16. Kapitel
Der Regen prasselte ununterbrochen gegen die Scheibe. Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Nur das bläulich flackernde Licht des Fernsehers von Grace erhellte das Wohnzimmer. Ich saß neben ihr auf der Couch, hatte meinen Arm hinter ihr auf der Lehne liegen und starrte die Bilder an, die der Fernseher mir zeigte. Alles wirkte so unreal. Ich sah die entsetzen Gesichter der Menschen. Ich sah, wie Fensterscheiben zersplitterten, als die Druckwelle einer Autobombe sie zerdrückten. Ich sah, wie die Menschen schrien. Ich sah das ganze Leid und verfluchte die Rebellen dafür. Wie konnte jemand so grausam sein?
Die Berichte im Fernsehen wiederholten sich langsam, aber weder Grace noch ich schafften es, den Fernseher auszuschalten. Wir starrten ihn weiter an, sahen uns zum gefühlten zwanzigsten Mal an diesem Abend an, wie eine Frau neben ihrem verletzten Mann auf die Knie fiel. Wie sie seine tote, halb zerfetzte Hand in ihre nahm und in Tränen ausbrach. Diese Szene schnürte mir die Kehle zu. Es konnte jedem passieren. Immer und überall.
"Warum bist du hier her gekommen?" Grace Stimme durchschnitt die Stille. Sie riss mich aus meinen Gedanken und ich sah sie von der Seite aus an. Das Licht des Fernsehers spiegelte sich in ihren Augen. Ich schluckte.
"Ich wollte noch einmal zu ihm", sagte ich mit belegter Stimme und wandte mein Gesicht ab. Tief und stockend atmete ich ein. "Ich konnte noch nicht mal zu seiner Beerdigung. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Das hat sich so falsch angefühlt. Deswegen...es war für mich selbstverständlich, wenigstens zu seinem Grab zu gehen." Sanft legte Grace mir ihre Hand auf den Oberschenkel. Diese Berührung beruhigte mich irgendwie.
"Du konntest nichts dafür", flüsterte sie leise. In mir zerbrach etwas. Und wie ich etwas dazu konnte. Es war immer noch meine Schuld und das würde sich auch nie ändern. Es würde immer meine Schuld bleiben. Sein Tod wird immer meine Schuld bleiben. Ich hatte das Blut meines besten Freundes an meinen Händen kleben. Und niemand würde es abwaschen können. Einfach niemand.
Ich sollte es ihr sagen. Ich sollte ihr verdammt nochmal die Wahrheit sagen. Diese Lüge stand zwischen uns. Grace vertraute mir blind. Aber sie wusste nicht, wie sehr ich sie in Wirklichkeit enttäuscht hatte. Innerlich rang ich mit mir. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihre Gastfreundschaft auszunutzen. Ich sollte nicht hier sitzen. Nicht hier auf ihrer Couch.
Grace lehnte sich vorsichtig bei mir an. Kurz versteifte ich mich, lockerte meine Muskeln dann aber wieder. Sie schmiegte ihren Kopf an meine Brust. Mein Herz schlug zu schnell, mein Atem ging unregelmäßig. Ich musste es ihr sagen. Die Wärme ihres zarten Körpers lullte mich langsam ein. Meine Gedanken wurden träger. Grace Atemzüge wurden langsamer und tiefer. Sie war eingeschlafen. Sie war an den Mörder ihres Mannes gelehnt eingeschlafen.
Verzweifelt lehnte ich meinen Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Mein Arm rutschte auf ihre Schulter herunter. Sie bewegte sich kurz, rutschte noch näher an mich heran und schlief weiter. Fest biss ich die Zähne zusammen. Das hier war falsch. Es fühlte sich falsch an, aber auf der anderen Seite einfach nur gut. Diese Nähe, die Geborgenheit. Erst jetzt spürte ich, wie sehr ich es vermisst hatte. Wie sehr ich es brauchte. Eine einsame Träne lief mir die Wange herunter. Grace klammerte sich im Schlaf an mir fest. Das sollte sie nicht. Das durfte sie nicht. Ihr Mann müsste hier sitzen. Er war die Person, der diese Frau anfassen durfte. Der ihr Wärme, Halt und Schutz spenden sollte. Nicht ich.
"Ich kann nicht schlafen", sprach plötzlich eine dünne Stimme hinter mir und ich zuckte zusammen. Grace saß senkrecht neben mir und drehte sich zu Lizzy um. Ihre Tochter runzelte leicht die Stirn. "Warum seit ihr hier? Warum schläfst du nicht im Bett, Mama?" Grace warf mir einen überforderten Blick zu, aber ich konnte ihr diese Frage nicht beantworten. Unauffällig wischte ich mir mit einer Hand über die Augen und machte geistesabwesend schnell den Fernseher aus. Schließlich musste Lizzy die schrecklichen, blutigen Bilder nicht noch länger ansehen, als sie es wahrscheinlich eh schon getan hatte.
Die aufkommende Dunkelheit wirkte erdrückend.
"Mama?", fragte Lizzy erschrocken und ich hörte, wie sie neben mir aufstand.
"Ich bin hier, Schätzchen. Ich bin hier", redete sie beruhigend auf ihre Tochter ein und schaltete eine kleine Lampe an. Das Licht spendete warmes, beruhigendes Licht. Grace nahm Lizzy auf den Arm und setzte sich mit ihr auf dem Schoß wieder neben mich. Ich biss mir auf die Lippe und sah die beiden an.
Wieder keimte das Gefühl in mir auf, dass es falsch war, hier zu sitzen. Ich fühlte mich schrecklich, so als würde ich ihre Trauer ausnutzen. Daraus Vorteile für mich ziehen, damit ich nicht alleine sein musste. Aber ich hätte es verdient. Ich hätte es verdient, alleine zu sein. Ich verdiente diese Liebe nicht, die sie mir entgegen brachten. Nicht ich, nachdem was ich getan hatte. Vielleicht früher einmal, aber nicht mehr jetzt. Es war vorbei.
"Bist du traurig?" Aus großen, runden Augen sah Lizzy mich an. Bevor ich mir eine Antwort überlegen konnte, krabbelte sie von Grace weg und setzte sich auf meine Oberschenkel. Sie legte ihre kleinen Hände auf meine breiten Schultern und sah mir ernst ins Gesicht. Kurz zögerte ich, dann legte ich meine Hände auf ihren Rücken, damit sie nicht herunter fiel.
"Nein, ich bin nicht traurig. Also nicht so wirklich. Ich meine...", stotterte ich und sah sie hilflos an.
"Du bist durcheinander?", schlug sie mir mit diesem treuen Blick in den Augen vor, den nur kleine Kinder besaßen und ich nickte dankbar.
"Ja, das stimmt", wiederholte ich leise und verstummte, als sie es sich auf mir gemütlich machte. Sie kuschelte sich an meine Brust, schlang die Arme um meinen Hals und winkelte die Beine an, sodass sie komplett auf mir lag. Ich war im ersten Moment mit der ganzen Situation überfordert, wusste nicht, wohin mit meinen Armen. Aber dann fing ich das glückliche Lächeln von Grace auf und nahm Lizzy so gut es ging in den Arm. Sie entspannte sich mit der Zeit und schlief schnell ein. Ich atmete ihren Geruch ein, sie roch leicht nach Vanille und irgendwie auch nach Blumen. Und sie war ziemlich leicht. Während der nächsten Minuten strengte ich mich an, mich nicht zu bewegen, um sie nicht zu wecken. Auf mir hatte noch nie ein Kind geschlafen. Es fühlte sich gut an, raubte mir auf einer gewissen Art und Weise den Atem. Sie fühlte sich bei mir so sicher, dass sie einschlafen konnte. Genau wie ihre Mutter.
Ein leises Schnarchen von ihr ließ mich grinsen. Grace Kopf rutschte zur Seite und meine Schulter bremste sie.
Ich starrte nach vorne den dunklen Bildschirm des Fernsehers an. In mir tobten die verschiedensten Gefühle. Am liebsten würde ich losheulen, vor Rührung. Aber gleichzeitig könnte ich mir auch selbst eine reinhauen. Ich war immer noch der Meinung, dass Mike hier sitzen sollte. Mit seiner Familie in den Armen. Diesem kleinen Wunder der Natur auf dem Schoß, einer wunderschönen Frau an der Seite. Nicht ich. Ich hatte das nicht verdient.
Je länger ich über meine jetzige Situation nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Ergebnis, dass ich die Gefangenschaft bei den Rebellen verdient hatte. Ich hatte das Leid verdient, den Schmerz und die Angst. Es war meine persönliche Strafe für den Fehler mit Mike. Aber es war dennoch zu wenig. Es hätte noch schlimmer sein müssen. Mein Schmerz war nichts zu dem, was Grace gefühlt haben musste, als ihr verkündet wurde, dass ihr geliebter Ehemann verstorben war. Oder was die kleine Lizzy gefühlt haben musste, als Grace ihr sagen musste, dass ihr Papa nie wieder nach Hause kommen würde. Dass er sie nie wieder ins Bett bringen oder ihr ein Bilderbuch vorlesen würde.
Ich hatte es gemacht. Während Grace sich nach dem Duschen anzog und etwas zum Abendessen machte, hatte ich auf Lizzys Bett gesessen und ihr ein Bilderbuch vorgelesen. Ihr hatte es gefallen, das merkte ich. Nach dem Abendessen hatte Grace sie in ihr Bett gebracht, dort hatte sie nach mir gefragt, nicht nach Mike. Was musste das nur bei Grace für ein Gefühl ausgelöst haben? Ich konnte es mir nur vorstellen. Diese Gefühle mussten deutlich grausamer sein als das, was ich gespürt hatte. Ich hatte durch meine Abwesenheit niemandem weh getan. Es hatte niemanden gegeben, der Abends weinend vor dem Fenster gesessen hatte, mit dem Telefon in der Hand und der Hoffnung im Herzen, dass sich der Mann endlich wieder melden würde. Dass endlich wieder ein Lebenszeichen von ihm kommen würde. Diese ständige Angst, hatte ich niemandem verursacht.
Wie grausam musste es gewesen sein, dann später vor dem Fenster zu sitzen, mit der Gewissheit, dass der eigene Mann wirklich nie wieder kommen würde? Wie schrecklich musste es für Grace gewesen sein, ihre Hoffnung mit dem toten Körper ihres Mannes zu begraben?
Wieder liefen mir Tränen über die Wangen. Ich war einfach nur überfordert, mit den Nerven völlig am Ende. Dass dieser Besuch bei Mikes Grab mich so an meine eigenen Grenzen treiben würde, hätte ich nie gedacht. Um ehrlich zu sein, hatte ich in dem Moment, als ich mich auf den Weg hierhin machte, gar nicht mehr an seine hinterblieben Familie gedacht. Ich hätte nie daran gedacht, sie wirklich hier zu treffen. Ich war ganz alleine darauf fokussiert gewesen, zu Mike zu gelangen. Ihn irgendwie um Vergebung bitten zu können. Ihm noch einmal nah sein zu können und ihm in Gedanken mitteilen, wie leid es mir tat. Ich hätte es auch laut in die Welt schreien können. Ich hätte es mit Farbe an jede Wand schreiben können. Aber all das hätte ihn nicht mehr zurück gebracht. Egal was ich jetzt tue, nichts holt ihn wieder zurück.
Ich dachte darüber nach, der mir allzu bekannte Schmerz des Verlustes bohrte sich in meine Brust. Es war ungerecht. Das Leben war ungerecht. Ich hätte auf dem Schlachtfeld sterben sollen, nicht er. Langsam fielen mir die Augen zu.
Was würde Mike dazu sagen, wenn er mich hier so sitzen sehen würde? Wäre er stolz auf mich, oder würde er mich hassen? Wäre er mir dankbar, dass ich seiner Familie ein bisschen Halt gab, oder würde er mich verabscheuen? Würde er sich im Grab umdrehen oder könnte er endlich Frieden finden?
Ich wusste es nicht.
Und ich würde es auch nie erfahren.
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