Bleibst du?
Nach meinem letzten Sprung, einem Doppeloxer, ließ ich die Zügel aus der Hand kauen. Zentimeter für Zentimeter gab ich die Zügel nach bis ich die Schnalle in der Hand hielt.
"Jetzt bist du total durchgeknallt", brüllte Cam plötzlich vom Zaun aus. Ich gab mir nicht die Mühe meinen Kopf zu drehen, sondern ritt Ranger weiter trocken. "Bist du jetzt etwa auch noch taub?", rief er wieder und stürmte auf den Platz. Leise schnalzte ich mit der Zunge und lenkte Ranger nur mit meinen Schenkeln zum Ausgang. Am langen Zügel umkreiste ich Cameron "Vollidiot" Boudreaux und ritt vom Platz. Er rannte mir hinterher und packte Ranger am Zaumzeug. "Steig ab. Sofort." Ich dachte gar nicht daran.
"Lass ihn los. Sofort", forderte ich und schaute ihn böse an.
"Dieses Pferd ist nichts für Anfänger, Julianne", seine Stimme war sanfter geworden. Seltsam, dass er meinen vollen Namen benutzte. Sonst hörte ich ihn nur aus dem Munde meiner Mutter, wenn ich was weiß ich was getan hatte.
"Ich bin kein Anfänger", stellte ich klar und klopfte Rangers Hals.
"Na klar. Steig ab." Uuund dahin war es mit der Sanftheit. Er hielt mich für bescheuert. Gerade wollte ich antworten, da kam Renald über den Hof zu uns gejoggt. Ein breites Lächeln zierte sein Gesicht und er kam vor uns zum Stehen.
"Ich habe ihr schon tausendmal gesagt, dass Ranger nichts für Anfänger ist, aber sie will trotzdem patou nicht absteigen", versuchte Cam mich anzuschwärzen. Ren strich Ranger über die Nüstern und grinste noch breiter.
"Soll ich deinen Namen an seine Box machen?", fragte er mich und ich nickte.
"Bitte was?", rief Cameron entsetzt aus. "Hast du mir gar nicht zugehört?"
Ren wandte sich ihm zu.
"Unsere Jules hier hat bis vor zwei Jahren eine Profikarriere als Springreiterin angestrebt. Ich glaube Ranger hat nur auf so eine starke Hand gewartet." Widerwillig ließ Cam sein Zaumzeug los.
"Was auch immer", brummte er und stiefelte davon.
"Der kriegt sich schon wieder ein", wollte Renald mich trösten. Und tatsächlich tat Cams Abgang sogar ein wenig weh, aber ich hatte mich nicht 17 Jahre lang in New York durchgekämpft um mich wegen solcher Kleinigkeiten abzurackern. Ich zuckte mit den Schultern.
"Juckt mich herzlich wenig."
Um 2:38 Uhr wurde ich von lauten Stimmen gewenkt. Stöhnend schlug ich die Bettdecke zurück und tapste mit halb geschlossenen Augen zu Camerons Zimmer. Vorsichtig klopfte ich, drückte die Türklinke runter und steckte behutsam den Kopf in sein Zimmer. Lieber Gott, lass ihn nicht nackt sein.... oder vielleicht doch? Oh mann, ich war so verkorkst. Wir hatten uns den ganzen Abend ignoriert und nun hatte ich Fantasien über ihn in einem Meer aus Bettlaken. "Cam?", fragte ich in die Dunkelheit hinein. "Hörst du das auch?" Keine Antwort. "Hey, schmollst du etwa immer noch?" Wieder keine Antwort, also machte ich das Licht an. Sein Zimmer war leer. Wie ausgestorben. Schnell verließ ich es wieder und ging die Treppe hinunter. Die Stimmen kamen aus dem Wohnzimmer.
"Es ist mitten in der Nacht, Freunde", bemerkte ich und betrat den Raum. Doch jede weitere spitze Bemerkung blieb mir im Hals stecken. Cameron stand mit zitternden Händen vor dem prasselnden Kamin. Von seinen großen Händen, über den kräftigen Unterarmen bis hin zu seinen muskulösen Oberarmen erstreckte sich eine dicke Schicht Blut. Gras und Erde hingen in seinen seidigen Haaren und eine Dreckspur zog sich über seinen Nacken. Mein Blick glitt zu Ren, der zusammengesunken auf der Couch saß, die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt und das Gesicht in den Händen. Wieder schaute ich zu Cam. Seine Atmung wirkte angestrengt und obwohl ich nur die Hälfte seines Gesichts sehen konnte, das durch die flackernden Flammen in ein goldenes Licht getaucht wurde, wusste ich, dass das, was ihm widerfahren war an seiner Seele nagte. Sich immer tiefer vorzufressen drohte, bis er völlig daran zerbrach. Die Angst schnürte mir die Lunge zu und mein Herz rutschte mit einer solchen Geschwindigkeit in meine Hose, dass man vielleicht sogar Warp-Geschwindigkeit dazu sagen konnte. Mit zitternden Händen strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und schaute nervös zu meiner Mum, die mich aus traurigen Augen anschaute, während Gabby besorgt zu ihrem Sohn blickte.
"Mum? Was ist hier los?", fragte ich und fürchtete mich vor der Antwort. Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben so eine Angst verspürt wie jetzt gerade.
Sie schluckte schwer und fuhr sich mit der Hand über das tränennasse Gesicht.
"Irgendwer hat drei unserer Rinder getötet." Ihre Stimme klang rau vor Erschöpfung.
"Erschossen?", hakte ich leise, fast flüsternd nach. Bitte lass es so gewesen sein, alles andere wäre grausam. Es würde bedeuten, dass es jemand auf uns abgesehen hatte.
"Ihnen wurde die Hauptschlagader durchtrennt, Julianne", meldete sich nun Gabrielle zu Wort. Ein zugleich heißer und kalter Schauer lief mir den Rücken hinab und ich ballte die Hände zu Fäusten.
"Aber...wer macht denn sowas? Das können doch keine einfachen Viehdiebe sein", stellte ich fest. Das konnte einfach nicht wahr sein. Wo war ich hier bloß reingeschliddert?
"Wir wissen es nicht. Morgen kommt die Polizei und vernimmt die Nachbarn. Vielleicht wissen die ja was", sagte Ren, den Kopf immer noch in den Händen vergraben.
"Das glaubst du doch selbst nicht! Die nächste Ranch ist 20 Minuten entfernt", zischte Cameron und stiefelte aus dem Raum. Ohne zu zögern folgte ich ihm bis in sein Badezimmer. Er drehte sich nicht zu mir um, sondern fand meinen Blick im Spiegel. Er sah so traurig und verletzlich aus, dass es mir fast das Herz brach.
"Ich bin nicht in der Stimmung für deine Anfälle von verbalem Durchfall", murmelte er und ich deutete auf den geschlossenen Toilettendeckel.
"Setz dich einfach hin, bitte", bat ich ihn mit sanfter Stimme. Seine blauen Augen huschten über mein Gesicht und tatsächlich tat er wie geheißen. Ich befeuchtete einen Waschlappen und begann seine Hände zu säubern. Wortlos wusch ich all das Blut Stück für Stück von seiner Haut und konzentrierte mich auf seine Atmung, die immer regelmäßiger wurde. Ich drängte ihn nicht. Wenn er bereit war, dann würde er mir schon alles erzählen. Vorsichtig wusch ich seine Haare und säuberte seine Haut. Camerons Blick folgte dabei jeder meiner Bewegungen und die Stille zwischen uns war überhaupt nicht unangenehm. Es war, als hätten sich zwei alte Seelen getroffen, die schon alles miteinander erlebt hatten.
Er zog sich um und ich wartete in seinem Zimmer auf ihn. Es war ziemlich unpersönlich eingerichtet. Keine Fotos oder Plakate zierten die Wände, nur eine Gitarre lehnte an der Wand. Ich wette, dass er wundervoll spielte. Als er das Zimmer betrat, stand ich vom Schreibtischstuhl auf und half ihm die Bettdecken ordentlich auszubreiten. Ich drückte noch einmal seine Hand und wollte gerade gehen, da zog er mich am Handgelenk zurück.
"Kannst...kannst du noch ein bisschen bleiben?", fragte er so leise, dass ich für einen Moment dachte, es mir nur eingebildet zu haben. Sein Blick war so traurig und verängstigt, dass es mir ganz kalt ums Herz wurde, also schlüpfte ich unter die Decken neben ihm. Wir lagen dicht nebeneinander, sodass wir den Atem des anderen auf unserer Wange spüren konnten.
"Ich habe versucht sie zu retten. Ich habe wirklich versucht die Blutung zu stoppen", murmelte er und ich strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn.
"Ich weiß, Cam. Ich weiß." Wie konnte ich ihm bloß helfen?
"Warum konnte ich nichts tun, Jules? Warum misslingt mir sowas nur immer?" Gott, er sah so verletzlich aus, so jung. Ich wollte nichts sehnlicher als ihm seine Qualen zu nehmen, aber manchmal war Zuhören die beste Medizin.
"Es war nicht deine Schuld, hörst du? Du hast alles getan, was du konntest, Cameron." Er seufzte und schloss die Augen.
"Bleibst du hier?"
"Willst du, dass ich bleibe?"
Er streckte die Hand aus und fuhr mir sanft mit dem Daumen über die Wange.
"Ja."
"Dann bleibe ich so lange du willst."
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