27. Kapitel
Meine Gedanken überschlugen sich.
Sie verlangten von mir, mich gegen den König zu stellen. Mich gegen den Mann zu stellen, dem ich verpflichtet war zu dienen. Ich hatte einen Schwur geleistet, sein Leben immer über mein eigenes zu stellen.
Genau das hatte ich auch immer getan. Aber konnte ich es dieses Mal erneut schaffen? Ich bin hart im Nehmen. Mich bekommt niemand schnell klein. Ich kämpfe für die Dinge, die mir aufgetragen werden. Oder die mir persönlich etwas bedeuten.
Aber am Ende bin ich nur ein Mensch. Jemand mit Gefühlen, jemand der Schmerzen empfindet und der irgendwann an seinem eigenen, persönlichen Ende angekommen war. Und dieser Moment war jetzt gekommen, das spürte ich.
Jetzt war der Moment, in dem ich meinen Beruf und meine Verpflichtung aufgeben würde. In dem ich aus egoistischen Gründen andere Menschen in Gefahr bringen würde. Und das alles nur, damit ich weiter leben konnte. Damit ich nicht nochmal den Lappen auf das Gesicht gelegt bekommen würde.
Ich war schwach. Ich müsste es aushalten können. Ich müsste mich mit dem Gedanken anfreunden, hier auf dem Stuhl zu sterben. Für den König. So wie ich es geschworen hatte.
Aber ich zitterte. Ich hatte Zweifel. Schließlich war ich selbst nicht mit allem einverstanden, was der König tat. Aber wenn ich den Rebellen jetzt seinen Aufenthaltsort verriet, würde nicht nur der König sterben. Es würden seine Frau und sein Sohn Lysander mit in den Tod gerissen werden. Damit die Rebellen die Macht über das Land an sich reißen konnten und das Land weiter abstürzen würde.
Ich musste einfach standhaft bleiben. Ich durfte es ihnen nicht verraten, auch wenn ich mir noch so sehr wünschte, dass die Folter ein Ende finden würde.
Der Griff um mein Kinn wurde fester. "Sag es uns!", knurrte der Kerl drohend, aber ich hielt meinen Mund geschlossen.
Ich war innerlich zerrissen. Überfordert mit der ganzen Situation. Verzweifelt und ich fühlte mich mit allem alleine gelassen. Warum musste ausgerechnet ich so eine Entscheidung treffen? Warum rutschte immer ich in so etwas rein? Das war einfach unfair.
"Du willst es wohl nicht anders", schnaubte er und ließ mein Kinn los. Ich hörte, wie das Wasser wieder aufgedreht wurde.
Mein eigener Schrei wurde mit dem durchtränkten Lappen erstickt. Unerbitterlich lief das Wasser über mein Gesicht, der Lappen sog sich weiter voll und ich erstickte langsam aber sicher.
Es fühlte sich so an, als wäre ich ein paar Meter unter dem Wasser gefangen. Alles in mir sehnte sich danach, nach oben zu schwimmen, an die rettende Wasseroberfläche. Aber egal wie sehr ich mich anstrengte, wie sehr ich es mir wünschte, ich kam nicht von der Stelle. Ich war unter dem Wasser gefangen. Dazu gezwungen, zu ertrinken.
Am Ende starb eigentlich jeder Mensch auf diese Weise. Jeder ertrank auf seine eigene Art und Weise. Irgendwann war der Körper nicht mehr in der Lage, die Nährstoffe die er durch die eingeatmete Luft zu sich nahm, zu verarbeiten und durch das Blut zu den Organen zu verteilen. Es lagerte sich stattdessen überall Wasser ein. Auch in den Lungenbläschen, dessen Aufgabe die Aufnahme von Sauerstoff war, damit dieser über die Kapillaren im Körper verteilt werden konnte. Aber wenn die Lungenbläschen keinen Sauerstoff mehr aufnahmen, konnte auch nichts mehr verteilt werden. Die Organe und der Organismus bekamen keinen lebensnotwendigen Sauerstoff mehr, auch wenn der Mensch noch einatmete. Man erstickte innerlich, während man atmete. Jeder einzelne von uns. Das war es, wovor die Menschen Angst hatten.
Nicht vor dem Tod an sich. Sondern vor dem Sterben.
Aber niemand würde es schaffen, dem Tod zu entrinnen. Irgendwann starb jeder, das war die einzige Sicherheit im Leben, die jeder Mensch hatte. Er würde sterben. Vielleicht erst in dreißig Jahren, aber vielleicht auch schon morgen oder in den nächsten Minuten. Es konnte immer passieren, davor konnte sich niemand retten, egal wie viel Geld er auf dem Konto hatte. Am Ende würde er sterben und die gleichen Qualen durchlaufen, wie der arme Bettler auf der Straße. Am Ende unterschieden uns nur die Erinnerungen, die uns durch den Kopf gingen. Die uns noch einmal vorführten, was für ein Leben wir gelebt hatten. Ob wir viele Fehler gemacht hatten. Ob wir geliebt hatten und geliebt wurden. Wer einen vermissen würde und wen man einsam zurück lassen würde.
Genau diese Gedanken schossen mir durch den Kopf. Sie wechselten sich in Sekundenschnelle ab, jedoch fühlte sich jeder einzelne Gedanke und jede einzelne Erinnerung für mich wie eine Ewigkeit an. Ich durchlebte die Dinge noch einmal neu. Aber ich konnte keine einzige Erinnerung festhalten. Sie glitten mir durch die Finger, wie die restliche Zeit die mir noch blieb.
Mittlerweile nahm ich den Druck des Lappens nicht mehr wahr. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an, meine Gedanken wurden zusammenhanglos. Aber ich klammerte mich an ihnen fest, sie waren das Einzige, was mir noch blieb.
Plötzlich war der Druck wieder weg. Mein Brustkorb explodierte vor Schmerz, als sich meine Lungen weiteten und die längst überfällige, frische Luft aufnahmen. Über die Kapillargefäße gelangte der Sauerstoff in mein Blut und wurde zu den Organen transportiert, die ihn dringend brauchten. Ich merkte, wie mein Gehirn wieder anfing zu arbeiten. Die verworrenen Gedanken verschwanden, auch wenn mein Körper gerade hauptsächlich nur damit beschäftigt war, sich zu erholen. Ich nahm wieder wirklich wahr, wo ich mich befand. Spürte den harten Stuhl unter mir, meine aufgeschürften, brennenden Handgelenke. Das mittlerweile nasse Tuch, was sie mir um die Augen gebunden hatten.
Und ich wusste, dass ich jetzt wirklich keine Wahl mehr hatte. Jetzt musste ich eine Entscheidung treffen. Leben oder Sterben. Verraten oder standhaft bleiben. Meinen Schwur brechen oder das Leben der Königsfamilie retten.
Aber jetzt wusste ich, was ich tun würde. Die Antwort lag deutlich vor mir. Ich hatte gar keine andere Wahl mehr, ich musste es tun. Ich musste es riskieren.
"Wo ist der König?", zischte der Kerl nah an meinem Ohr.
Unwirrkürlich versteifte ich mich. Meine Muskeln spannten sich vor Erschöpfung zitternd an, mir lief der Schweiß über die Stirn, vermischte sich mit dem Wasser und tropfte von meinem Kinn.
"Wo?!" schrie er mich am Ende seiner Geduld an und schlug mir mit der Faust kräftig ins Gesicht. Ich hörte ein leichtes Knacken, dann lief warmes Blut aus meiner Nase. Erst danach spürte ich den Schmerz. Aber der Schmerz in meiner Lunge war schlimmer. Er erinnerte mich an das schreckliche Gefühl zu ersticken.
Langsam öffnete ich die Lippen, um etwas zu sagen. Aber anstatt einem Satz, kam nur ein Stöhnen aus meiner Kehle. Nicht wirklich das was ich wollte. Ich räusperte mich und rechnete in jeder Sekunde damit, wieder geschlagen zu werden. Aber der nächste Schlag blieb aus. Ich schaffte es, meine Stimme wieder zu finden.
"Er... Er ist in... Liberandum." Ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. Und ich war über mich selbst erschrocken. Ich hatte es wirklich getan. Ich hatte den König verraten. Liberandum. Lateinisch für Rettung. Das fand die Königsfamilie passend für ihren Rückzugsort, der nun ihr Grab werden würde.
Weil ich schwach geworden war. Weil ich nicht hier sterben wollte, sondern weiter leben wollte.
Ich hoffte, dass sie mich nicht umbringen würden, nachdem ich ihnen die Information gegeben hatte. Schließlich würde ich sie nie wieder erkennen, ich kannte ihre Gesichter nicht. Sie könnten mir später über den Weg laufen und ich würde es nicht bemerken. Vielleicht würde ich seine Stimme erkennen. Der zweite Kerl hatte die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt. Aber diese eine Stimme würde ich immer erkennen. Unter tausenden anderen heraushören. Sie hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt.
"Ist das die Wahrheit?", hakte die Stimme selbst leicht verwundert darüber, überhaupt eine Antwort bekommen zu haben, nach. Ich war zu geschwächt, um erneut reden zu können. Deswegen nickte ich abgehackt.
Auf einmal spürte ich wieder seine kalten Finger an meinem Kinn. Sie drückten zu und ich biss fest den Kiefer zusammen.
"Wenn du uns anlügst...wirst du es bereuen. Wir werden dich immer finden. Und deine Freundin und das Mädchen auch", drohte er mir mit eiskalter Stimme. Ich zweifelte in keinem einzigen Moment an diesen Worten.
Sie hatten mich dieses Mal gefunden, obwohl ich eigentlich von der Bildfläche verschwunden war. Wegen meiner Verletzung war ich nicht im Dienst und hatte auch keinen großen Kontakt zur Außenwelt. Und trotzdem schafften sie es, mich zu entführen.
Erst langsam wurde mir bewusst, dass er von einem kleinen Mädchen gesprochen hatte. Lebte Lizzy also noch?
Hoffnung machte sich in mir breit. Dann hätte sich diese ganze Folter wenigstens gelohnt. Dann hatte ich die Königsfamilie nicht umsonst verraten, sondern wenigstens das Leben von Lizzy nicht auch noch auf dem Gewissen.
"Vergiss das nie", fügte der Kerl hinzu. Dann schnitt er meine Fesseln durch. Bevor ich irgendwie reagieren konnte, hörte ich wie die Schritte sich entfernten.
Einen Moment später saß ich alleine auf dem Stuhl. Die Belastung fiel von mir ab, ich riss mir die Augenbinde von den Augen. Das grelle Licht blendete mich, dann erkannte ich, dass ich in einer riesigen alten Industriehalle saß. Der Boden bestand aus einfachem Beton, an der Decke konnte ich die alten Stahlträger erkennen.
Dann verschwamm alles vor meinen Augen und ich brach in Tränen aus. Tränen der Erleichterung, endlich alleine zu sein. Und Tränen der Verzweiflung, weil ich einen riesigen Fehler begangen hatte.
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