19. Kapitel
Langsam fiel mir wieder ein, wie ich als Soldat richtig reagiert hätte. In meinem Kopf herrschte Chaos, ich dachte hauptsächlich an mein schmerzendes Bein. Dieser unangenehme, pochende Schmerz breitete sich langsam aus. Ich konnte meinen Fuß nicht mehr spüren, er war taub. Vermutlich kein gutes Zeichen, aber ich konnte auch nichts dagegen machen.
Vielleicht war ich nicht der einzige Verletzte hier. Als Soldat hätte ich nachgucken müssen, ob ich irgendwem helfen könnte. Aber stattdessen hatte ich gar nicht auf meine Mitmenschen geachtet, ich wollte nur mit Lizzy aus dieser schrecklichen Straße heraus kommen. Also hatte ich mich genau genommen um jemanden gekümmert. Oder?
Ich schüttelte meinen Kopf. In dieser Situation sollte ich eher über andere Dinge nachdenken. Was ich mit Lizzy machen sollte, zum Beispiel. Ich hielt sie immer noch im Arm, langsam hörte sie auf zu weinen, krallte sich mit ihren Fingern aber weiterhin an mir fest. Daraus schloss ich, dass sie einfach aus Erschöpfung mit dem Weinen aufhörte. Langsam setzte sie sich auf, stütze sich mit ihren Händen auf meinen Schultern ab, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein und mir in die Augen schauen zu können. Genauso hatte sie schon einmal auf mir gesessen. Aber das letzte mal war sie fröhlich gewesen, Grace war in der Nähe gewesen. Jetzt war von Grace nicht mehr sonderlich viel übrig und Lizzy hatte rot geweinte und verquollene Augen. Sie war blass, ihre Lippen zitterten immer noch und auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Staub bedeckte ihr blondes Haar. So sollte ein kleines Mädchen nicht aussehen.
"Wo ist Mami?", fragte sie mich mit dünner Stimme. Mir rutschte das Herz in die Hose. Insgeheim hatte ich ich mich vor dieser Frage gefürchtet. Ich wusste nicht, was Grace ihr erzählt hatte, wo ihr Vater nach seinem Tod war. Ich wusste auch nicht, an was Lizzy glaubte. Aber ich wusste, dass ich ihr nicht meinen eigenen Glauben aufzwingen durfte. Dennoch musste ich ihr irgendwas antworten.
"Sie...sie ist jetzt bei deinem Papa", sagte ich leise. Ich erkannte meine Stimme nicht wieder, sie hörte sich so seltsam kratzig an, dass ich hustete. Vor Schmerz verzog ich das Gesicht und sah geradewegs in Lizzys panische Augen. Hart schluckte ich. Mein Bein kribbelte mittlerweile, als ob es eingeschlafen wäre. Und das war es auch, es war absolut taub, ich konnte es nicht mehr bewegen. Eine leichte Panik wallte in mir auf. Dann fiel mir ein, dass Lizzy ja auf mir saß. Vielleicht kam das taube Gefühl daher, weil sie das Blut abklemmte, das sonst durch meine Adern fließen würde. Langsam dämmerte mir, wie warm der provisorische Verband war, den ich mir um die verletzte Stelle gebunden hatte. Genug Blut floss also noch. Nur leider nach draußen und nicht runter in den Fuß, wo es hin sollte.
Ich konzentrierte mich wieder auf Lizzy, die nicht so ganz zufrieden mit meiner Antwort war, wie ich insgeheim gehofft hatte.
"Und wo sind sie?", hakte sie nach und ich schluckte noch einmal. Ja, das war eine gute Frage. Wo waren sie? Gab es sie noch? Was passierte nach dem Tod? Waren sie auf irgendeine Art und Weise tatsächlich wieder vereint? Oder waren das nur Hirngespinste von verzweifelten Menschen, die sich wünschten, dass es den Toten nach ihrem Leid gut gehen würde? Dass sich ihre Qualen irgendwie gelohnt hatten, weil es danach besser wäre? Ich wusste es nicht.
"Sie sind..." Ich stockte und überlegte fieberhaft, was ich sagen könnte. "Sie sind nie ganz weg, weißt du? Ein Teil von ihnen bleibt hier, bei dir. Wenn du deine Augen schließt, wirst du sie immer sehen können." Sie sah mich mit großen Augen an, hatte aufgehört zu Atmen. Das verunsicherte mich. War das ein gutes oder eher schlechtes Zeichen? "Sie werden auch immer auf dich aufpassen", fügte ich hinzu und sie nickte leicht.
"Sind sie wirklich wieder zusammen?", fragte sie mich neugierig und ich biss mir auf die Lippe. Dann strich ich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Ja, sie sind wieder zusammen. Daran glaube ich", antwortete ich ihr ehrlich.
In meiner Brust breitete sich ein dumpfes Gefühl aus. Sie waren beide weg, sie würden nie wieder kommen und Lizzy würde alleine aufwachsen müssen. Sie hatte niemanden mehr. Sie war eine Waise. Durch die Rebellen zu einer Waisen gemacht worden. Und sie war noch so jung, sie wusste nicht, was es für ihre Zukunft bedeutete. Sie würde es schwer haben, später einen Job zu finden. Schließlich konnte sie nicht in den Betrieben ihrer Eltern arbeiten. Weil die gab es ja nicht mehr. Sie hatte niemanden mehr, mit dem sie reden konnte, wenn sie ein Problem hat. Wenn sie geärgert wurde oder einfach mal nicht weiter wusste.
Ich wünschte mir wirklich für sie, dass es stimmte, was ich ihr erzählt hatte. Das Grace und Mike nicht ganz weg waren, sondern ein Teil von ihnen bei ihrer Tochter bleiben würde. Dass sie auf ihre Art auf sie aufpassen würden. Vielleicht gab es so etwas wie Schicksal wirklich.
Auch wenn ich durch meine Arbeit schon lange den Glauben daran verloren hatte.
"Sind sie glücklich?" Lizzys Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah sie mit Tränen in den Augen an. In weiter Ferne hörte ich eine Sirene, wollte aber nicht daran denken, was es bedeutete.
"Ja, sind sie", versuchte ich stattdessen Lizzy Mut zu zusprechen. Leider antwortete ich genau das Falsche, da Lizzy mich völlig verzweifelt ansah.
"Aber sie können nicht glücklich sein!", sagte sie mit Nachdruck und ich runzelte meine Stirn. Sie seufzte zitternd. "Schließlich bin ich nicht bei ihnen!", ergänzte sie ernst und unschuldig.
In mir legte sich ein Schalter um. Ich hatte mir vorgenommen, nicht vor ihr zu weinen, aber es ging einfach nicht mehr. Vor ihren Augen brach ich in Tränen aus. Sofort schämte ich mich dafür und schlug mir eine Hand vor das Gesicht. Sie sollte mich nicht weinen sehen verdammt nochmal. Aber diese nüchterne Feststellung von ihr konnte ich nicht einfach so wegstecken. Diese kindliche Unschuld zeigte mir wieder, wie anders sie die Welt und was um sie herum passierte, wahrnahm. Und sie sah zu mir auf, hoffte, dass ich ihr Antworten auf ihre Fragen geben könnte. Und jetzt saß ausgerechnet ich hier und weinte. Das konnte sie wirklich nicht gebrauchen.
Neben mir bremste quietschend ein Auto, die Sirene wurde abgestellt. Ich linste durch meine Finger hindurch und sah zwei Sanitäter aus dem Auto springen. Weitere Autos mit Hilfskräften hielten in der Nähe, es sprangen sogar Soldaten heraus und selbst die Presse kam an. Es brach völliges Chaos aus, aber ich blieb unbeteiligt mit Lizzy sitzen. Es kam mir vor, als ob ich das alles nur durch eine Glasscheibe wahrnehmen würde. Ich atmete tief durch und unterdrückte das nächste Schluchzen.
"Was passiert hier?", rief Lizzy erschrocken und rüttelte an meinem Arm. Bevor ich ihr antworten konnte, wurde sie von mir weggerissen. Sie schrie auf und wehrte sich gegen den Griff des Mannes, der sie festhielt. Einer der Sanitäter beugte sich über mich und musterte mein Bein. Er fasste es an und drückte leicht zu. Ich stöhnte vor Schmerz auf und Lizzy fing wieder an zu weinen. "Warum tun sie dir weh?", schluchzte sie mit gebrochener Stimme, während der Sanitäter mir erstaunt ins Gesicht sah.
"Sie haben tatsächlich noch ein bisschen Gefühl in diesem zerschmetterten Bein. Vielleicht müssen wir es nicht abnehmen, wenn wir schnell handeln", versicherte er mir und hielt mir eine Hand hin. Ich musste das was er gesagt hatte, erstmal kurz verarbeiten. Daran, dass mein Bein amputiert werden müsste, hatte ich noch gar nicht gedacht. Mindestens der Fuß war zu lange nicht mit Blut versorgt worden. Vermutlich war es besser, dass ich daran nicht gedacht hatte...
Ich hielt mich an der Hand des Sanitäters fest und er zog mich hoch. Reflexartig belastete ich beide Beine als ich gerade stand und keuchte auf. Der Schmerz schoss mir durch das Bein und ich vergaß kurz zu Atmen. Stattdessen verlor ich das Gleichgewicht und wäre sicher gestürzt, wenn mich der Sanitäter nicht festgehalten hätte. Der andere Mann ließ Lizzy los und stütze mich von der anderen Seite. Ich kam mir dämlich vor, so auf ihre Hilfe angewiesen zu sein, während sie mich zu ihrem Wagen führten. Ich humpelte auf einem Bein hinterher. Auf meiner Stirn bildete sich ein Schweißfilm. Durch den Blutverlust wurde mir schwindelig und schlecht zugleich. Aber ich biss die Zähne zusammen. Das Auto kam immer näher, gleich hätte ich es geschafft. Doch ich konnte nicht einsteigen. Nicht so.
"Halt", bat ich und sie blieben tatsächlich stehen. Über meine Schulter sah ich zurück zu Lizzy, die wie ein Häufchen Elend auf dem Bürgersteig hockte. Direkt vor einem meiner Blutflecken, die gut zu sehen waren. Die Soldaten würden sie gleich finden. Und vermutlich in ein Waisenheim stecken. Das konnte ich nicht zulassen.
"Sie muss mit", sagte ich und zeigte mit dem Kinn auf Lizzy. Die beiden Sanitäter sahen mich entgeistert an. Aber ich ignorierte ihre Blicke und sah stattdessen zu Lizzy, die mich hoffnungsvoll ansah.
"Sie gehört zu mir." Jetzt sahen die Sanitäter mich zweifelnd an. Lizzy stand auf und kam vorsichtig auf uns zu gelaufen. Ängstlich sah sie die beiden Männer an.
"Wir können sie nicht mitnehmen", sagte einer von ihnen barsch und versuchte, mich weiter zu zerren. Lizzy knabberte auf ihrer Lippe herum und mir brach es das Herz, sie so zu sehen. Irgendwas in mir sträubte sich dagegen, sie jetzt auch noch alleine zu lassen. Ich hatte absolut keinen Plan, was sie machen sollte, wenn sie mitkam. Aber ich wusste, dass es besser wäre, als sie alleine zu lassen. Daran würde sie vollständig zerbrechen. Bei mir würde sie auch nicht für immer bleiben können, aber vielleicht wenigstens noch jetzt, kurz nach dem Tod ihrer Mutter. Wenigstens so lange, bis sie den Verlust verarbeitet hätte.
"Sie kommt mit!", sagte ich entschlossen und mit Nachdruck in der Stimme. Diese Diskussion regte mich auf, immerhin hing davon ab, ob ich mein Bein behalten würde oder nicht. Warum stellten sich diese Idioten nur so an?! Diese schienen den Ernst der Lage auch wieder zu begreifen, da sie ergeben seufzten. Lizzy wirkte erleichtert und kletterte zögerlich in das Auto. Das konnte ich nachvollziehen, schließlich war das letzte Auto, was in ihrer Nähe stand, explodiert. Aber sie schien zu merken, dass sie keine andere Wahl hatte, als einzusteigen.
Die hatte ich auch nicht, daher halfen mir die Sanitäter ins Auto zu steigen und verfrachteten mich direkt auf die Krankentrage. Einer der Sanitäter holte eine Spritze heraus, Lizzy klammerte sich sofort an meiner Hand fest.
"Nur Schmerzmittel", beruhigte der Sanitäter sie und jagte mir die Spritze ohne Vorankündigung in den Arm. Ich quittierte das mit einem Schnauben und er zuckte mit den Schultern. "Es muss sein", hörte ich ihn blechern sagen. Die Wände des Wagens bogen sich, ich kniff meine Augen zusammen. Unter großen Anstrengungen riss ich sie wieder auf und fing Lizzys ängstlichen Blick von der Seite aus auf. Sie hielt noch immer meine Hand fest, aber ich konnte den Druck nicht mehr erwidern. Meine Hand hing schlaff in ihrer, wurde nur noch von ihren schlanken, zarten Fingern festgehalten.
Dann fielen mir die Augen zu.
Ich bekam sie nicht mehr auf.
Was auch immer der Kerl mir gespritzt hatte, es war kein Schmerzmittel gewesen.
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