8. Kapitel
Verwirrt sah ich die Nervensäge neben mir an. Ich sollte ihm mal das Leben gerettet haben? Wieso konnte ich mich nicht daran erinnern?
Auf dem Gesicht des anderen Soldaten oder was auch immer er in Wirklichkeit war, breitete sich ein Lächeln aus.
"Vielleicht erinnerst du dich nicht daran. Damals sah ich noch anders aus. Ich hatte keinen Bart und war auch deutlich kleiner und dünner." Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte mir den Kerl ohne Bart, deutlich kleiner und auch dünner vorzustellen. In meinem Gehirn arbeitete es, irgendwie hatte ich ein Bild von einem jugendlichen Typen im Kopf, welches ich aber keiner Umgebung oder Situation zuordnen konnte.
Nervensäge beugte sich zu mir rüber und fing so leise an zu sprechen, dass nur ich ihn hören konnte.
"Irgendwann saß ich mit ein paar Unterlagen meines Vaters im Garten. Ich sollte diese Unterlagen bis zum Abend durchgearbeitet haben, aber da ich tagsüber nichts gemacht hatte, bin ich spät am Abend noch raus gegangen, um den Rest zu erledigen. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich nicht gemerkt hatte, wie sich zwei Männer genähert haben. Eigentlich sollte ein Soldat in meiner Nähe sein, aber es war niemand da, als mich einer von ihnen vom Stuhl riss. Der Mann hatte mir die Hände auf dem Rücken verdreht, der andere hielt mir sein Messer an den Hals. Sie sagten, sie würden mich töten, als Zeichen der Rebellion. Als Zeichen dafür, dass das Volk nicht mit der Regierung einverstanden war. Als Zeichen dafür, dass sie den König stürzen wollten. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass das Volk so stark rebellierte. Dass sie dem König so nahe waren, sich in seiner Nähe aufhielten, ohne dass er es wusste.
Die Männer drohten mir, versprachen mir, mich am Leben zu lassen, wenn ich mich ihnen anschließen würde. Aber ich wollte nicht mit ihnen gehen. Die Männer schlugen mich und traten auf mich ein, bis ich auf dem Boden lag und nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen konnte. Dann riss mir einer das Oberteil vom Körper und setzte das Messer auf meine Brust. Er wollte mir damit etwas in die Haut ritzen. Den ersten Strich hatte er schon gemacht, als es in der Nähe laut knallte. Sein Kamerad fiel mir tot auf die Beine. Der Kerl mit dem Messer in der Hand zuckte zusammen und sah sich um. Er schien niemanden zu finden, also wollte er sein Werk auf meiner Brust beenden. Er setzte das Messer wieder an, doch dann riss ihn plötzlich jemand von mir weg. Der Soldat packte seine Hand und..."
"...erstach ihn mit seinem eigenen Messer", beendete ich den Satz für ihn.
Aus großen Augen sah ich ihn dann an.
"Was zum Teufel machst du hier?", stieß ich erschrocken hervor, aber er legte sich schnell einen Finger an die Lippen und sah sich hektisch um.
"Idee von deinem Chef."
"Meinem Chef? Der ist tot." Ich sah ihn noch verwirrter an. Ich hatte den blutüberströmten Körper meines Chefs auf dem Boden liegen gesehen, als die Rebellen mich und die anderen Soldaten entführt hatten. Ich hatte ihn für tot gehalten. War Chefchen etwa nur verletzt gewesen?
"Nein, der ist nicht tot. Der ist zäh. Weißt du doch." Er grinste mich wissend an und ich schüttelte völlig baff meinen Kopf. Das war für meine Kopfschmerzen nicht gut und ich fasste mir an den Kopf.
"Nicht mehr lange und er wird hier sein", versprach mir Lysander. Unsicher blinzelte ich ihn durch meine Finger hindurch an. Er wirkte so zuversichtlich. Gerade war er noch unruhig gewesen, weil die Rebellen nicht aufhörten, uns Soldaten mitzunehmen und zu töten. Wir schienen die Rollen getauscht zu haben, jetzt war ich nämlich nervös und verunsichert.
Ich betrachtete meine Nervensäge nun mit anderen Augen. Es war Lysander, verdammt nochmal. Lysander! Was machte er hier? Wieso hatte mein Chef ihn hier zu uns eingeschleust?
Mein Chef tat nie etwas ohne einen Hintergedanken. Was wollte er mit dieser Aktion erreichen? Dass Lysander selbst getötet wurde?
Mittlerweile konnte ich mich wieder gut an den Moment den er so ausführlich beschrieben hatte erinnern. Es war während meiner Ausbildung zum Soldaten gewesen. Ich hatte Feierabend und war ziellos durch die Umgebung gelaufen. Ich musste einfach mal frische Luft schnappen und die ganzen Idioten um mich herum vergessen.
Allerdings war ich zu lange weg gewesen, sodass ich mich durch den Hintereingang zurück in das Gebäude schleichen wollte. Ich durchquerte den Garten, als ich zwei Männer sah, die auf Lysander einschlugen. Schnell versteckte ich mich hinter einen Baum und versuchte das Szenario einzuschätzen. Von meiner Position aus erschoss ich den Mann, der sich irgendwann aufgerichtet hatte. Den anderen konnte ich nicht erschießen, die Gefahr war zu groß, dabei Lysander zu treffen. Also schlich ich mich näher an sie heran und brachte ihn anders um. Im Nachhinein fragte ich mich, wieso ich ihn getötet hatte. Es wäre schlauer gewesen, ihn gefangen zu nehmen und zu verhören. Aber ich war wie gesagt noch in meiner Ausbildung. Ich war noch unerfahren und war froh, Lysander gerettet zu haben.
Heute weiß ich, dass die zwei Männer Rebellen waren und Lysander getötet hätten, nachdem sie ihm ihre Nachricht an den König in die Brust geritzt hätten. Ich hatte ihm also wirklich das Leben gerettet.
"Raus hier!", schrie plötzlich ein Rebell und ich zuckte vor Schreck zusammen. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht gemerkt hatte, wie er die Zelle betreten hatte. Grob riss er mich am Arm hoch und schubste mich aus der Zelle. Lysander wurde von einem anderen Rebellen gepackt, genauso wie die anderen Soldaten. Missmutig ließ ich mich mitziehen, mir blieb leider nichts anderes übrig.
Jetzt wäre der perfekte Moment für den Auftritt von Chefchen...
Wir wurden nach draußen geführt. Der große Platz hatte einen sandigen Boden, mehr konnte ich nicht erkennen, da die Sonne mir in den Augen schmerzte. Wir wurden ordentlich in Reih und Glied aufgestellt. Als ich blinzelnd wieder etwas erkennen konnte, sah ich, dass sie Lysander neben mir platziert hatten. Diesmal versteckte er sein Gesicht nicht, sondern sah die Rebellen angriffslustig an. Jetzt wo ich wusste, wer er war, konnte ich sein Verhalten in der Zelle verstehen.
"Schön euch alle zu sehen!", begrüßte Kaitlyn uns und ich konnte ein Aufschnauben nicht unterdrücken. Lysander und auch die Rebellen warfen mir einen strafenden Blick zu, unternahmen aber sonst nichts.
"Um es für euch spannender zu machen, haben wir uns überlegt, dass ihr bei der Hinrichtung eurer Kameraden zusehen dürft. Wir werden den Zufall entscheiden lassen, wen wir heute töten." Kaitlyn schien völlig begeistert von ihrer Idee, ihre Augen strahlten und sie klatschte sogar motiviert in die Hände. Der Wind fuhr ihr durch die langen brauen Haare. Wenn sie nicht gerade die Absicht gehabt hätte, jemanden von uns zu töten, hätte es fast schön ausgesehen.
Die Soldaten um mich herum wurden unruhig, sie bewegten sich leicht und traten von einem Fuß auf den anderen. Eine Flucht wäre sinnlos, da der ganze Platz von bewaffneten Rebellen bewacht wurde. Ich schluckte und schloss meine Augen. Wie würde sie den Zufall entscheiden lassen wollen?
"Nenn mir eine Zahl zwischen 1 und 20", hörte ich die Stimme von Kaitlyn über den Platz schallern und öffnete meine Augen wieder. Sie war zu einem beliebigen Soldaten getreten, der relativ mittig stand. Der Soldat weigerte sich erst, aber als der Lauf ihrer Pistole auf seinen Kopf zeigte, antwortete er schnell.
"12." Nickend ließ Kaitlyn die Pistole wieder sinken. Sie stellte sich an ein Ende der Reihe und fing an, die Soldaten laut durchzuzählen. Je weiter sie zählte, desto näher kam sie mir. Mein Herz fing an, wild in meiner Brust zu schlagen. Ich versuchte, ruhig zu atmen und mich zu beruhigen. Vor dem Gespräch mit Lysander hätte ich mich gefreut, derjenige zu sein, der schmerzlos erschossen werden würde. Aber Lysander hatte mir Hoffnung gemacht. Er hatte mir Hoffnung gemacht, dass mein Chef kommen würde. Dass er mit anderen Soldaten kommen würde, um ums zu befreien. Wo blieb er? Wieso kam er nicht jetzt?
"8-9-10-" Die Stimme von Kaitlyn wurde immer lauter und ich öffnete meine Augen. Sie zeigte mit einem Finger auf mich.
"11." Ich wollte gerade erleichtert aufatmen, als sie vor Lysander stehen blieb.
"12", sagte sie gefühlskalt und winkte einen anderen Rebellen heran. Jetzt war auch Lysanders innere Ruhe verschwunden und er sah mich panisch an. Aber dieses Mal konnte ich ihm nicht helfen. Das machte mich traurig und ich sah Tränen in seinen Augen glänzen.
Er wurde grob von einem Rebellen gepackt und nach vorne gezerrt, sodass alle ihn sehen konnten. Er stand mittig auf dem Platz, ein weiterer Rebell hielt seine Pistole an Lysanders Kopf.
Der Moment erinnerte sehr an den vor ein paar Jahren. Als ich es war, der ihm das Leben gerettet hatte. Ich war es gewesen, der ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte.
Doch jetzt konnte ich nur hilflos zusehen, wie die Pistole entsichert wurde. Das Klacken hallte auf dem Platz von den Mauern der Gebäude wieder und fuhr mir durch Mark und Bein. Ich zuckte leicht zusammen. Lysander sah mir in die Augen, ich konnte den Blick nicht abwenden. Meine Atmung stockte, genau wie seine.
Hatte ich ihm wirklich das Leben gerettet, um jetzt bei seiner Hinrichtung zusehen zu müssen?
Hatten die Rebellen endlich ihr Ziel erreicht?
Endlich konnten sie ein Zeichen setzen, was den König erreichen würde.
Denn Lysander war sein Sohn.
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