Kapitel 1 Emily
Manchmal frage ich mich, ob manche Menschen wirklich so dämlich sind oder nur so tun.
So wie der Vollidiot, der mich fast angefahren hätte. Aber was kann man von einem Typen erwarten, der lieber Kunststücke auf seinem Motorrad macht, als auf den Verkehr zu achten und nicht mal Schutzkleidung trägt? Richtig, nichts. Wenigstens war er klug genug, einen Helm aufzusetzen.
Ich nehme mir vor, mich nicht mehr darüber aufzuregen. Darin bin ich mittlerweile eine wahre Meisterin, ohne angeben zu wollen. Also gehe ich einfach weiter, obwohl ich genau weiß, was mich im Haus meiner Mutter erwarten wird. Herablassung und Verachtung. Wofür auch immer. Ich denke manchmal, dass allein meine Existenz reicht, um sie auf die Palme zu bringen. Dadurch bin ich zwar wirklich gut abgehärtet, was Gemeinheiten usw. angeht, aber wer wünscht sich nicht eine Mutter wie Lorelai Gilmore? Mutter und beste Freundin in einer Person, die immer für einen da ist und mit der man auch jeden Unsinn machen kann?
Klar, das ist Wunschdenken, aber jeder träumt doch ab und an von einem besseren Leben. Einem leichteren Leben. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, stehe ich schon vor ihrem Haus. Die Fassade könnte mal wieder einen neuen Anstrich gebrauchen, aber sonst ist es noch gut erhalten. Ich überlege, ob mir noch eine plausible Ausrede einfällt, warum ich heute "leider" nicht kommen kann. Nachdem mir nichts einfällt, beschließe ich, es einfach hinter mich zu bringen und drücke auf die Klingel. Ich höre Schritte und sie reißt die Tür auf.
"Du bist spät dran", meint sie nur und geht wieder zurück ins Esszimmer.
"Ich freu mich auch, dich zu sehen", murmele ich leise zu mir selbst, bevor ich die Tür schließe und ihr folge.
Das Verhältnis zwischen uns war schon immer schwierig, auch wenn ich nicht wirklich weiß, wieso. Mit meiner älteren Schwester kommt sie sehr gut klar, also kann es wohl nicht daran liegen, dass sie keine Kinder wollte. Früher dachte ich immer, es liegt an mir. Dass ich zu hässlich oder zu dumm wäre. Deshalb hab ich auch immer versucht, in allem die Beste zu sein. Als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass es das nicht wirklich besser macht, deshalb hab ich es irgendwann aufgegeben.
Ich weiß, klingt traurig, aber über die Jahre gewöhnt man sich daran, das schwarze Schaf der Familie zu sein.
Als ich im Esszimmer ankomme, sitzt Aaron, ihr Freund, am Tisch und verdreht nur die Augen, während ich mich ihm gegenüber setze. Wieso hab ich nochmal Ja gesagt zu diesem Essen?
Um mir den gezwungenen Smalltalk mit ihm zu ersparen, stehe ich auf und decke den Tisch für uns. Je schneller wir essen, desto schneller kann ich nach Hause. Dachte ich zumindest.
Meine Mutter stellt das Essen auf den Tisch und setzt sich an das Kopfende. Wirklich gesprächig sind sie heute ja nicht, denke ich mir, und befürchte, dass es schlechte Neuigkeiten gibt.
Kaum nehme ich mir etwas zu essen, meint meine Mutter: "Wir müssen mal reden."
Na toll. Vielleicht sollte ich Hellseherin werden...
Ich versuche, positiv zu bleiben und frage freundlich, was los ist.
Die beiden tauschen wissende Blicke aus und auf einmal bekomme ich ein ganz komisches Gefühl in der Magengegend. Das gefällt mir ganz und gar nicht.
Er will gerade anfangen, mir zu erklären, was hier los ist, doch sie legt ihm die Hand auf den Oberarm und deutet ihm so, dass sie das klären will.
"Also...naja...wir...", sie schaut leicht verunsichert zu ihm. So hab ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Eigentlich noch nie. Heute ist echt ein merkwürdiger Tag. Erst die Arbeit, die mir schon seit einer Weile zu schaffen macht, dann dieser Typ, der mich fast umgebracht hätte und offensichtlich seine Organe so schnell wie möglich spenden will, und jetzt das hier.
"Wir werden heiraten!"
Ich hoffe, ich hab mich verhört. Ich MUSS mich verhört haben...das kann nicht ihr Ernst sein.
"Bitte was?", frage ich sie und bete dafür, dass das nur ein schlechter Scherz ist.
"Wir werden heiraten, Emily", sagt sie nochmal mit Nachdruck, diesmal eindeutig genervt.
Ich glaube, mir wird schlecht. Mal abgesehen davon, dass ich es eigentlich süß finde, wenn ältere Leute noch so verliebt sind und so viel Glück haben, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollen. Aber das...er...ausgerechnet er...der mich übrigens gerade zuckersüß anlächelt. Jeder andere würde denken, dass er ein freundlicher Mann ist, der sich nur auf seine bevorstehende Hochzeit freut, doch er und ich wissen, dass er da gerade einen Schritt zu weit gegangen ist für mich und er genießt das. Kann der Tag eigentlich noch schlimmer werden?
Ich versuche, so gut es eben geht, die Ruhe zu bewahren und frage nur: "Wieso?"
"Na, wieso wohl? Ich liebe ihn und er hat mich gefragt. Aber von dir habe ich natürlich nicht erwartet, dass du dich für uns freust. Deine Schwester hat sich übrigens riesig gefreut", antwortet sie mit einem kleinen Seitenhieb. Tja, meine Schwester mag ihren Freund auch und sieht ihn mittlerweile als Vater an. Mal abgesehen davon, dass sie jeden mag, egal wie falsch er sich verhält. Sie und meine Mutter teilen die gleiche Naivität.
Wobei ich sagen muss, dass ich gute Gründe habe, ihm nicht zu vertrauen. Allerdings glaube ich kaum, dass ich jetzt die zwei Frauen erwähnen sollte, mit denen er sie betrogen hat. Also die zwei, von denen wir wissen. Zu meinem Bedauern hat sie ihm das verziehen und ich muss damit leben. Meine Mutter würde niemals auf mich hören, auch wenn ich nur das Beste für sie will, trotz ihrem Verhalten mir gegenüber. Sie meint, ich bin das Kind und sie ist die Erwachsene. Kurz, sie meint deshalb, sie weiß alles besser. Mir fehlt die Lebenserfahrung, obwohl ich schon 20 bin. Nicht alt genug, um als eine der weisen Ältesten durchzugehen, aber ich bin sicherlich kein dummes Kind mehr.
Zudem steh ich seit zwei Jahren auf eigenen Beinen, seit sie mich rausgeworfen hat. Ich habe mich sehr oft mit Aaron gestritten, als ich herausgefunden habe, was er getan hat und meine Mutter hat es nicht mehr ausgehalten. Sie sah sich gezwungen, sich zu entscheiden. Und das hat sie. Sie meinte, ich ruiniere die Familie damit und hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Seitdem ist unser Verhältnis natürlich noch schlimmer geworden, aber wir haben ab und zu Kontakt, was ich doch sehr erwachsen von uns finde. Wir versuchen es, aber kommen irgendwie nicht auf einen gemeinsamen Nenner.
Als ich merke, dass die beiden auf eine weitere Reaktion von mir warten, frage ich meine Mutter, ob sie das wirklich für eine gute Idee hält und ob sie vergessen hat, was er getan hat.
"War ja klar, dass du wieder damit kommst...du bist so verbittert, dass du dich für niemanden freuen kannst, wenn etwas Gutes passiert oder?! Ich konnte ihm das verzeihen, wieso du nicht?!", fragt sie mich und ihre Stimme wird mit jedem Wort lauter.
"Ich würde mich für dich freuen, wenn es jemand wäre, der dich gut behandelt und deine Gefühle nicht mit Füßen tritt!", schreie ich und springe auf. Ich muss hier ganz schnell raus.
Meine Mutter will gerade richtig anfangen, sich mit mir zu streiten, doch ich renne schnell an beiden vorbei, bis ich draußen bin und erstmal tief durchatme. Als ich mich einigermaßen beruhigt habe, gehe ich langsam durch die Straßen meiner Kleinstadt. Auf dem Weg in meine Wohnung, denke ich über ihre Worte nach. Wieso kann ich ihm nicht verzeihen? Einerseits hat sie ja recht, wenn sie das konnte, sollte das für mich eigentlich kein Problem sein. Andererseits habe ich die Ansicht, dass sich Männer meiner Erfahrung nach nicht ändern. Nicht, dass ich viel Erfahrung hätte, aber dennoch. Außerdem glaube ich kaum, dass sie ihm wirklich verziehen hat. Sie bekommt immer so einen komischen Ausdruck in den Augen, wenn er nur mit anderen Frauen redet und danach streitet sie ewig mit ihm. Das kann nicht wirklich gesund sein, aber sie merkt das nicht.
Und das bedeutet, dass sie ihr Leben wirklich mit einem Mann verbringen will, der sie von vorne bis hinten verarscht. Wieso sollte man sich sowas antun? Für mich ist das total masochistisch, als würde man sich selbst für irgendwas bestrafen wollen. Klar, Menschen machen Fehler, aber bei ihm waren das schon zwei. Also hat er aus seinem ersten Fehler auch nicht gelernt.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, stehe ich auch schon vor meinem Haus. Es ist alt und klein, aber ich fühle mich sehr wohl dort. Es hat 3 Etagen und auf jeder Ebene sind 3 Wohnungen. Ich komme auch ganz gut mit den anderen Mietern zurecht, wofür ich sehr dankbar bin. Gerade als ich reingehen will, sehe ich, dass vor dem Haus ein Motorrad geparkt hat. Sehr komisch, kein Nachbar fährt Motorrad...naja, vielleicht ein Besucher. Ich denke nicht weiter darüber nach und schließe die Haustür auf.
Als ich dabei bin, in den 2. Stock zu gehen, höre ich oben leise Stimmen. Die Wohnung rechts von mir steht seit längerer Zeit leer bzw. wurde auch monatelang renoviert und wird wohl gerade von einem potenziellen Mieter angeschaut. Ich komme gerade oben an, da sieht mich schon Mrs. Hansen. Sie vermietet alle Wohnungen im Haus und ist eine nette, aber etwas schrullige, ältere Frau, immer total bunt angezogen wie ein Kanarienvogel und sagt immer jedem ihr Horoskop, weil sie denkt, es wird dann wahr. Ich persönlich glaube nicht an sowas, aber sie redet immer so begeistert davon, dass ich es mir mittlerweile gerne anhöre.
"Emily. Wie schön, dich mal wieder zu sehen", begrüßt sie mich freundlich mit ihrer tiefen Stimme.
"Freut mich auch Mrs. Hansen. Wie geht es Ihnen?", antworte ich und betrete langsam die Wohnung.
Sie will gerade antworten, als jemand aus dem Schlafzimmer kommt. Und vielleicht war ich zu voreilig mit diesem Tag. Seine braunen Haare fallen ihm leicht ins Gesicht. Sein grünes Shirt betont seine grünen Augen und er lächelt, als er mich sieht. Doch dann sehe ich etwas, das mir mehr Sorgen bereitet, als der gesamte Tag heute. Hinter ihm liegt ein Helm...leider sehr ähnlich wie der von dem Idioten vor ein paar Stunden. Das kann nicht wahr sein...
"Emily, das ist dein neuer Nachbar. Ich denke, ihr zwei werdet gut miteinander klar kommen", sagt Mrs. Hansen, doch ich bekomme das nur so halb mit.
Er geht langsam auf mich zu und streckt die Hand aus.
"Ich bin Collin. Freut mich, dich kennen zu lernen, Emily", stellt er sich vor und lächelt mich immer noch selbstsicher an.
Und ja, anscheinend kann mein Tag noch schlimmer werden...
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