20. Kapitel
Kaitlyn stand vor mir. In einem weißen, wallenden Kleid. Ihre braunen Haare fielen ihr lockig über die Schultern. Sie stand mitten in der Wüste, ein leichter Wind fuhr ihr durch die langen, braunen Locken. Vor ihr stand ein Mädchen mit blonden Haaren. Lizzy.
In einem Schneckentempo bewegte ich mich auf die beiden zu. Meine Füße versanken im Sand, ich trug keine Schuhe. Meine Fußsohlen brannten unangenehm, so heiß war der Sand. Ich kam den beiden immer näher. Irgendwann sah ich, dass Kaitlyn ein Messer in der Hand hielt. Sie legte es mit einer Seelenruhe an Lizzys Hals. Kalt lächelte sie mich an, aber ich lief weiter auf sie zu. Sie fing an, langsam zuzudrücken. Lizzys Augen weiteten sich panisch, der Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Mit jedem Schritt, den ich weiter auf sie zu ging, schnitt sie Lizzy tiefer in die Haut. Blieb ich stehen, hielt sie das Messer still. Ich schluckte. Ich musste Lizzy befreien. Sie vor Kaitlyn beschützen. Also lief ich weiter. Kaitlyn drückte das Messer wieder tiefer in Lizzys Hals. Blut quoll aus dem Schnitt. Mit jedem Schritt den ich in ihre Richtung ging, wurde es mehr Blut. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Verstand sagte mir, dass ich stehen bleiben musste, um sie zu retten. Aber mein Herz war anderer Meinung. Es zerriss mich innerlich, sie so leiden zu sehen. Nichts dagegen machen zu können. Ich musste weiter gehen.
Kurz bevor ich sie erreichte, ließ Kaitlyn Lizzy los. Sie fiel leblos vor ihr in den Sand.
"Es ist deine Schuld", sagte Kaitlyn und putzte das Messer an ihrem Kleid sauber. Meine Knie trugen mein Gewicht nicht mehr. Aber bevor ich auf dem Boden landen konnte, fing Kaitlyn mich auf. Ihr Griff war hart, ihre Finger bohrten sich in meine Haut. Sie stieß mich nach hinten, ich prallte mit dem Rücken gegen eine Palme. Bevor ich drüber nachdenken konnte, wo die her kam, hielt sie jetzt mir das Messer an den Hals. "Wie fühlt es sich an, für ihren Tod verantwortlich zu sein?", fragt sie mit kalter Stimme und starrte mir in die Augen. "Du hättest uns damals nur zu helfen müssen. Mir helfen müssen. Dann wäre das alles nicht passiert. Es ist alles deine Schuld, verstehst du das? Nur weil du so stur warst, weil du nicht einsehen wolltest, dass wir etwas gutes wollen. Diese ganzen Anschläge hätten nie passieren müssen. Familien wären nicht auseinander gerissen worden. Nur, wenn du uns geholfen hättest." Jedes Wort was sie sprach, war ein Schlag in mein Gesicht. Die Schläge taten weh, machten mich wahnsinnig. Sie trieben mir Tränen in die Augen. Kaitlyn lachte. "Jetzt ist es zu spät Jamie. Du hättest eher denken sollen, eher handeln sollen. Nicht so egoistisch sein müssen. Dann hättest du viele Menschenleben retten können. Aber so..." Sie zuckte mit den Schultern und musterte mich. Mit meinen Fingern krallte ich mich in die harte Rinde der Palme und erwiderte ihren Blick hasserfüllt.
"Los, tu es. Schneide mir die Kehle durch. Das ist es doch, was du willst, oder?", fragte ich mit kratziger Stimme, aber sie zog nur amüsiert ihre Augenbrauen hoch.
"Nein, das will ich nicht. Dann würdest du nicht weiter leiden können. Nicht über die Konsequenzen deines Handelns nachdenken können. Ich töte dich nicht." Sie trat einen Schritt zurück und ich atmete erleichtert auf. Aber sie ging nicht, sie blieb direkt vor mir stehen. Mein Herz schlug mir wieder bis zum Hals.
"Ich werde es dir nicht leicht machen, Jamie. So einfach kommst du nicht mehr davon", drohte sie mir und grinste mich wieder an. Wie ich dieses Grinsen mittlerweile doch hasste...
Mit einer schnellen, fließenden Bewegung bückte sie sich und holte mit dem Messer aus. Bevor ich verstehen konnte, was sie da tat, spürte ich einen unglaublichen Schmerz in meinem Bein. Ich kippte zur Seite und landete im Sand. Schnell kniff ich meine Augen zu, um keinen Sand hinein zu bekommen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich in Lizzys große, leblose Augen. In weiter Ferne hörte ich Kaitlyns Lachen. Dann erschien sie wieder in meinem Blickfeld.
"Vermisst du nicht was?", fragte sie und hielt etwas hinter ihrem Rücken versteckt. Ich sah hilflos zu ihr hoch. "Vergiss eins nicht, Jamie: Es ist deine Schuld. Und es wird immer deine Schuld bleiben. Jeder weitere Anschlag ist deine Schuld. Du hättest ihn verhindern können", redete sie mir weiter ins Gewissen. Ich fühlte mich grausam, wünschte mir, sie hätte mich einfach getötet. Sie ließ das blutige Messer vor meiner Nase in den Sand fallen. Er färbte sich langsam rot. Es war mein Blut. Ich würgte und sah zu ihr hoch. Sofort bereute ich es. Sie hielt mir etwas hin. Etwas blutiges. Bei genauerem Hinsehen, konnte ich erkennen, was es war. Ich erbrach meinen Mageninhalt direkt neben mir.
Sie hatte mir meinen Fuß abgehackt.
Schweißgebadet wachte ich auf. An meinem rechten Ohr piepte etwas, viel zu schnell. Dieses Geräusch nervte, verschlimmerte meine Kopfschmerzen innerhalb von Sekunden. Mein Kopf pochte, als ich meine Augen kurz öffnete. Also schloss ich sie direkt wieder. Das Licht blendete mich und verschlimmerte den Schmerz in meinem Kopf nur.
Nur langsam wurde mir bewusst, dass es ein Traum gewesen war. Nur ein Traum. Mein Puls beruhigte sich langsam, das Piepen verlangsamte sich ebenfalls. Eine Wohltat für meinen Kopf.
Siedend heiß fiel mir ein, dass mir der Fuß abgehackt wurde. Sofort wurde das Piepen wieder schneller und ich kniff meine Augen schmerzverzerrt fester zusammen.
Ich spürte in mich hinein, ob ich noch beide Füße besaß. Erleichterung durchfuhr meinen Körper, als ich sie beide spürte. Dann fiel mir etwas ein. Bei einem Einsatz hatte ein Kollege seinen Arm verloren. Noch Wochen später, hatte er Phantomschmerzen in seinem Arm gehabt, den es gar nicht mehr gab. Das verunsicherte mich sofort. Bildete ich mir nur ein, dass ich noch meine Füße besaß? Hatten sie mir den verletzten wirklich amputiert? Nicht abgehackt und vor meiner Nase damit herum gewedelt wie in meinem Traum, aber dennoch abgenommen?
Ich riss meine Augen wieder auf und stöhnte vor Schmerz auf. Es war wirklich unerträglich hell und ich musste ein paar Mal blinzeln, bis ich meine Umgebung erkennen konnte. An der Decke hing eine Lampe, die mich blendete. Alles sah weiß aus, die Türen, das Fenster, selbst die Wände und meine Bettdecke. Langsam dämmerte mir, dass es nicht nur weiß aussah, sondern alles weiß war. Vorsichtig sah ich an mir herunter. In meinem Arm steckte ein Zugang. Ich verfolgte das lange Kabel mit den Augen und landete bei einem Infusionsbeutel. Ein kleiner hing daneben, vermutlich irgendwelche Medikamente, so genau kannte ich mich damit nicht aus. An meinem Zeigefinger hatte ich eine Klammer, die meinen Pulsschlag auf ein Gerät rechts neben mir weiter sendete. Das erklärte das nervige Piepen. Von dem Gerät verliefen weitere Kabel zu meinem Oberkörper, die anscheinend noch irgendwas anderes maßen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ließ meinen Blick langsam zu meinen Füßen wandern. Viel konnte ich nicht sehen, da die Bettdecke auf mir lag. Aber ich sah zwei kleine Erhöhungen an der Stelle, wo sich meine Füße befinden müssten. Das erleichterte mich. Es war also wirklich nur ein Traum gewesen.
Langsam sah ich mich um. Ich befand mich in einem Krankenhaus. Links in der Ecke stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Ein angefangenes Puzzle lag darauf. Ich runzelte meine Stirn. War es von Lizzy? War sie hier gewesen? Und wenn ja, wo war sie jetzt? Ich war alleine in dem Zimmer und versuchte mich krampfhaft an das zu erinnern, was nach der Explosion passiert war. Ich war mit Lizzy aus der Straße mit den Trümmerteilen und den verkohlten und zerfetzten Menschenresten geflohen. Dann kamen die Hilfskräfte. Und ab da herrschte Dunkelheit in meinem Kopf. Ich biss die Zähne zusammen.
Irgendwas musste doch passiert sein...
Mir fiel Lizzys panischer Blick ein. Ich meinte, ihre Hand in meiner zu spüren. Wie meine Hand immer schlaffer wurde. Ruckartig setzte ich mich auf. Das Piepen beschleunigte sich, der Schreiber von meinem Herzrythmus neben mir stolperte kurz, als mich der Schmerz kurzzeitig lähmte. Um mich herum drehte sich alles. War ich wirklich in einem Krankenhaus? Oder war ich wieder entführt worden? Von den Rebellen zum Beispiel?
In dem Krankenwagen hatte ich eine Spritze bekommen. Angeblich soll es ein Schmerzmittel gewesen sein, aber ich hatte sofort das Bewusstsein verloren. Das war nicht normal gewesen. Immerhin bin ich wieder wach geworden.
Ich sah mich noch einmal genauer um. Aus dem Fenster konnte ich nicht blicken, da eine Jalousie von innen die Sicht versperrte. Weiter kam ich mit meiner Betrachtung nicht, da die Tür aufgerissen wurde. Eine Frau eilte mit großen Augen auf mich zu und drückte mich sanft zurück auf das Kopfkissen.
"Bleiben Sie liegen, Sie dürfen noch nicht sitzen", sagte sie mit einer beruhigend sanften Stimme und musterte den Monitor neben mir. Die Linien und Kurven schienen sie wieder zufrieden zu stellen. Sie ging zu meinem Fußende und holte meine Krankenakte hervor, die wohl an dem Fußteil des Bettes hing. Sie schlug sie auf, verstellte langsam das obere Ende von meinem Bett, sodass ich mich ein bisschen aufrichtete und nicht mehr die Decke anstarrte und schrieb dann etwas in die Akte hinein.
"Wie geht es Ihnen?", fragte sie und sah mich aufmerksam an. Verblüfft über diese Frage starrte ich sie nur an.
"Wo bin ich?", stellte ich fast tonlos eine Gegenfrage und räusperte mich erstmal. Dadurch schien sich der Kloß in meinem Hals allerdings nur zu verschlimmern, es fühlte sich an, als ob ich keine Luft mehr bekommen würde. Das Piepen beschleunigte sich wieder, die Frau ließ die Akte fallen, goss ein Glas Wasser ein und hielt es mir an die aufgesprungenen Lippen. Stockend trank ich etwas von dem Wasser, das meiste lief seitlich an meinen Mundwinkeln entlang, aber das bisschen, was wirklich meinen Hals erreichte, löste den Kloß. Das Piepen fand seinen normalen Takt und ich ließ mich entspannter zurück ins Kissen sinken.
"Sie sind im Krankenhaus", erklärte sie mit ruhiger Stimme und nannte den Namen irgendeiner Stadt, den ich noch nie gehört hatte. "Die Ärzte haben sich um ihr Bein gekümmert. Es war wirklich in einem schlimmen Zustand, aber sie haben getan, was sie konnten", erzählte sie weiter und ich atmete erleichtert aus. Ich besaß noch beide Beine. Noch nie in meinem Leben war ich so Dankbar gewesen wie in diesem Moment. Zufrieden sah ich hinunter zu meinen Füßen. Dabei fiel mein Blick auf das angefangene Puzzle. Die Krankenschwester bemerkte meinen verwunderten Blick. "Das ist von ihrer Tochter. Die ist gerade mit ihrem Vorgesetzten etwas in der Kantine essen."
"Meine...meine Tochter?", wiederholte ich perplex und sie runzelte ihre Stirn.
"Ja, ihre Tochter. Lizzy. Erinnern sie sich nicht an sie?" Sie bückte sich, hob meine Akte wieder auf, und sah hektisch darin nach, fand aber anscheinend nichts, was auf einen Gedächtnisverlust hindeutete.
"Doch doch, ich erinnere mich", antwortete ich schnell. Sie nickte zufrieden und schlug hinten die Bettdecke weg, bevor ich darüber nachdenken konnte, wie ich zu einer Tochter gekommen war. Erst jetzt sah ich, dass mein verletzter Fuß, oder vielmehr das Schienbein verbunden war. Aber er war noch dran.
"Können Sie bitte mal ihre Füße bewegen?", bat sie mich und musterte meine Füße. Die Bitte überrumpelte mich und ich fand sie äußerst komisch, wackelte aber gehorsam mit den Füßen.
Das Piepen überschlug sich kurz und auch mein Herz setzte wieder einen Schlag aus. Die Krankenschwester sah alarmiert zu mir hoch, der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben. Krampfhaft versuchte ich nochmal mit den Füßen zu wackeln. Der unverletzte bewegte sich auch hervorragend. Nur der andere blieb ohne jede Regung.
Egal wie sehr ich mich anstrengte.
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