wenn diese 2 Dinge zusammenhängen würden, wären alle schlanken Menschen immer glücklich. Dabei ist Glück von so vielen verschiedenen Faktoren abhängig und das Gewicht sollte definitiv keiner davon sein.
Jedoch wird uns immer von der Gesellschaft eingetrichtert, wie wir auszusehen haben. Vor allem bei Frauen. Einmal sehr dünn, dann viele Kurven, dann einmal die Mitte zwischen beidem. Komischerweise ändert sich das alle 10 Jahre, sodass wir eigentlich unser ganzes Leben damit verbringen müssten, dem Ideal zu entsprechen.
Kein Wunder, dass so ziemlich jede Frau Komplexe wegen ihrem Körper hat. Jedes Kilo zu viel, jede Delle und jede Narbe verunsichert einen, obwohl man auch damit glücklich UND schön sein kann.
Ich denke das zwar und finde diese Message unglaublich wichtig, aber selbst umsetzen kann ich sie halt auch nicht. Nicht immer zumindest. Was für eine Ironie.
Während ich darauf warte, dass Avery fertig ist, lasse ich meinen Blick durch mein Fitnessstudio schweifen. Ich liebe es hier. Allein hier zu sein, hilft mir, mich zu entspannen. Das Studio ist relativ klein, aber man hat dennoch alles, was man braucht, um sich richtig auspowern zu können.
Es gibt 4 Kursräume und 2 offene Flächen, einmal fürs Krafttraining mit Gewichten und einmal mit Maschinen. Dazwischen ist ein Weg, der zu den Umkleiden und den Duschen führt.
Auch die Mitglieder finde ich alle super, vor allem weil es hier so durchwachsen ist. Hier gibt es von jeder Altersklasse jemanden.
Also eine bunte Mischung aus jungen, meist männlichen Posern, die nur wegen ihrem Spiegelselfie kommen, dann die neuen Frischlinge, zu denen ich wohl auch noch gehöre, und dann noch ältere Leute, meistens schon Rentner, die hier in die Rehakurse gehen.
"Em? Hallo?! Erde an Emily!", schreit Avery mich an und ich zucke zusammen. Das passiert mir andauernd. Ich bin so in Gedanken, dass ich nicht wirklich merke, was um mich herum passiert. Das verursacht manchmal ziemlich peinliche Situationen, aber ich denke, es gibt genug andere Leute, denen das gleiche passiert.
"Schön, dass du auch mal fertig bist", ärgere ich sie lachend und ignoriere ihr Geschrei. Sie boxt mich dafür leicht in die Seite und wir gehen in die Damenumkleide. Dort angekommen fragt sie mich, ob alles okay ist, während wir uns dabei umziehen. Laut ihr bin ich heute noch mehr in Gedanken als sonst.
"Ach, das Universum spielt mir gerade nur mal wieder einen miesen Streich", antworte ich ihr und sie sieht mich fragend an.
"Naja, ich habe gestern herausgefunden, wer mein neuer Nachbar wird. Anscheinend reicht es ihm nicht, mich fast umzubringen. Jetzt will er mich auch noch zu Hause in den Wahnsinn treiben", rege ich mich auf.
"Der Typ, der dich gestern fast überfahren hätte?! Im Ernst?", fragt sie mich und muss dabei grinsen.
"Was ist daran bitte so witzig?! Ich kann jemanden wie Collin absolut nicht gebrauchen. Der wird mir nur Ärger machen, ich weiß es", sage ich und sehe nur, wie sie komplett zusammenbricht.
"Das nenne ich Ironie des Schicksals", japst sie und hält sich den Bauch vor Lachen.
"Wie wäre es mal mit einem Rat anstatt dich hier tot zu lachen?", weise ich Avery auf ihre Pflicht als beste Freundin hin.
"Naja, du könntest ihm anbieten, sein Motorrad im Bikini zu waschen. Vielleicht verzichtet er ja dann auf einen zweiten Mordversuch", meint sie weiterhin lachend und ich sehe sie ungläubig an.
"Falls das ernst gemeint ist, muss ich mir wohl eine neue beste Freundin suchen. Das war der mieseste Rat, den ich je bekommen habe", erwidere ich und sie verstummt sofort, obwohl sie weiß, dass das nur Spaß war.
"Du könntest ihm ja erstmal eine Chance geben. Vielleicht ist er nicht so schlimm, wie du denkst."
Okay, das ist zwar nicht viel besser, aber womöglich hat sie recht. Ein rücksichtsloser Motorradfahrer ist er trotzdem. Aber muss ja nicht heißen, dass er auch ein rücksichtsloser Mann ist. Er kam mir gestern sogar eigentlich ganz sympathisch vor, aber das kann natürlich auch täuschen. Wir haben ja nicht mal 3 Worte miteinander gewechselt, deshalb warte ich mit meiner 1. Meinung lieber noch, bis ich mehr weiß.
Wie Avery immer sagt, darf man Männer nicht gleich in Schubladen stecken. Aber ich habe mittlerweile einfach ein gutes Gespür bei sowas und dafür kann ich ja auch nichts.
Als ich fertig umgezogen bin, packe ich meine Sportklamotten in die Tasche und werfe kurz einen Blick auf mein Handy. Ich habe zwei neue Nachrichten von Sophie, meiner älteren Schwester.
Die erste lautet: WAS STIMMT EIGENTLICH NICHT MIT DIR?!
Und die zweite: Du bist so ein arrogantes Miststück! Du ruinierst unsere Familie! Du wirst dich bei Mama entschuldigen, sonst mach ich dir das Leben zur Hölle!
Ach, manchmal vergesse ich fast wie charmant sie ist. Obwohl sie das wirklich sein kann bei Leuten, bei denen sie einen guten, ersten Eindruck machen will. So war sie schon immer, aber nach ein paar Jahren merkt man, wie sie mehr und mehr die Fassade fallen lässt.
Ich verstehe nicht wirklich, was ihr das bringt, aber wenn sie meint, sie muss sich verstellen, um sympathisch zu wirken, ist das eher traurig als verletzend.
Ich ignoriere ihre Nachrichten, aber nehme mir trotzdem vor, meine Mutter später anzurufen. Soll sie ihn halt heiraten, das ändert ja nichts an meinem Verhältnis zu ihm, welches nicht wirklich existiert.
Und wenn sie sich scheiden lassen, kann ich wenigstens sagen, ich habe es dir ja gesagt. Ziemlich gemein, aber das ist das einzig Positive, das ich an der ganzen Sache finden kann. Das hilft mir wenigstens, mich halbwegs damit abzufinden.
Avery und ich verabschieden uns von den Trainern und gehen noch gemeinsam das Stück zu ihrem Auto. Dabei erzählt sie mir von ihrem letzten Date, welches anscheinend eine totale Katastrophe war.
"Er hat von unserer gemeinsamen Zukunft geschwärmt. Mit 3 Kindern und einem Haus mit Garten. Und ich "muss" nicht arbeiten, weil ich mich ja um Kinder und Haushalt kümmern darf. Mal abgesehen davon, dass der wohl noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist, war es das erste Date und er redet von gemeinsamen Kindern", meint sie und ich lache leise.
"Was ist dann passiert?", frage ich sie, obwohl ich mir die Antwort schon denken kann.
"Was wohl?! Ich bin so schnell es ging geflüchtet. Der hatte ja nicht mehr alle Latten am Zaun", antwortet sie und diesmal bin ich es, die nicht mehr aufhören kann, zu lachen. Dafür ernte ich einen bösen Blick von ihr. Zum Glück können Blicken nicht wirklich töten, sonst würde ich jetzt tot umfallen.
Bevor sie ins Auto steigt, umarmt sie mich und meint, ich soll ihr erzählen, wie es mit Collin weitergeht. Und das ich nicht so gemein zu ihm sein soll.
"Ich? Gemein? Du hast sie nicht mehr alle! Oh warte, jetzt wo ich so drüber nachdenke, würde der Typ mit 3 Kindern und Haus super zu dir passen", ärgere ich sie. Sie verdreht nur die Augen und steigt ein.
Ich winke ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen ist. Mittlerweile ist es Mittag und ich habe großen Hunger. Und ich bin leider eine Person, die ziemlich zickig wird, wenn sie hungrig ist. Um mich etwas davon abzulenken, nehme ich mir vor, das mit meiner Mutter jetzt gleich zu klären, während ich durch den Park Richtung Wohnung gehe. Ich rufe sie an und warte, bis sie abnimmt.
"Ja Emily, was gibt es?", fragt sie mich jetzt schon in genervtem Ton, als wüsste sie, was jetzt kommt.
"Ich wollte nur sagen, dass ich mich auch freue, wenn du dich freust und wenn du es für die richtige Entscheidung hältst, Aaron zu heiraten, dann solltest du es tun."
Es folgt kurz Stille und ich dachte schon, sie hat aufgelegt. Aber anscheinend habe ich sie nur überrascht.
"Schön zu sehen, dass du dich doch für andere Leute freuen kannst", stichelt sie leise, doch ich ignoriere es. Darauf zu reagieren, würde es nur wieder schlimmer machen, also verdrehe ich lediglich die Augen.
"Habt ihr schon einen Hochzeitstermin?", versuche ich, sie abzulenken, was leider viel zu gut funktioniert. Den ganzen Weg nach Hause muss ich mir jetzt jedes Detail anhören, obwohl mich das eigentlich nicht interessiert. Nicht, weil ich es immer noch für eine schlechte Idee halte, sondern weil ich generell kein Fan von Hochzeiten bin.
Ich versuche allerdings, gut zuzuhören, damit sie nicht sauer wird. Anscheinend wollen sie standesamtlich im Frühjahr und kirchlich im Sommer heiraten. Bedeutet, ich muss zweimal zusehen, wie meine Mutter diesem Blödmann das Ja-Wort gibt. Perfekt...
"Das klingt wirklich toll, Mam. Hör zu, ich bin gleich daheim und ich muss unbedingt unter die Dusche, aber wir können ja wann anders weiter darüber reden, okay?", schlage ich ihr vor. Sie lädt mich noch für morgen zum Mittagessen ein, welches hoffentlich besser verläuft als das letzte und legt dann auf.
Als ich vor meinem Haus ankomme, stehen 2 große Autos davor, die ich noch nie gesehen habe. Sie sind bis oben voll mit Umzugskartons und ich ahne, was mich oben erwartet. Ich habe eigentlich gehofft, dass sich das noch etwas hinauszögert, aber anscheinend will er hier so schnell wie möglich einziehen.
Ich sperre die Haustür auf und gehe leise die Treppe hoch, in der Hoffnung niemandem zu begegnen.
Doch leider löst sich die Hoffnung in Luft auf, als ich im 1. Stock laute Männerstimmen höre.
"Ich fass es nicht, dass du wieder mit ihr geschlafen hast. Lernst du eigentlich nie aus deinen Fehlern?"
"Nein, tut er nicht. Du kennst ihn doch, Finn. Aber du musst zugeben...sie ist ein ziemlich heißer Fehler", antwortet jemand und sie fangen an zu lachen.
Genau solche Gespräche erwarte ich von pubertierenden Jungs. Traurigerweise klingen die da aber wie erwachsene Männer. Also Männer ja, erwachsen eher nein.
Um mir das nicht weiter anhören zu müssen, gehe ich die letzten Stufen hoch und so leise wie möglich an seiner Tür vorbei. Zu meinem Pech steht seine Wohnungstür sperrangelweit offen.
"Na, wen haben wir denn da?"
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