14. Kapitel
Die Grabsteine reihten sich über gefühlte Kilometer aneinander. Einer sah genauso aus wie der andere. Der einzige Unterschied den es gab, war der Name, der darauf stand.
Es waren alles gefallene Soldaten. Ich lief über den Friedhof, auf der Suche nach einem bestimmten Namen. Er musste hier irgendwie liegen, zumindest hatte Chefchen es mir gesagt. Ich las die verschiedenen Namen im Vorbeigehen durch. Meine Füße verursachten ein knirschendes Geräusch auf dem Boden, sonst hörte ich absolut gar nichts. Nicht einmal ein Vogel flog umher oder eine Biene suchte eine schöne Blüte für sich. Es wehte auch kein Wind. Leider. Die Luft war einfach nur feucht und stickig, meine Kleidung klebte an meinem Körper und ich schwitzte, obwohl ich nur diesen ebenerdigen Weg entlang lief. Die Sonne brannte unerbärmlich auf meinen Körper herab und ich fühlte, dass ich langsam Kopfschmerzen bekam.
Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Da war er. Der Name, den ich gesucht hatte. Mike Shuttler. Sein Grab sah genauso aus wie das der anderen, aber mit diesem hier verband ich etwas. Es war Mike gewesen, der mich immer wieder aufgebaut hatte, wenn ich während der Ausbildung am liebsten alles hin geschmissen hätte. Es war Mike gewesen, mit dem ich meistens zusammen auf dem Schlachtfeld kämpfte. Mit dem ich in einem Zelt schlief, der mich ohne Worte verstand. Und es war Mike gewesen, der wegen mir gestorben war.
Kraftlos fiel ich auf die Knie. Die Schuldgefühle brachen wie eine Welle wieder über mich herein. Ich hatte gedacht, darüber hinweg zu sein, aber das war ich eindeutig nicht. Durch die Gefangenschaft, die Befreiungsaktion von meinem Chef, der Rückreise und dem kurzen Aufenthalt im Schloss, war ich nur abgelenkt gewesen. Die Rückreise war langweilig gewesen, genauso wie die paar Tage im Schloss. Der König selbst war nicht da gewesen, sondern nur Lysander. Es war schön gewesen zu sehen, dass es ihm gut ging. Aber wir hatten nicht die Möglichkeit gehabt, uns zusammen zu setzen und zu reden.
Es beruhigte mich, dass Kaitlyn und die anderen Rebellen sicher hinter Gittern saßen. Aber ich wusste natürlich, dass es noch lange nicht vorbei sein würde. Kaitlyn war nur die Anführerin einer kleinen Gruppe Rebellen gewesen. Es gab noch genug andere, die gegen den König rebellierten.
Mike war auch nicht mit allem zufrieden gewesen, was wir als Soldaten machen mussten. Bei ihm musste ich mich nie verstellen, sondern konnte ehrlich und offen reden.
Prasselnd fing es an zu regnen. Schon nach kurzer Zeit war ich völlig durchnässt, blieb aber an Mikes Grab knien. Meine Tränen vermischten sich mit den Regentropfen und ich wandte mein Gesicht zum Himmel. Die Tropfen fühlten sich wie kleine Nadelstiche auf meiner Haut an, aber es tat gut. Es tat einfach nur gut, alleine zu sein und keine Rolle mehr spielen zu müssen. Nicht mehr vorgeben zu müssen, eine Person zu sein, die man gar nicht war. Ich glaubte, dass mein Chef insgeheim wusste, was ich dachte, aber er ließ es sich nicht anmerken. Dafür war ich ihm genauso dankbar wie für die paar Tage frei, die er mir gegönnt hatte.
"Jamie?" Erschrocken sprang ich auf und drehte mich um. Ich schüttelte wie ein Hund meinen Kopf, damit das Wasser aus meinen Augen verschwand und starrte dann die Person an, die vor mir stand. Der Regen hatte sie ebenfalls durchnässt, ich sah ihren dunklen BH durch das helle Oberteil schimmern. Die Regentropfen verfingen sich in ihren dunkelblonden Haaren und tropften von da auf ihren nackten Arm. Sie trug ein helles Sommerkleid, wie ich bei näherem Hingucken bemerkte, welches in trockenem Zustand bestimmt schön aussah, aber jetzt triefte es einfach nur vor Nässe. Ihre blauen Augen hatte sie erstaunt aufgerissen. Sie sahen traurig und irgendwie matt aus, aber ich erkannte sie trotzdem sofort wieder. Ich sah, was Mike an ihr geliebt hatte.
"Grace?" Ihr Gesicht hellte sich auf, als ich sie mit ihren Namen ansprach. "Es tut mir so leid", fügte ich hinzu.
"Das muss es nicht, Jamie. Das muss es nicht", redete sie beruhigend auf mich ein und überwand das letzte bisschen Abstand zwischen uns. Fast schon automatisch schlossen sich meine Arme um ihren schlanken Körper. Sie war kalt und klebte sofort an mir. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und fing an zu weinen. Ich hielt sie in meinen Armen und vergrub mein Gesicht in ihren Haaren. Immer wieder wiederholte ich, dass es mir leid tat. Schließlich war er wegen mir gestorben. Weil mich eine Kugel getroffen hatte und er sich um mich kümmern wollte. In diesem Moment, als er unaufmerksam war, wurde er tödlich getroffen und starb direkt neben mir. Das würde ich mir nie verzeihen.
"Es war nicht deine Schuld", beteuerte sie und löste sich schmatzend von mir. Nicht sie hatte das Geräusch verursacht, sondern unsere nasse Kleidung.
"Weißt du, was passiert ist?", fragte ich sie und sah in ihre vom Weinen geröteten Augen. Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
"Nein, nicht alles. Und ich möchte es so genau auch gar nicht wissen", wehrte sie schnell ab, als ich den Mund öffnen wollte. Ich presste die Lippen zusammen und drehte mich wieder zu Mikes Grab um. Grace stellte sich dicht neben mich.
"Weißt du, als es an meiner Haustür geklingelt hatte, wusste ich irgendwie sofort, dass etwas nicht stimmte. Mike hatte sich immer irgendwann bei mir gemeldet, wenn er einen Einsatz hatte. Wenn er es nicht geschafft hat, hast du mich sogar mal für ihn angerufen, weißt du noch? Als er sich eine Lungenentzündung eingefangen hatte und im Bett lag." Sie lachte auf. "Damals dachte ich, ihn könnte nichts umbringen. Dass er stärker wäre als die anderen. Dass er immer zurück kommen würde. Aber dieses Mal...ist er nicht zurück gekommen. Nur jemand von der Regierung, der mir an der Haustür verkündet hat, dass mein Mann ehrenvoll im Kampf für das Vaterland verunglückt war." Hilfesuchend klammerte sie sich an meinen Arm und ich sah sie leicht schockiert an. "Ich hatte niemanden, Jamie, niemanden, der mich verstanden hätte. Ich durfte keine Schwäche zeigen, ich musste stark bleiben, für unsere Tochter." Verzweifelt schüttelte sie meinen Arm durch. "Ich kann nicht mehr, Jamie. Ich kann nicht mehr", flüsterte sie und wandte sich über sich selbst erschrocken von mir ab.
Meine Hände ballten sich zu Fäusten, ich fühlte mich einfach nur schlecht. Wenn ich besser aufgepasst hätte, dann würden wir beide jetzt nicht hier stehen. Ich konnte es nicht ertragen, Grace so leiden zu sehen. Ich wusste, dass sie eigentlich eine starke Frau war. Es war nicht leicht, mit einem Soldaten verheiratet zu sein, aber sie hatte sich von Anfang an damit abgefunden. Sie war für Mike da gewesen, hatte ihm den Rücken gestärkt. Und jetzt stand sie auf einmal ganz alleine da. Ich konnte mir nur vorstellen, wie es ihr gehen musste, da sie auch noch die Verantwortung für ihre Tochter trug. Das kannte ich nicht. Ich hatte niemanden, keine eigene Familie. Es gab nur noch meine Eltern, die auch gut ohne mich leben konnten. Sie hatten sich noch nicht mal informiert, als ich in Gefangenschaft geriet. Sie hatten mich gar nicht vermisst.
Schmerzlich zog sich meine Brust zusammen. Das Gefühl, vermisst zu werden, war mir unbekannt. Aber an dem scheuen Blick, den Grace mir über ihre zuckende Schulter zuwarf, erkannte ich Erleichterung. Insgeheim musste sie auf mich gewartet haben. Früher war ich oft zu Besuch bei Mike und Grace gewesen. Hatte sogar mal auf ihre kleine Tochter aufgepasst. Ich kannte diese Familie besser als meine eigene. Ich war hier willkommener als in meiner eigenen. Dieser Gedanke tat sehr weh.
Langsam streckte ich meine Hand in ihre Richtung aus.
"Komm, lass uns irgendwo anders hingehen." Ich sah, dass Grace zitterte, ob es von der Kälte oder vom Weinen kam, wusste ich nicht. Aber mir war sehr kalt und es hörte nicht auf zu regnen.
Zögernd ergriff sie meine Hand, drückte sie dann aber fest, als sie merkte, dass ich sie nicht losließ. Ich warf einen letzten Blick zurück auf Mikes Grab, dann verließ ich mit Grace zusammen den Friedhof.
In dieser kleinen Stadt kannte ich mich nicht gut aus, weswegen Grace die Führung übernahm. Irgendwann gelangten wir schweigend in eine Sackgasse mit freistehenden Häusern.
"Willkommen zu Hause", sagte Grace mit einem leicht bitteren Unterton in der Stimme, als sie die Haustür von einem dieser Häuser aufschloss. Leicht verunsichert folgte ich ihr in das Haus und sie schloss die Tür hinter mir wieder.
Sofort schlug mir der vertraute Geruch dieses Hauses ins Gesicht. Das Haus war immer noch freundlich eingerichtet, mit hell gestrichenen Wänden und hellen Fliesen. Auch die Gardinen waren hell und ließen viel Sonne in die Zimmer scheinen. Aber trotzdem war etwas anders.
Man merkte, dass etwas fehlte. Das Haus wirkte leer, trostlos und ausgestorben, obwohl Grace und ihre Tochter hier noch wohnten. Aber an der Atmosphäre merkte ich, wie sehr hier diese eine Person fehlte. Mein Magen zog sich zusammen. Als ich die Augen schloss, stellte ich mir vor, wie Mike aus dem Wohnzimmer geschlendert kommen würde, mit einem Baby auf dem Arm. Aber er würde nie wieder hier sein.
Traurig öffnete ich meine Augen wieder und sah direkt in Mikes vor Erstaunen aufgerissene Augen. Verwirrt blinzelte ich, dann realisierte ich, wer da vor mir stand.
Es war Mikes Tochter. Sie war gewachsen, aber bestimmt gerade mal 4 oder 5 Jahre alt. Der Verlust ihres Vaters stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit einem beklommenen Gefühl ging ich in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Mike würde auch seine Tochter nicht aufwachsen sehen. Er würde nie sehen, was für süße kleine Zöpfe ihr Grace geflochten hatte. Oder ihre erste Zahnlücke.
Er würde keine Zeit mit ihr verbringen können. Nicht für sie da sein oder sie in den Arm nehmen können.
Dazu hatte er keine Chance mehr.
Sie wurde ihm brutal genommen.
Durch meinen Fehler.
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