Kapitel 15 Emily
Der Junge macht mich fertig! Ich habe ihm echt abgekauft, dass das nie wieder passieren wird, aber anscheinend kann man sich auf sein Wort nicht verlassen. Allerdings hat er mir auch leidgetan. Sein Vater und er scheinen nicht das beste Verhältnis zu haben. Und das scheint ihn wirklich zu bedrücken. Gestern hat er etwas getan, womit ich niemals gerechnet hätte: Er hat mir sein Herz ausgeschüttet. Offensichtlich besitzt er doch eins.
Nachdem Gespräch mit ihm konnte ich nicht mehr schlafen, aber das war auch keine große Überraschung. Wie kommt er bitte darauf, dass ich ihn hassen würde? Klar, ich bin jetzt kein riesiger Fan von ihm, aber so weit würde ich auch nicht gehen. Ich könnte niemals jemanden hassen, selbst dann, wenn man mich schlecht behandelt. Nicht mögen auf jeden Fall, aber hassen niemals. Wenn ich jemanden nicht mag, verschwende ich keine Zeit und keine Nerven dafür, wütend zu sein oder mit demjenigen zu streiten. Aus dem Weg gehen ist eher mein Ding.
Außerdem musste ich dauernd darüber nachdenken, dass er mich fast geküsst hätte. Collin hätte mich fast geküsst. Mich. Dieser Gedanke ist so absurd und verrückt, dass es genauso nur ein Traum hätte sein können. Aber das war wirklich echt. Ich habe das nicht nur geträumt. Überraschenderweise war er sogar sehr zurückhaltend und hat mir Zeit gegeben, bevor er mich küssen wollte. Bis ich ihn gestoppt habe. Das kam mir einfach nicht richtig vor. Erstens war er betrunken. Zweitens war er auch sehr emotional. Und drittens...hat es mir Angst gemacht. Schon lange wurde ich nicht mehr geküsst und ich hatte damit auch kein Problem. Aber gestern Nacht war er mir so nah und es wäre fast passiert. Das war so anders und neu nach der langen Pause, dass sich Panik in mir breit gemacht hat. Kann man Küssen verlernen? Wie würde es sich anfühlen? Was passiert, wenn es ihm nicht gefällt? Und bin ich überhaupt bereit dazu? Das sind alles Fragen, die mir durch den Kopf geschwirrt sind, bevor ich mich zurückgezogen habe. Als ich sein trauriges Gesicht gesehen habe, tat es mir zwar leid, aber er würde wohl auch mal mit einer Zurückweisung zurechtkommen.
Ich beschließe, ihn erstmal zu meiden, bis ich mir darüber im Klaren bin, was das zwischen uns ist. Bis jetzt hat das sehr gut funktioniert und heute Abend mache ich etwas mit Avery, denn sie schleppt mich mal wieder mit auf eine Party. Meine Proteste hat sie einfach ignoriert, indem sie meinte, dass sie mich heute Abend um 8 abholt und wenn es sein muss, schleift sie mich ins Auto. Obwohl sie so zierlich ist, kann ich mir das sehr gut vorstellen, deshalb habe ich klein beigegeben. Vielleicht lenkt mich das ja auch von allem ab, wer weiß. Im Moment bin ich dabei, mich in ein dunkelgrünes, enges Kleid zu quetschen. So eng, dass es wie eine zweite Haut anliegt. Dazu trage ich hohe, schwarze Stiefel, eine dicke Strumpfhose und eine Lederjacke. Eigentlich würde ich am liebsten meinen Wintermantel anziehen bei dem Wetter, weil die Party draußen stattfindet, aber dann könnte ich mir gleich das ganze Outfit sparen. Ich hoffe, dass jemand an Heizstrahler oder sowas ähnliches gedacht hat, sonst muss ich wohl was trinken, nur damit mir warm wird. Oder ich gehe einfach joggen, aber dann erklärt Avery mich endgültig für verrückt. Obwohl das sowieso passieren wird, wenn ich ihr von gestern Nacht erzähle.
Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, was mich da geritten hat, ihm zu helfen. Aber er sah so hilflos und verzweifelt aus und ich konnte es natürlich nicht gut sein lassen. Laut Avery leide ich nämlich an einem unheilbaren Helfer-Syndrom und so langsam glaube ich, dass sie damit recht hat. Seit Collin hier eingezogen ist, um genau zu sein. Ich kann ihn zwar nicht ausstehen, dennoch bin ich jetzt schon das dritte Mal in einer Woche für ihn da gewesen. Und trotzdem glaube ich, dass das alles für ihn schwieriger war als für mich. Außer, dass ich zu spät zur Arbeit gekommen bin und etwas schlechter schlafe, hat mir nichts gefehlt. Collin wurde zusammengeschlagen und ertrinkt jetzt seinen Frust im Alkohol, wie es aussieht. Ich würde wirklich gerne wissen, was zwischen ihm und seinem Vater alles vorgefallen ist, aber das geht mich nichts an.
Mich so extrem in die Angelegenheiten von anderen Leuten einzumischen, missfällt mir zwar auch, aber das letzte Woche konnte ich einfach nicht mit ansehen. Ihn über sein komplettes Privatleben auszufragen wäre aber selbst mir zu aufdringlich. Obwohl er seine Gefühle gestern nicht unterdrückt hat. Ich glaube, der Alkohol hat seine Zunge etwas gelockert. Und seine Hemmschwelle wohl auch. Abgesehen von dem Beinahe-Kuss, hat er auch noch die ganze Zeit meine Hand gehalten und ich weiß nicht wirklich, was ich davon halten soll. Einerseits war es natürlich schön, aber andererseits...ja was eigentlich...andererseits war es einfach falsch. Total falsch. Richtig falsch.
Und weil ich richtig schlecht darin bin, mich selbst davon zu überzeugen, ziehe ich mich fertig an und stecke mein Handy zusammen mit etwas Geld in die Tasche meiner Lederjacke. Nachdem ich nochmal in den Spiegel geschaut habe, um zu schauen, ob alles sitzt, verlasse ich die Wohnung, gehe schnell an Collins vorbei und die Treppe runter. Eine weitere Begegnung mit ihm würde mich wahrscheinlich nur wieder in irgendeine blöde Situation bringen. Ich würde mich echt mal wieder über einen stinklangweiligen und unsozialen Abend nur mit mir, meinem Buch und einer Tasse Tee freuen, aber so schnell wird das wohl nicht wieder passieren. Mein Leben ist ein einziges Chaos im Moment. Und Collin trägt einen nicht zu verachtenden Anteil daran.
Überraschenderweise wartet Avery diesmal schon unten, als ich aus dem Haus komme. Während ich ins Auto steige, höre ich schon ein Pfeifen von ihr. Avery ist mir manchmal etwas zu direkt, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.
"Wow, Emily. Du siehst super aus", kommentiert sie mein Outfit und ich fühle mich sofort geschmeichelt. Obwohl ich das nur zurückgeben kann. Sie sieht einfach wunderschön aus in ihrem dunkelblauen Kleid, das genau so eng aussieht wie meins, und der Jeansjacke. Ihre blonden Locken hat sie leicht hochgesteckt, während ich meine Haare offen trage.
"Du aber auch", antworte ich ihr und sie fährt los. Auf der Fahrt erzähle ich ihr, was die letzten Tage passiert ist, weil ich dringend einen Rat brauche bezüglich Collin. Ich hoffe nur, dass es diesmal ein besserer ist als letztes Mal.
"Ihr habt ernsthaft Händchen gehalten?!", fragt sie mich entgeistert und starrt mich an, obwohl sie lieber auf die Straße schauen sollte. Allerdings wundert es mich, dass sie sich von allem, was passiert ist, ausgerechnet das ausgesucht hat zum Reden. Wenn ich ihr von dem Beinahe-Kuss erzählt hätte, wäre er bestimmt Thema Nummer 1 gewesen. Aber ich muss mir da erstmal selbst Gedanken darüber machen, deshalb habe ich das bei unserem Gespräch weggelassen.
"Nein! Das war kein Händchen halten. Das war eher sowas wie nötiger Körperkontakt zur seelischen Unterstützung für ihn...oder sowas in der Art...", versuche ich, es ihr zu erklären, doch sie schüttelt nur lächelnd den Kopf.
"Ja, natürlich. Das glaubst du doch selbst nicht", erwidert sie und schaut zum Glück wieder auf die Straße. Wenn man es so nennen kann, denn wir sind eher auf einem Schotterweg Richtung Wald.
"Doch, das glaube ich...lag aber vielleicht auch am Alkohol", antworte ich ihr ausweichend, während sie auf einem kleinen Parkplatz hält und den Motor ausmacht.
"Em, bitte. Ich weiß, das ist schwierig für dich, aber vielleicht solltest du mal in Betracht ziehen, dass er dich wirklich mag. Ihr verbringt nämlich ganz schön viel Zeit miteinander..."
"Wir verbringen Zeit miteinander? So nennst du das?", frage ich sie ungläubig und sie grinst mich an.
"Ja, okay. Das ist vielleicht etwas weit hergeholt, aber du weißt, was ich meine. Eigentlich dachte ich nach dem letzten Gespräch über ihn, dass das mit euch nichts mehr wird, aber anscheinend habe ich mich geirrt."
Weil ich nicht weiß, was ich ihr darauf antworten soll, steige ich aus und atme den erdigen Waldgeruch ein. Ich bin leider viel zu selten in der Natur, obwohl ich es hier liebe. Avery kommt zu mir und zieht mich den Weg entlang, der zum alten Kletterpark führt. Nach 10 Minuten kommen wir an und wie es aussieht, ist die Party schon in vollem Gange. Zwischen den alten Kletterwänden wurden Lichterketten aufgehängt und es stehen mehrere große Tische um das große Lagerfeuer in der Mitte mit Essen und Getränken. Tatsächlich stehen auch ein paar Heizstrahler verteilt auf dem Platz und ich stelle mich sofort neben einen, während Avery uns etwas zu trinken holt. Es sind schon sehr viele Leute hier und ich beobachte, wie sie reden, tanzen und lachen. Bis jetzt wirkt es noch sehr zivilisiert, aber je später es wird und je mehr die Leute trinken, desto schneller kann sich das ändern. Ich sehe hauptsächlich Männer und Frauen in meinem Alter, aber es sind auch ein paar dabei, die jünger aussehen.
Immer wieder finde ich es erstaunlich, wie früh man heute schon mit Partys und Alkohol anfängt. Hoffentlich übertreibt es keiner von denen, sonst muss ich wieder die Spielverderberin sein und die Eltern oder im schlimmsten Fall einen Krankenwagen rufen. Ich weiß, sowas ist mies, aber ich habe immer das Gefühl, ich muss die Erwachsene sein, weil es sonst keiner tut. Außerdem bin ich hier wohl die Einzige, die keinen großen Gefallen an solchen Partys findet. Wegen der Kälte reibe ich mir über die Arme und ich sehe, dass Avery von 2 Männern aufgehalten wurde. Sie scheinen sehr interessiert an ihr zu sein, weil sie immer wieder lachen über das, was Avery sagt. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, winkt sie mich zu sich rüber, doch ich fühle mich hier ganz wohl bei meinem Heizstrahler. Doch Avery wäre nicht Avery, wenn sie so schnell aufgeben würde, also bringt sie die Zwei einfach mit zu mir. Oh man...wenn sie mich jetzt wieder verkuppeln will, wird das die letzte Party sein, auf die sie mich geschleppt hat, das schwöre ich.
"Hey Emily. Das sind Kyle und Brandon. Sie veranstalten diese Party", stellt sie mir die Jungs vor und reicht mir einen Becher mit einer unerkennbaren Flüssigkeit, aber ich vermute ganz stark, dass Alkohol darin ist, während Avery sich nur Wasser geholt hat, da sie noch fahren muss. Kyle und Brandon lächeln mich charmant an und eigentlich sollte ich wohl Schmetterlinge im Bauch haben. Mein Bauchgefühl sagt mir allerdings etwas ganz anderes, also nehme ich mir, vorsichtig zu sein. Kyle ist Anfang 20 und hat etwas längere, dunkelblonde Haare. Brandon hat kurze, braune Haare und ist ein paar Jahre älter als Kyle. Noch bevor ich etwas sagen kann, nimmt Kyle Avery bei der Hand und zieht sie mit, um mit ihr zu tanzen. Toll, sie lässt mich allein bei einem Wildfremden, obwohl sie genau weiß, dass ich das nicht mag. Andererseits ist sie meine Freundin und nicht meine Aufpasserin. Sie sollte auch ihren Spaß haben dürfen, ohne mich ständig im Auge haben zu müssen. Auch wenn Brandon sehr gut im Smalltalk ist und ehrliches Interesse an mir zeigt, wächst mein schlechtes Gefühl, weil er mir mit jeder Minute, die vergeht, immer näherkommt. Also entschuldige ich mich kurz bei ihm und möchte gehen, doch er packt mich am Handgelenk und zerrt mich zu sich. Ich stolpere gegen seine Brust, wobei ich den Becher fallen lasse, und will mich losreißen, doch sein Griff wird immer fester und ich fange an, am ganzen Körper zu zittern.
"Bleib doch noch ein bisschen bei mir, Emily. Wir könnten viel Spaß miteinander haben, weißt du?"
"Nein, danke. Lass mich los. Du tust mir weh", antworte ich ihm, doch er lächelt mich nur weiterhin an. Wow, dieser Typ hat seine Fassade perfektioniert...
"Du solltest dich wirklich nicht so anstellen. Darauf steht kein Mann, weil es einfach nur kindisch ist."
"Und du hast sie nicht mehr alle. Keine Frau steht auf einen brutalen Mistkerl, der sie nicht respektiert. Du lässt mich jetzt sofort los, sonst...!", will ich ihm drohen, doch ich weiß selbst nicht genau, was sonst passiert. Ich hätte meinem Bauchgefühl sofort vertrauen sollen, aber was tue ich? Ich habe versucht, nicht gleich wieder so negativ zu denken, aber ich bin anscheinend doch eine Expertin, was Menschen angeht. Du bist so dämlich, Emily...
"Sonst was? Du solltest lieber mich respektieren. Glaub mir, bis jetzt hat es noch jeder Frau gefallen und dir wird es auch gefallen. Ich gebe mir besonders Mühe für dich", sagt er und ich kann die Kälte in seinen Augen sehen, auch wenn er breit grinst. Er will mich hinter ein paar Bäume ziehen, doch ich wehre mich und lehne mich mit meinem Gewicht dagegen. Als er sich wieder zu mir umdreht, ramme ich ihm mein Knie in den Schritt und will verschwinden, doch entgegen meiner Erwartungen lässt er mein Handgelenk nicht los.
"Na warte, du kleine...", will er mich beleidigen, doch so weit kommt es gar nicht. Da es so schnell passiert, bekomme ich nicht alles mit. Ich weiß nur noch, dass ich von ihm weggerissen werde und Brandon zu Boden sinkt. Der Mann vor mir dreht sich um und ich brauche einen Moment, um ihn zu erkennen, weil es hier ziemlich dunkel ist.
"Ich weiß, ich weiß. Du wärst auch alleine klargekommen, aber...", doch bevor er weiterreden kann, werfe ich mich in seine Arme. Sein Duft, seine Wärme und seine starken Arme umschließen mich und mein Zittern nimmt allmählich ab. Ich würde am liebsten ewig in dieser Umarmung bleiben, doch er löst sich viel zu schnell von mir. Schneller, als mir lieb ist.
"Ist alles in Ordnung?", fragt er mich und hebt mein Kinn, damit er mir in die Augen schauen kann. Gar nichts ist in Ordnung. Ich schüttele langsam den Kopf und er zieht mich ganz sanft wieder an sich. Langsam lege ich meine Stirn an seine Brust und spüre, wie sein Herz gleichmäßig klopft, während er mir behutsam mit seiner Hand über den Rücken streichelt und mir beruhigende Dinge ins Ohr flüstert. Sein heißer Atem streift meinen Nacken und ein wolliges Gefühl macht sich in mir breit.
"Danke, Finn." Mehr kommt mir nicht über meine zitternden Lippen, denn als ich meinen Kopf hebe, sehe ich über seine Schulter Nate und Collin auf uns zukommen, die uns beobachten.
"Was ist passiert?", fragt Collin und ich bilde mir ein, so etwas wie Besorgnis in seinen Augen zu erkennen. Als ich nicht antworte, weil ich noch zu geschockt bin, erklärt Finn ihm leise, was passiert ist. Bevor ich es überhaupt realisieren kann, packt Collin Brandon am Kragen, zieht ihn vom Boden hoch und presst ihn gegen einen Baum. Brandon keucht überrascht auf und stöhnt vor Schmerz. Anscheinend hat Finn ihn ganz schön schlimm erwischt.
"Du wirst sie nie wieder anfassen oder ihr zu nahe kommen, hast du mich verstanden?! Und wenn ich höre, dass du noch ein Mädchen gegen ihren Willen anfasst, dann wird das dein letzter Tag auf Erden sein!", schreit er Brandon an und wirkt viel angespannter als letztens mit Sam. Doch im Gegensatz zu Sam wirkt Brandon total eingeschüchtert und nickt ganz schnell. Collin schubst ihn weg und er stolpert an uns vorbei zurück zur Party.
"Du solltest zur Polizei gehen und diesen Wichser anzeigen", meint Nate zu mir und zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, kommt kein Schwachsinn aus seinem Mund. Ich lächele ihn nur leicht an, weil er einmal ernst sein kann, und vergrabe meine Nase wieder in Finns Schulter.
"Sieh mich an, Emily", höre ich Collin hinter mir und ich drehe mich in Finns Armen langsam zu ihm um. Er sieht mich von oben bis unten an und nimmt meine Hand. Mein Handgelenk ist leicht geschwollen. Morgen wird es wahrscheinlich noch schlimmer aussehen.
"Ich werde ihn umbringen...", flüstert Collin leise, während er es begutachtet, und ich bin mir nicht sicher, ob er mit mir redet oder eher mit sich selbst. Aber ich weiß, dass ich das nicht zulassen werde, egal, was für ein schlechter Mensch Brandon auch sein mag. Außerdem bereitet mir der Ernst in Collins Ton eine Gänsehaut, also schüttele ich schnell den Kopf.
"Das wirst du nicht tun", sage ich bestimmend zu ihm und sehe dann Nate an.
"Könntest du ihm vielleicht folgen und ihn im Auge behalten?", frage ich ihn und er nickt sofort.
"Kein Problem", antwortet er nur, zögert aber. Er kommt auf mich zu und drückt kurz meine Schulter, bevor er verschwindet. Anscheinend ist das seine Art, mir zu sagen, dass es ihm leidtut. Obwohl er nichts dafür kann, rührt mich diese Geste mehr, als ich sagen kann. Ich hätte nicht gedacht, dass er so sensibel sein kann. Collin streichelt währenddessen sanft mein Handgelenk und ich zucke zusammen vor Schmerz. Er hört sofort damit auf, lässt meine Hand aber immer noch nicht los und ich spüre die Hitze, die von ihm ausgeht. Schnell ziehe ich meinen Arm zurück, bevor es schlimmer wird. Er sieht mir tief in die Augen und es macht sich eine angenehme Stille zwischen uns breit, doch dann räuspert sich Finn hinter mir und holt uns aus unserer Trance. Und holt damit anscheinend auch Collin, den Trottel, zurück.
"Ich fahre dich nach Hause. Finn, du bleibst hier und passt auf diesen Mistkerl auf. Und mit Aufpassen meine ich, du schlägst ihn K.O., wenn er einem Mädchen wieder zu aufdringlich werden sollte, klar?", teilt er Befehle an uns aus und so langsam verwandelt sich meine Angst in Wut. Ich lasse mir von ihm nicht sagen, was ich tun soll und wenn ich ehrlich bin, würde ich viel lieber bei Finn bleiben.
"Du kannst nicht einfach für mich entscheiden, Collin", beschwere ich mich und er seufzt laut auf. Er sieht mich eindringlich an und ich habe das Gefühl, als würde es ihn gerade die allergrößte Mühe kosten, mich nicht einfach über die Schulter zu werfen und mitzunehmen.
"Emily, bitte. Könntest du einmal tun, was man dir sagt? Ich weiß, es fällt dir schwer, auf eine Diskussion zu verzichten, aber für heute Abend reicht es. Zuhause bist du sicher. Da kann dir nichts passieren", erklärt er mir und ich höre aufrichtige Sorge in seiner Stimme. Ich schlucke, weil ich auch damit nicht gerechnet habe. Nate und Collin überraschen mich heute wirklich.
"Er hat recht, Emily. Ausnahmsweise mal. Du solltest nicht mehr hier sein müssen. Bitte", fleht auch Finn mich an und ich gebe nach.
"Okay...", stimme ich widerwillig zu, drehe mich aber wieder zu Finn, weil ich ihn noch etwas fragen muss.
"Könntest du auch auf meine beste Freundin aufpassen? Sie heißt Avery, hat blonde Locken und trägt ein blaues Kleid. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber ich will nicht, dass ihr das gleiche passiert...", bitte ich ihn und er sieht mich liebevoll an.
"Natürlich. Ihr wird nichts passieren. Versprochen", antwortet er und zieht mich zum Abschied nochmal an sich. Ich spüre, wie er seine Lippen kurz an meine Schläfe drückt und ich fühle mich komischerweise wirklich wohl damit.
"Noch etwas. Könntest du ihr bitte nicht sagen, was Brandon getan hat? Sie würde sich sonst nur Vorwürfe machen und das bringt keinem von uns etwas", flüstere ich ihm zu und er nickt, bevor er sich langsam von mir löst und zurück zur Party geht. Sofort vermisse ich seine Wärme und seinen Duft, aber ich kann ihn ja nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Außerdem würde das nur wieder zu einem Streit mit Collin führen. Der mich gerade total skeptisch ansieht, als hätte ich irgendetwas falsch gemacht. Was er wohl jetzt wieder für ein Problem hat...? Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.
"Komm mit", sagt er zu mir und ich verdrehe die Augen, weil er immer noch diesen rumkommandierenden Ton hat, folge ihm aber dennoch. Das Zittern wird immer schlimmer, aber diesmal nicht aus Angst, sondern wegen der Kälte. Auf dem Weg zum Parkplatz zieht Collin seine Jacke aus und legt sie mir um meine Schultern, bevor ich protestieren kann.
"Schon klar, dir passt das nicht. Aber du frierst und ich kann nicht weiter dabei zuhören, wie deine Zähne klappern. Das ist unerträglich."
Ich weiß wirklich nicht, ob ich genervt oder berührt sein sollte, also sage ich einfach nichts dazu und stecke meine Arme durch die Ärmel. Gott, ist das schön warm. Ich sollte mich wohl bei ihm bedanken, weil er jetzt wegen mir friert, aber ich will ihm den Punkt nicht gönnen. Als wir am Parkplatz ankommen, folge ich Collin, nur um dann vor seinem Motorrad stehen zu bleiben.
"Das kannst du vergessen...", sage ich mit zitternder Stimme zu ihm und er dreht sich zu mir.
"Ich fahre vorsichtig und du bekommst meinen Helm. Dir wird nichts passieren", verspricht er mir und irgendwie habe ich das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Doch das ist es nicht.
"Ich werde mich da nicht draufsetzen, wie eins der vielen Mädchen, die du damit abgeschleppt hast."
"Wie kommst du denn darauf?"
"Ist es so?"
Sein Grinsen ist Antwort genug. Auch wenn mich der Gedanke irgendwie anekelt, habe ich eigentlich keine Wahl, weil ich um die Uhrzeit sicher nicht zu Fuß durch den Wald gehen werde. Vor allem nicht nach dem heutigen Erlebnis mit Brandon.
"Keine Sorge. Dich könnte man nie auch nur ansatzweise mit einem dieser Mädchen vergleichen", erklärt er mir und reicht mir den Helm. Ich habe keine Ahnung, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ist, aber da ich immer noch zittere wie Espenlaub und einfach nur nach Hause möchte, setze ich mir den Helm auf und er schwingt sein Bein über das Motorrad. Er startet den Motor und ich steige vorsichtig hinter ihm auf den Sitz. Zögernd lege ich meine Hände auf seine Schultern, doch er greift nach meinen Armen und legt sie um seinen Bauch.
"Weißt du, wenn ich dafür sorgen soll, dass dir nichts passiert auf dem Heimweg, dann solltest du wenigstens deinen Teil erfüllen und dich richtig festhalten", flüstert er leise nach hinten und ich kann förmlich hören, wie er lächeln muss. Da er recht hat, schlinge ich meine Arme noch fester um ihn. So fest, dass ich durch den Pullover seine harten Bauchmuskeln spüren kann. Verdammt...war ja klar...einfach ignorieren Emily...
Zu meiner Überraschung fährt Collin wirklich vorsichtig und langsam. Er bewegt sich sehr wendig in den Kurven, deshalb kralle ich mich an den Stellen noch etwas mehr an ihn. Er bemerkt das natürlich und ich glaube, ich will gar nicht wissen, was er sich dabei denkt. Nach 15 Minuten kommen wir vor unserem Haus an und er hält neben dem Bürgersteig. Er schaltet den Motor aus, ich steige wackelig ab, da mir von der Fahrt etwas schwindelig ist, und ziehe den Helm von meinem Kopf.
"Schicke Frisur", kommentiert er unnötig und ich verdrehe genervt die Augen. Kann ja nicht jeder so gut aussehen wie er...warte was?! Jetzt verliere ich komplett meinen Verstand...
"Gute Nacht", verabschiede ich mich schnell von ihm, weil meine Gedanken einfach falsch sind, doch natürlich lässt er mich nicht so einfach davonkommen.
"Warte. Geht es dir gut?"
"Du machst dir Sorgen um mich?", stelle ich ihm eine Gegenfrage anstatt zu antworten. Einerseits, weil mich sein Verhalten heute wirklich verwundert. Andererseits will ich nicht darüber reden, was heute passiert ist. Noch nicht.
"Ja. Also Nein. Ach, was solls...", weicht er mir aus und nimmt mir den Helm ab. Ich muss bei seiner Antwort grinsen, woraufhin er mich nur schmunzelnd ansieht.
"Ich meine ja nur...falls du heute Nacht nicht alleine sein willst, kannst du gerne bei mir schlafen", bietet er mir jetzt augenzwinkernd an und ich verstehe sofort, was er gerade tut.
"Du musst jetzt nicht ablenken...", erwidere ich und er sieht mich verwirrt an. Er weiß schon wieder nicht, worüber ich rede. Dieser Mann ist echt schwer von Begriff.
"Keine Ahnung, was du meinst."
"Okay, dann...gute Nacht, Collin...", wünsche ich ihm und gehe schnell ins Haus. Er folgt mir und geht hinter mir die Treppen hoch.
"Was hast du gemeint?", fragt er jetzt nach und ich kann nicht anders als zu lachen. Ich verstehe ja Männer generell nicht, aber Collin ist mir wirklich ein Rätsel.
"Nicht so wichtig", wiederhole ich mich und sperre meine Wohnungstür auf.
"Emily?"
Ich drehe mich zu ihm um und erwarte nochmal irgendetwas dämliches zu hören, doch er überrascht mich wieder einmal.
"Du solltest das Handgelenk kühlen. Und am Montag zum Arzt, wenn es nicht besser wird."
Wow...von seinen Stimmungsschwankungen bekommt man ein Schleudertrauma...
"Ich dachte, ich bin der Doktor von uns beiden."
"Nicht heute. Es steht jetzt übrigens 2:1."
"Um genau zu sein, steht es 3:0."
"Wieso?", fragt er und sieht mich verblüfft an.
"Naja, ich habe dir gestern Abend geholfen und heute hat Finn sich den Punkt verdient", erkläre ich ihm und bekomme sofort ein mulmiges Gefühl, als ich den vorherigen Abend anspreche, doch zum Glück reagiert er nicht darauf. Oder er will nicht darüber reden, weil er es bereut...
"Im Ernst?"
"So sieht es leider aus, ja."
"Du bist echt knallhart, weißt du das?" Ich muss leicht schmunzeln und schaue verlegen auf den Boden.
"Schlaf gut, Emily. Und wenn etwas ist, klingele einfach bei mir", bietet er mir ehrlich an und verschwindet in seiner Wohnung. Ich kann ihn wirklich überhaupt nicht einschätzen, aber ich glaube, ich habe ihn in die falsche Schublade gesteckt.
Hey meine Lieben!
Wie findet ihr das Kapitel? Denkt ihr, Emily hat Collin wirklich zu Unrecht in die Aufreißer-Schublade gesteckt?
Mich würde außerdem echt interessieren, wie euch das Verhalten von Collin, Finn und Nate in diesem Kapitel gefallen hat.
Ich wünsche euch noch einen schönen Dienstagabend!
Eure Liz :D
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