15. Kapitel
Lizzy hatte genau die gleichen Augen wie ihr Vater Mike. Sie strahlten mich genauso hell an, sie wirkten vertraut und gleichzeitig doch so fremd. Lizzy musterte mich skeptisch. Erinnerte sie sich noch an mich? Schließlich war es schon etwas länger her, als ich sie das letzte mal gesehen hatte.
Plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter und sah zu Grace hoch. Sie sah ihre Tochter liebevoll an.
"Das ist Jamie, erinnerst du dich? Er hat mit deinem Papa zusammen...gearbeitet." Ich schaute langsam wieder zu Lizzy. Da ich mich hingehockt hatte, waren wir auf Augenhöhe. Jetzt musterte sie mich ein bisschen interessierter, aber sie sah noch immer unsicher aus.
"Wir...wir sind einmal zusammen an den See gefahren. Dein Papa und ich. Weißt du noch, da war es ganz warm und wir sind sogar kurz mit dir ins Wasser gegangen. Du warst so begeistert gewesen von den Fischen. Und den Vögeln, die am Rand entlang gewatschelt sind", versuchte ich, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Lizzy blinzelte mich an. Insgeheim hatte ich gehofft, sie würde sich an die paar schönen Momente mit Mike und mir erinnern. Immerhin waren diese Erinnerungen das einzige, was ihr von ihrem Vater geblieben waren. Als die Enttäuschung gerade über mich herein brechen wollte, erhellte sich ihr Gesicht plötzlich.
"Als Papa von einem Schwan gejagt wurde?", fragte sie mich mit leuchtenden Augen und ich lachte auf. Halb belustigt darüber, dass sie sich daran noch erinnern konnte und halb vor Erleichterung, dass sie sich überhaupt erinnerte.
"Ja genau", meinte ich grinsend und streckte zögerlich meine Hand nach ihr aus. Sie musterte meine Hand, ergriff sie aber nicht. Stattdessen warf sie sich schwungvoll in meine Arme, sodass ich Mühe hatte, nicht umzukippen. Ich legte meine eigenen Arme um ihren zarten Körper und spürte, wie sie sich an meinen Oberkörper drückte. Grace neben mir seufzte auf und sah glücklich lächelnd zu uns herunter.
"Ihh, du bist ja ganz nass!", rief Lizzy empört und wand sich aus der Umarmung. Sie schüttelte sich wie in nasser Hund und ich grinste sie an. Grace wuschelte ihr durch die Haare und beugte sich zu Lizzy herunter. "
"Vielleicht sollten wir dem Jamie mal zeigen, wo hier die Dusche ist. Danach ist er dann nicht mehr nass." Sie musterte ihre Tochter und zog ihre Augenbrauen hoch. "Willst du sie ihm vielleicht zeigen gehen?" Lizzy nickte begeistert und zog mich an der Hand hinter sich her die Treppe hoch. Grace sah uns mit einem liebevollen Blick hinterher.
Ich stolperte hinter Lizzy die Stufen nach oben. Sie öffnete schwungvoll eine Tür und zeigte auf die Dusche. Lächelnd bedankte ich mich bei ihr und sie verschwand wieder. Mit einem mulmigen Gefühl sah ich mich in dem Badezimmer um. In meiner Erinnerung standen auf dem rechten Regal über dem Waschbecken Mikes Sachen. Jetzt waren die Fächer leer geräumt. Ich schluckte und schälte mich aus meinen nassen Klamotten. Schnell hüpfte ich unter die Dusche, damit Grace sich danach auch frisch machen konnte und nicht weiter in ihrer von Regen durchtränkten Kleidung durchs Haus laufen musste. Ich wickelte mir ein Handtuch um die Hüfte und überlegte, was ich jetzt anziehen wollte. Meine eigenen Sachen waren logischerweise noch nicht trocken.
Langsam öffnete ich die Badezimmertür und hängte sie erstmal über das Treppengeländer. Ich kratzte mich am Kopf und drehte der Treppe den Rücken zu, als meine Hose anfing zu klingeln. Verwirrt fuhr ich wieder herum und riss die Hose vom Treppengeländer, damit mein Handy nicht heraus fiel. Ich holte es aus einer Hosentasche und sah auf das Display. Es war Chefchen. Wut stieg in mir auf. Wollte er mich jetzt etwa dazu verdonnern, arbeiten zu gehen? Schließlich hatte er mir doch erst heute morgen frei gegeben.
"Ja?", fragte ich mürrisch, als ich den Anruf angenommen hatte. Mit der freien Hand versuchte ich, die Hose wieder über das Treppengeländer zu hängen. Am anderen Ende der Leitung war es laut, ich hörte viele Menschen durcheinander schreien. Irgendwo in weiter Ferne hörte ich die Alarmanlage eines Autos. Ich runzelte die Stirn. "Was ist passiert?"
Ich hörte Chefchen einatmen. "Ich weiß, du hast frei und ja, du hast auch weiterhin frei. Ich wollte dich nur informieren, dass die Rebellen mal wieder ihre Taktik geändert haben. Sie..." Ein lauter, entsetzter Schrei ließ ihn abrupt verstummen. Ich hörte etwas rascheln. "Kann sich einer von euch nicht mal um die Frau kümmern?", herrschte er einen seiner Kollegen barsch an, dann hörte ich Schritte. Wie erstarrt stand ich vor dem Geländer. Mit einer Hand stützte ich mich darauf ab. Was war passiert? Was meinte er damit, dass die Rebellen wieder ihre Taktik geändert haben? Konnten sie sich nicht einmal für etwas entscheiden?
Die Hintergrundgeräusche bei Chefchen wurden leiser, also nahm ich an, dass er vom Geschehen wegging, um halbwegs ungestört telefonieren zu können. Irgendwann verstummten die Schritte und er nahm den Faden wieder auf.
"Also, die Rebellen haben ihre Taktik geändert. Erst haben sie versucht, mit Hilfe der gefangenen Soldaten an den König heran zu kommen. Aber jetzt geht das ja nicht mehr, schließlich seit ihr alle frei. Sie haben sich was neues ausgedacht. Jetzt benutzen sie die Bevölkerung." Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Mein Körper verkrampfte sich.
"Das heißt?", hakte ich nach und hielt die Luft an. Eine gespenstische Stille breitete sich zwischen uns aus.
"Autobomben." Zischend atmete ich wieder aus und schloss meine Augen. Meine freie Hand ballte sich zur Faust.
"Und wo?"
"Das ist es ja. Wir wissen es nicht. Der letzte Anschlag war in der Nähe vom Schloss. Ein anderer wurde einige Kilometer entfernt gemeldet. Es kann überall passieren. Jederzeit. Sie sind im ganzen Land verstreut. Wir können es nicht kontrollieren." An seiner Stimme hörte ich, wie sehr ihn das mitnahm. Es war auch schrecklich. Wie viele Menschen liefen nichtsahnend täglich an irgendwelchen geparkten Autos vorbei? Man konnte sich nicht schützen. Chefchen hatte recht. Es könnte jederzeit eine Autobombe explodieren. Überall und ohne Vorwarnung. Die Bevölkerung wurde auf eine entsetzliche Weise von den Rebellen benutzt.
"Ich rufe dich wieder an, wenn ich mehr weiß. Meld dich, wenn dir etwas auffällt." Bevor ich bestätigen konnte, dass ich das tun würde, hatte er wieder aufgelegt. Kraftlos ließ ich das Handy sinken.
Warum missbrauchten die Rebellen die Bevölkerung für ihre Anschläge? Wollten sie nicht das Land verbessern, es für die Menschen erträglicher machen, hier zu leben? Warum fingen sie dann jetzt an, genau diese Menschen zu töten?
"Jamie, ich...", setzte Grace hinter mir an und verstummte plötzlich. Ich erschreckte mich und drehte mich zu ihr um. Mit großen Augen starrte sie auf meinen nackten Oberkörper. Siedend heiß fiel mir ein, dass nichts weiter als ein Handtuch trug. Sie sah traurig zu mir hoch. "Was haben sie mit dir gemacht?", hauchte sie entsetzt und ich biss die Zähne zusammen. Meine Kiefermuskeln spannten sich an und ich sah woanders hin. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie meinte die Narben auf meinem Rücken. Grace hatte den ersten Schock überwunden und kam schnell die Treppe ganz herauf. Sie stellte sich hinter mich und fuhr mit dem Finger über die vernarbten Striemen auf meinem Rücken. Hitze wallte in meinem Körper auf. Es war keine Erregung von ihrem Berührungen, sondern Scham. Ich schämte mich dafür, so entstellt zu sein. Der alte, mir nur allzu bekannte Hass auf die Rebellen kam wieder. Er rauschte durch meine Glieder, machte mich halb wahnsinnig.
"Lass das", sagte ich schnell und sie ließ ihre Hand sinken.
"War Mike..." Ich wandte mich kopfschüttelnd zu ihr um. "Nein, er war nicht mehr dabei, als das passierte." Mit dem Daumen zeigte ich hinter mich auf meinem Rücken. Sie biss sich auf die Lippe und nickte leicht. Ihre Haare klebten ihr an den Wangen. Sie hob den Blick und deutete auf eine geschlossene Tür.
"Nimm dir was zum anziehen von ihm. Ich hab noch nicht alles weggeschmissen. Lizzy spielt unten im Wohnzimmer. Ich bin jetzt duschen." Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie im Bad und schloss die Tür hinter sich.
Seufzend und immer noch mit meinem Handy in der Hand öffnete ich die Tür, die sie mit gezeigt hatte. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ich stand in ihrem Schlafzimmer. Während ich es mit schnellen Schritten durchquerte, kam ich mir wie ein Eindringling vor. Schnell durchwühlte ich eine Kiste, die unter dem Fenster stand. Ich ließ das Handy und Handtuch auf den Boden fallen und bückte mich, um nach einer Unterhose zu greifen. Hinter mir hörte ich ein Kichern und erstarrte. Schnell schnappte ich mir ein Buch vom Nachttisch und hielt es mir vor meine schön frei hängenden Geschlechtsteile und sah dann Lizzy an.
"Ich dachte du wärst im Wohnzimmer", war das erste, was mir einfiel. Gott, war das peinlich. Sie war ja noch ein Kind!
Lizzy sah mich belustigt an. "Ich habe Geräusche gehört." Sie musterte mich und ich umklammerte das Buch fester. Wenn Grace das sehen würde...
"Ließt du gerne? Mama ließt das immer bevor sie schlafen geht." Sie zeigte auf das Buch und ich sah vorsichtig herunter. Es war irgendein Roman, den ich jedoch nicht kannte.
"Ja, ich lese auch gerne", antwortete ich. Das stimmte zum Teil, früher hatte ich tatsächlich gerne gelesen, mittlerweile fehlte mir dazu allerdings die Zeit und auch die Nerven, mich noch mehr mit den Problemen anderer Leute zu beschäftigen.
Ich hörte wie eine Tür geöffnet wurde.
"Mama! Dem Jamie scheint dein Buch super zu gefallen! Er will es gar nicht mehr loslassen!", rief sie Grace begeistert zu. Ich versank vor Scham im Boden, hielt das Buch aber weiter verbissen fest. Grace kam zu Lizzy und starrte mich dann an. Ich stand einfach nur regungslos da und zuckte hilflos mit den Schultern. Nicht nur, dass ich quasi nackt vor ihrer Tochter stand, nein, jetzt auch noch vor Grace selbst...
Grace selbst trug ein Handtuch. Sie sah abgemagert aus, ihre Schultern bestanden eigentlich nur noch aus Knochen. Der Tod ihres Mannes hatte Spuren auf ihrem Körper hinterlassen. Dennoch versuchte sie, weiter stark zu bleiben und strich ihrer Tochter eine Haarsträhne hinter das Ohr.
" Ja. Weißt du, der Jamie hat schon immer gewusst, wie man einen grandiosen Auftritt hinlegt." Sie grinste mich amüsiert an und ich lief rot an. Ich konnte das Blut in meinen Ohren pulsieren hören und spürte wie meine Wangen heiß brannten.
"Komm. Geben wir dem Bücherwurm mal eine Chance, sich anzuziehen." Sie packte Lizzy an den Schultern und schob sie von der Tür weg. Erleichtert, als mich niemand mehr sehen konnte, legte ich das Buch zurück und stürzte mich kopfüber in die Klamotten. Schnell zog ich mich an und hob das Handtuch auf. Es fühlte sich komisch an, Mikes Kleidung zu tragen, aber mir blieb nichts anderes übrig. Alternativ hätte ich noch den ganzen Tag mit dem Buch in der Hand durch die Gegend rennen können...
"Ich bin fertig", teilte ich Grace mit, als ich wieder raus auf den Flur trat. Sie zog ihre Augenbrauen hoch.
"Herzlichen Glückwunsch." Ich schnaubte über ihren sarkastischen Tonfall und sie verschwand selbst im Schlafzimmer.
Ich stand wieder Lizzy gegenüber. In angezogenem Zustand war das sogar ganz schön. Lizzy klammerte sich an meine Hand und sah mit großen Augen zu mir hoch. Ich schluckte.
"Komm, ich zeige dir mal meine Bücher. Vielleicht gefällt dir ja auch eins davon..." Hoffnungsvoll sah sie zu mir hoch und ich nickte.
Den Ruf mit dem Bücherwurm würde ich in diesem Haus wohl nicht mehr loswerden.
Allgemein hatte dieses Wort nun eine vollkommen neue Bedeutung für mich...
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