9. Kapitel
Der laute Knall erschreckte mich. Tief in meinem Inneren hatte ich gehofft, dass der Rebell nicht abdrücken würde. Dass er nicht den Mut haben würde, Lysander zu erschießen.
Ich zuckte zusammen, genauso wie die anderen Soldaten um mich herum. Kurz herrschte absolute Stille, alle hielten den Atem an. Ich sah zu Lysander, brach den Blickkontakt nicht ab. Es war das letzte, was ich für ihn tun konnte. Ihm wenigstens das Gefühl geben, nicht alleine zu sterben.
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi. Der Nachhall des Schusses prallte von den Mauern wieder, bis er immer leiser wurde und verschwand. Der Blickkontakt blieb bestehen. Leichte Verwirrung zeichnete sich in Lysanders Gesicht ab. Ich wartete darauf, dass er zusammenbrechen würde. Dass Blut aus seiner Schläfe sickern würde. Aber nichts dergleichen geschah. Er blieb stehen und sah mich an. Seine Augenbrauen wanderten nach oben, er hatte die Stirn gerunzelt und es schien ihm blendend zu gehen.
Das bemerkten auch die anderen Soldaten und atmeten verwirrt, aber auch erleichtert auf. Die Rebellen wurden unruhig, ein Schrei des Entsetzens drang aus Kaitlyns Kehle. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu und merkte, dass sie auf eine große, reglose Gestalt blickte, die hinter Lysander auf dem Boden lag. Es war der Rebell, der ihn festgehalten hatte. Wieso wurde der Rebell und nicht Lysander getötet?
Unsicherheit kroch durch meinen Körper, ohne es zu realisieren, rückten wir Soldaten näher zusammen. Unsere Schultern stießen aneinander, da unsere Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Schweigend sahen wir auf Lysander, der den toten Rebellen nun auch hinter sich entdeckt hatte und vor Schreck einen Satz nach vorne machte. Er sprang genau auf den anderen Rebellen mit der erhobenen Pistole in der Hand zu. Und um genau zu sein, landete er genau vor ihm auf dem Boden. Der Lauf der Pistole bohrte sich in seine Brust, aber der Rebell drückte nicht ab.
Ein leises Rasseln hinter mir lenkte mich ab.
"Hände hinten lassen und weiter nach vorne gucken", flüsterte uns jemand zu. Ich bekam eine Gänsehaut, weil die Stimme sehr nah war, ich mich aber nicht umdrehen durfte. Ich spürte, wie jemand meine Hände berührte, dann Klackte es kurz. Mir wurden die Handschellen abgenommen, aber ich ließ mir nichts anmerken. Mit ausdrucksloser Miene sah ich weiter in Lysanders Richtung, während mir lauter Fragen in den Kopf schossen. Was passierte hier? Warum wurden wir losgebunden? Warum wurde Lysander nicht getötet? Brachten die Rebellen sich jetzt etwa schon gegenseitig um?
Laut schlug mein Herz in meiner Brust, langsam brach Unruhe bei den Rebellen aus. Sie wuselten über den Platz wie Ameisen, keiner wusste, was er machen sollte. Keiner schien zu wissen, warum alles aus dem Ruder lief. Ich ließ meinen Blick über die Rebellen schweifen, die rundherum an Rande des Platzes standen. Sie waren alle bewaffnet und einheitlich angezogen. Und doch schien es einen Unterschied zu geben. Mir fiel nur nicht auf, welcher.
Langsam ließ ich den Blick über die Gesichter schweifen. Es war schwer, die Personen zu erkennen, da sie ein Tuch über Mund und Nase gebunden hatten, gegen den Sand, der hier durch die Gegend flog. Uns Soldaten peitschte er ins Gesicht, aber wegen dem ganzen Druck der auf uns lastete, schien es niemand groß zu bemerken. Auch mir fiel es jetzt erst auf.
Also schaute ich mir die Augenpaare genauer an, bis mir der Atem stockte. Ich blickte geradewegs in die dunklen, unergründlichen Augen meines Chefs. Was machte er hier?
Während ich ihn ansah, fiel auf der anderen Seite des Platzes ein Schuss. Ich bekam einen Herzinfarkt, dass der Rebell nun Lysander doch ermordet hatte. Doch das war nicht der Fall. Lysander trug jetzt selbst eine Waffe und hatte ein Tuch über Mund und Nase. Der Rebell vor ihm, trat zurück und Kaitlyn schlich unsicher auf Lysander zu. Auch sie war bewaffnet, sie schien zu planen, ihn selbst zu erschießen. Aber Lysander hatte sich wieder gefasst, langsam hob er seine eigene Pistole. Ich fragte mich gerade, woher er sie hatte, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Erleichterung bereitete sich in meinem Körper aus.
Der Rebell, der Lysander erschießen sollte, war gar kein Rebell. Es war in Wirklichkeit ein Soldat gewesen. Chefchen und seine Soldaten waren schon lange hier und hatten sich unter die Rebellen gemischt. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis die Rebellen auch verstanden, was hier ablief. Kaitlyn schien es jedenfalls noch nicht bemerkt zu haben, denn sie positionierte sich leicht breitbeinig vor Lysander. Beide sahen sich abwertend in die Augen, die Zeit schien wieder einmal still zu stehen.
Dann wusste ich nicht mehr, was als erstes passierte. Fiel erst der Schuss aus der Richtung von meinem Chef? Oder traten die als Rebellen getarnte Soldaten zuerst aus ihren Reihen?
Auf jeden Fall herrschte von den einen Moment auf den anderen Chaos. Die Soldaten griffen die Rebellen an, es fielen viele Schüsse, Schreie hallten über den Platz, wurden von den Mauern wieder zurück geworfen. Sand wirbelte auf, die Rebellen drehten sich sinnlos im Kreis, wussten nicht, gegen wen sie kämpfen sollten, da sie die Soldaten nicht von ihren eigenen Leuten unterschieden konnten. Eine verirrte Kugel traf einen Soldaten aus unserer Reihe. Seine Knie gaben unter seinem Gewicht nach und er fiel in den Sand.
"Nein!" Dass der Schrei von mir kam, bemerkte ich erst an den erschrockenen Blicken der anderen Personen in meiner Nähe. Ich ließ mich neben dem verletzten Soldaten auf die Knie fallen. Er blutete stark aus der Brust, lebte aber noch. Hilflos tätschelte ich ihm die Wange, damit er mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Seine Augenlider flatterten, ich drückte meine andere Hand auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, meine Hand wurde warm und glitschig von seinem Blut. Ich drückte verbissen mit beiden Händen auf die Wunde. Von dem Kampf um mich herum bekam ich nichts mehr mit, ich fokussierte mich ganz alleine auf Alan, der mir wortwörtlich unter den Händen weg starb.
"Alan, sieh mich an. Sie mich an Alan!" Er zuckte, sein Gesicht war vor Schmerz verzogen, als er endlich seine Augen öffnete. Erst fand er mich nicht, aber dann hielt er meinem Blick stand.
"Hör mir zu, Alan. Es tut mir so leid. Bitte glaub mir das. Es tut mir verdammt nochmal leid." Mir traten Tränen in die Augen, als ich daran dachte, wie er ausgepeitscht wurde, weil ich den Rebellen keine Antworten lieferte. Er musste leiden, weil ich nicht gehorcht hatte. Das würde ich mir nie verzeihen, die Schuldgefühle würden nie verschwinden.
"Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie dir das antun. Ich wollte das nicht, bitte glaub mir das. Es tut mir-"
"Ich weiß. Du...du hattest keine Wa...Wahl." Er flüsterte, schien zu schwach, seine Lippen richtig bewegen zu können, sodass ich die meisten Worte erriet.
"Ich möchte, dass du weißt-"
"Ich weiß, Jamie. Ich weiß. Du hast alles...alles...richtig...gemacht." Die letzten Worte kosteten ihn sehr viel Kraft, ich gab es auf, seine Blutung zu stoppen, sondern nahm seine Hand in meine und drückte sie. Ich fühlte mich ein bisschen besser, da er mir nicht die Schuld gab. Er hatte mir verziehen, das sah ich an seinem Blick. Langsam wich die Kraft aus seinem Körper, sein Hand erschlaffte langsam in meiner, sein Atem setzte aus. Erst dachte ich, er wäre tot, aber dann hob sich seine Brust noch einmal zu einem kräftigen, letzten Atemzug. Sein Blick wurde starr, seine Hand hing schlaff in meiner. Ich legte sie ihm auf den Bauch und schloss seine Augen.
"Danke", flüsterte ich und schluckte.
Ohne auf meine Umgebung zu achten, stand ich auf. Verwirrt sah ich mich um, der Sand war so weit hochgewirbelt, dass ich die Beine der anderen kämpfenden Leute nicht ausmachen konnte. Ich hatte das gleiche Problem wie die Rebellen, ich wusste nicht, wer zu meinen Leuten gehörte. Die Soldaten, die mit mir hier gefangen gewesen waren, waren verschwunden. Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte. Diese Entscheidung wurde mir abgenommen, da plötzlich jemand hinter mir "Runter!" brüllte. Reflexartig ließ ich mich auf den Boden fallen, als auch schon ein Schuss ertönte. Ich hustete, da ich Sand in die Lunge bekommen hatte.
Genau über mir erklang ein weiterer Schuss und ich fuhr vor Schreck zusammen. Ein paar Meter von mir entfernt landete ein schwerer Körper mit einem plumpsenden Geräusch auf dem Boden.
"Warum kommt ihr erst jetzt?", war die erste Frage, die ich meinem Chef an den Kopf warf, während er sich zu mir auf den Boden gesellte, um sich im aufgewirbelten Sand vor den Rebellen zu schützen.
"Sei froh dass wir überhaupt gekommen sind", schnauzte er mich an und schob mir eine Pistole rüber. Ich nahm sie in die Hand und fühlte mich sofort sicherer. Jetzt war ich nicht mehr auf die Hilfe von fremden Leuten angewiesen. Nein, jetzt konnte ich mich selbst verteidigen.
Geschickt, wenn auch mit blutigen Händen lud ich die Waffe nach, es war wie Musik in meinen Ohren. Ich warf meinem Chef einen letzten, dankbaren Blick zu und stand diesmal vorsichtiger auf.
Jetzt würde ich den Idioten suchen, der mich ausgepeitscht hatte.
Mit der Waffe in meiner Hand, machte ich mich auf den Weg. Das Feld glich mehr einem Schlachtfeld, immer wieder blieb ich mit den Füßen an einem reglosen Körper hängen, ich konnte nicht erkennen, ob es ein Rebell oder Soldat war. Aber trotzdem ging ich weiter.
Vereinzelt wurde noch gekämpft, einige Rebellen hatten sich in eine Ecke einer Hauswand zurück gezogen. Und dort sah ich die Person, die sich suchte. Das Gesicht würde ich unter tausend anderen wiedererkennen. Genauso wie das Gesicht von Kaitlyn, die sich ihren blutenden Arm hielt und mit dem Rücken an die Hauswand presste.
Vielleicht war es unüberlegt, aber ich wollte es tun. Ich wollte mich an den zwei Personen rächen, die mir in den letzten Monaten das Leben zur Hölle gemacht hatten. Das von mir und meinen Kollegen, die so viele von uns kaltherzig umgebracht hatten, ohne mit der Wimper zu zucken.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.
Ich konnte mich an ihnen rächen.
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