Totgesagte leben länger
Jules
"Lass das! Wir sind keine Freunde mehr. Also lass diese Anspielungen auf die Vergangenheit", zischte ich, raffte mein Kleid und eilte Richtung Toilette. Ich konnte das nicht mehr. Diese Situation laugte mich so sehr aus.
"Babe? Was ist denn los?", fragte mich Trey plötzlich. Er war wie aus heiterem Himmel neben mir aufgetaucht. Ich ignorierte ihn. So etwas machen gute Freundinnen eigentlich nicht, aber ich war nicht perfekt. Und Trey war es auch nicht. Ich brauchte meinen Freiraum.
Und ich war ein schrecklicher Mensch. Ein sehr schrecklicher Mensch. Wie konnte ich nur so etwas denken?
Ich stieß die Tür zur Damentoilette auf und drehte den Schlüssel ein paar Mal im Schloss um, ehe ich mich auf das Waschbecken stützte. Im blassen Neonlicht starrte mich mein eigenes Gesicht, mein Spiegelbild an. Ich hasste diesen Anblick. Ich hasste ihn.
"Du warst eine tolle Anwältin. Du hattest dein Leben unter Kontrolle. Du hast Falling Stars hinter dir gelassen und mit der Stadt auch Cameron. Du hast einen tollen Freund und ein geregeltes Leben. Warum um alles in der Welt, zerstörst du das nun?", knurrte ich mich selbst an. Und ja, das qualifizierte mich vielleicht wirklich für die Psychiatrie. Aber ich musste es aussprechen, um etwas ändern zu können.
Der Tanz mit Cameron hatte etwas in mir losgetreten, etwas entfesselt. Er hatte das schlafende Monster in mir geweckt. Aber ich, ich hatte es auch noch gefüttert. Und das hätte ich besser nicht getan.
Denn für einen kurzen Moment hatte ich seine Nähe genossen. Seinen stetigen Herzschlag gespürt, seine Hand an meiner Taille genossen und seinen Duft wahrgenommen. Ich hatte etwas in mir gefühlt, das ich drei Jahre für tot geglaubt hatte. Irgendwie war ich Zuhause angekommen. Verrückt und irrational. Aber so war es. Cam hatte für einen winzigen Moment Zuhause bedeutet.
Und das Schlimmste? Ich hatte ihn begehrt. Fast hätte ich ihm die Arme um den Hals geschlungen, um das Feuer in mir zu löschen. Fast hätte ich ihn geküsst, um mein Verlangen zu befriedigen. Fast hätte ich ihm gezeigt, wie sehr ich ihn noch immer wollte.
Gott. Mir wurde urplötzlich übel. Diese Gedanken waren falsch. Ich hatte einen Freund, ein Leben. Ich durfte so nicht für Cam empfinden. Es hatte mich schon einmal fast zerstört. Ich konnte es kein zweites Mal. Das würde ich nicht überstehen.
Aber du willst Cameron. Mit jeder Faser deines Körpers begehrst du nach ihm.
Ich stürmte in die Kabine, riss die Klobrille hoch und kotzte mir beinahe die Seele aus dem Leib. Eine Seele, die von Petrus Richtung Hölle geschickt werden würde, sollte ich weiter solche Gedanken haben. Solche Gelüste.
"Himmel", brachte ich leise zwischen zwei Würgern hervor, als es energisch klopfte.
Das Klopfen wurde lauter. Ich rieb mir den Schweiß aus der Stirn und sammelte mich. "Hier ist besetzt!", rief ich und kotzte, nun ja, weiter. Ob daran der Alkohol Schuld war? Oder wieder nur mein beschissenes Karma?
"Julianne? Geht es dir gut?", fragte der Störenfried. Es war natürlich Cameron. Wer auch sonst. Der letzte Mensch auf dieser Welt, den ich jetzt sehen wollte, beglückte mich mit seiner Fürsorge.
"Verpiss dich", rief ich, doch er rüttelte an der Tür. Und dieses Scheißding ging sofort auf. Danke, ans Karma an dieser Stelle.
Ich achtete nicht auf ihn. Bemerkte nicht, wie umwerfend er in diesem Smoking von Armani aussah. Ja, ich hatte auf seine Kleidung geachtet. Wie so ein Freak.
"Herrgott, Julianne. Was ist denn los mit dir? Brauchst du einen Arzt?", rief Cameron, trat die Tür hinter sich zu und kniete sich neben mich. Ich würgte einfach weiter. Oh ja, ich konnte gar nicht mehr aufhören. Leckere Geschichte.
"Deine Fürsorge kommt drei Jahre zu spät", stieß ich hervor und erwartete, dass er zurückschoss, doch er nahm nur vorsichtig meine Haare zurück und legte eine Hand auf meinen Rücken.
"Ich weiß, Baby. Und es tut mir leid", flüsterte er. Diese Worte gingen mir durch Mark und Bein. Es tat ihm leid, tatsächlich leid? Und das sagte er mir nach drei verdammten Jahren auf einer beschissenen Toilette? Er fühlte sich in der Umgebung wohl heimisch.
"Lass mich endlich in Frieden", sagte ich und stützte mich von der Kloschüssel ab. Cameron griff vorsichtig nach meinem Oberarm, ließ meine Haare aber nicht fallen. Er betätigte die Spülung, klappte den Deckel runter und zwang mich, darauf Platz zu nehmen. Danach machte er etwas Klopapier feucht und reichte es mir.
Er lehnte mir gegenüber an der Wand und ich saß zusammen gekrümmt auf der Toilette und säuberte mein Gesicht. Warum war er so nett zu mir? Zwischen uns war gar nichts sanft abgelaufen. Nichts. Und doch kümmerte er sich um mich.
Ich stand auf, ging zum Waschbecken und spülte mir den Mund mit Mundwasser aus, das auf der Heizung stand. Hoffentlich holte ich mir nicht den Tod dadurch.
"Das war eklig. Ich habe schon lange nicht mehr so viel Kotze auf einmal gesehen. Dabei bist du doch so ein zartes Wesen", sagte Cameron plötzlich und ich fuhr zu ihm herum. Sieh mal einer an. Wer hatte sich denn da doch nicht geändert.
"Ach, fahr zur Hölle, Arschloch", zischte ich und wollte an ihm vorbei treten, doch er blockierte die Tür. Und verdammt, er war noch breiter und muskulöser geworden.
"Wir müssen reden, Julianne." Ach ja?
"Ich muss nur sterben. Nichts anderes."
Cameron grinste und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Und ich dumme Kuh, reagierte nicht. Gar nicht. Ich ließ ihn gewähren. Und genoss es. Seine kristallklaren Augen weiteten sich und er legte seine Hand um meinen Hals. Unwillkürlich machte ich einen Schritt auf ihn zu, obwohl ich doch von ihm wegtreten wollte. Er kam mit seinem Gesicht näher und meine Atmung beschleunigte sich. Gott sei Dank roch ich nicht mehr nach Kotze.
"Ich habe dich vermisst. Unendlich vermisst", flüsterte er sanft. Seine Stimme lullte mich ein. Ich fühlte mich, als sei ich in seinem Zauber gefangen.
"Ich...", murmelte ich, doch Cameron legte mir kurz einen Finger auf die Lippen. Seine andere Hand streichelte meinen Nacken. Die letzte Alarmglocke in meinem Gehirn ging an und wurde kläglich ignoriert. Ich war vollkommen auf den Mann vor mir fixiert. Denn das war er jetzt. Er war kein Junge mehr, er war ein Mann.
"Beiß mich jetzt nicht, okay?", flüsterte er und senkte seine Lider. Der dichte Wimpernkranz berührte beinahe seine hohen Wangenknochen.
Und dann tat er es. Er legte seine weichen Lippen auf meine und küsste mich sanft, vorsichtig und liebevoll. Und ich? Ich erwiderte den Kuss. "Julianne", sagte er und ein Schalter kippte in uns um. Der nächste Kuss war nicht mehr unschuldig. Nein. Er war leidenschaftlich. Drei Jahre des Getrenntseins lagen darin. Unsere Hände waren überall. Und schon bald hatte er mich hochgehoben und auf die Anrichte gesetzt. Ich schlang die Beine um ihn, spürte seine harte Hüfte. Ließ meinen Lüsten freien Lauf. Ich hatte ihn so vermisst. Alles an ihm. Trey hatte nie solche Gefühle in mir ausgelöst.
Trey.
Mit einem Ruck riss ich mich los. Trey. Was tat ich nur hier. Ich schlug gegen Camerons Brust, drückte ihn weg. Oh Gott! Nein. Das durfte nicht wahr sein.
"Lass mich. Geh weg. Geh!", rief ich und stolperte von der Anrichte. Cam streckte die Hand nach mir aus. Auf seinem geröteten Gesicht war Verzweiflung, Verwirrung zu erkennen. Mir wurde erneut übel. "Fass mich nicht an!"
"Julianne..."
"Nein! Großer Gott. Das hier ist nie passiert. Verstehst du?", rief ich hysterisch. Wie hatte ich das nur tun können? Wie? Cameron stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte kurz den Kopf.
"Du kannst es nicht zugeben, oder? Du liebst mich noch immer und ich liebe dich", sagte er fest, doch ich wehrte mich gegen die aufkommenden, warmen Gefühle. Ich war schlecht. Ich durfte mich nicht gut wegen so etwas fühlen.
"Ich liebe meinen Freund. Ich liebe Trey!" Wenn ich es nur oft genug sagte, würde ich mich auch wieder so fühlen. Das musste so sein. Trey war meine Zukunft, Cameron meine Vergangenheit.
Er lachte bitter und hämisch auf. "Diesen Versager? Das glaubst du doch selbst nicht." Ich musste es ihm klarmachen. Deshalb wählte ich voller Wut und Verzweiflung die härtesten Worte.
"Wie könnte ich dich lieben? Nach allem was du mir angetan hast? Ich liebe dich nicht, Cameron. Ich empfinde Hass gegen dich. Und diese Ausschreitung bedeutet nichts. Rein gar nichts."
Cameron zuckte zurück. Starrte mich verletzt an und ich trat den Rückzug an. Ich konnte ihn so nicht sehen. Denn ich wusste, dass diese Worte eine Lüge waren.
Ich rannte aus der Toilette und fasste einen Entschluss. Ich musste Cameron vergessen, denn ich hatte eine solide Beziehung mit Trey. Er war der Gute.
Nur leider war das schlafende Monster in mir erwacht. Totgesagte leben länger.
Und leider wollte eine Frau oft nicht den Guten. Ich wollte noch immer den Bösen.
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