XXIII
Am nächsten Morgen wurde ich wach, als jemand an die Tür klopfte. Das Klopfen war nicht laut oder lange, aber ich hatte so einen leichten Schlaf – zumindest in dieser Nacht – dass ich sofort aufschreckte. Ich war noch nicht richtig wach, als die Klinke herunter gedrückt wurde und die Tür aufschwang, offenbar hatten wir letzte Nacht vergessen, abzuschließen. Diese Realisation und die angespannte Neugier, wer dort vor der Tür stand, vertrieben auch das letzte bisschen Schlaf aus meinen Gliedern und ich richtete mich sofort auf. Dabei rutschte meine Hand aus der von Jay, die ich die gesamte Nacht lang gehalten hatte und wie auf Knopfdruck rührte sich auch der Erdbändiger neben mir.
Die Person, die die Tür geöffnet hatte und nun im Türrahmen stand, war Mrs. Walsh, was mich einerseits beruhigte, da von der Schulleiterin keine Gefahr ausging, andererseits jedoch auch nervös machte. Die Direktorin trug noch die gleiche Kleidung wie am Vorabend, ihre Haare waren zerzaust und sie schien Ringe unter den Augen zu haben, als hätte sie die gesamte Nacht nicht geschlafen. Sie entdeckte zwar sofort Jay auf der Matratze neben mir, sagte jedoch nichts dazu.
„Faye, du musst bitte mitkommen", bat Mrs. Walsh mich ohne jegliche Begrüßung. Ihre Stimme war kratzig und todernst. Allein der grimmige Unterton veranlasste mich dazu, sogleich aufzustehen.
„Ist alles in Ordnung?"
„Nein, ich fürchte, es ist leider gar nichts in Ordnung", Mrs. Walsh sah an mir und dem Schlafanzug, den ich trug, hinab, „du kannst so bleiben, es dauert nicht lange."
„Okay...", ich warf Jay einen letzten, verwirrten Blick zu, bevor ich der Schulleiterin aus dem Raum folgte. Mrs. Walsh führte mich den Flur und die Treppe hinab und zu ihrem Büro. Niemand begegnete uns, es war Sonntag und noch sehr früh. Als sie die Tür öffnete, wurden wir von zwei Augenpaaren erwartet, die sich bereits im Raum befanden, Mr. Graves und M. Aprice.
Auch die beiden männlichen Lehrer sahen aus, als hätten sie die Nacht durchgemacht. Beide hatten völlig zerzauste Haare, M. Aprice trug einen seidenen Morgenmantel und Mr. Graves hatte einen zerknitterten Anzug an, auf dessen Ärmel ein Fleck war. Irritiert von der Gesamtsituation setzte ich mich auf den Stuhl, den Mrs. Walsh mir hinschob und wartete, bis die Direktorin, die sich ungeniert in ihren eigenen Stuhl fallen ließ, mir erklärte, was eigentlich los war.
„Es tut mir leid, dass ich dich zu dieser unchristlichen Stunde aus dem Bett scheuchen musste, aber es ist wirklich wichtig", begann die Schulleiterin, „Noah ist entkommen."
„Was?!"
Mrs. Walsh hob eine Hand, als ich mich erschrocken aufrichtete und brachte mich so zum Schweigen.
„Sein Fehlen ist uns bereits gestern Abend aufgefallen, nach Coles Angriff auf Will", fuhr sie fort, „allerdings wollte ich dich zu diesem Zeitpunkt noch daraus halten. Wir haben die gesamte Nacht zusammengesessen und an allen Möglichkeiten gefeilt, die wir haben."
Ich nickte überwältigt. Jetzt erst fiel mir ein, was Will letzten Abend noch gesagt hatte.
„Will hat gestern gesagt, dass Noah befreit wurde!", platzte ich heraus und sah Mrs. Walsh ungläubig an, „und Sie sagen mir erst jetzt, dass Sie das schon gestern bemerkt haben?!"
„Faye, bitte beruhige dich", Mrs. Walsh fuhr sich durch die ungekämmten Haare und seufzte, sie wirkte abgekämpft und müde, „wie gesagt, ich wollte dich gestern nicht damit belasten, weil alles so frisch war. Wir mussten erst einmal die Situation besprechen."
„Wie ist Noah überhaupt entkommen? Ich dachte, der Keller wäre so sicher."
„Du wusstest davon?!", herrschte Mr. Graves mich an, doch Mrs. Walsh hob beschwichtigend eine Hand.
„Gerald, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür", ihr Blick wanderte zu mir, „der Keller ist kein gut behütetes Geheimnis, auch, wenn er sehr versteckt liegt. Im Prinzip kann jeder davon wissen, der sich ein bisschen besser auskennt oder sich mit der Geschichte der Schule befasst hat. Dennoch muss jemand Noah geholfen haben, denn alleine kann er nicht aus dem Keller gekommen sein. Das setzt voraus, dass er einen Komplizen an der Schule hat. Und da niemand bisher abgehauen ist, gehen wir davon aus, dass dieser Komplize angesichts der gelungenen Flucht noch unerkannt unter uns ist und als Spion für Noah fungiert."
„Haben Sie eine Vermutung, wer es sein könnte?"
„Nein, leider nicht", Mrs. Walsh hob ratlos die Schultern, „das ist ja das Problem. Wir haben in den letzten Tagen stündlich nach Noah gesehen, immer um volle Stunde. In dieser unbeobachteten Stunde ist er gestern entkommen und es hätte ihm so gut wie jeder dabei helfen können."
„Gibt es denn keine Überwachungskameras?"
„Auf dem Schulgelände allgemein? Ja. Im Keller? Nein", zum ersten Mal sprach M. Aprice, der bis dahin nur zugehört und an einer Tasse Kaffee genippt hatte, „niemand hat damit rechnen können, dass wir den Keller jemals so brauchen würden und da er seit Jahren nur als Abstellraum benutzt wurde, hat auch niemand dort Kameras installiert, wir hatten ja niemanden, den wir bewachen mussten."
Ich nickte und fummelte nervös am Saum meines Oberteils herum, langsam wurden meine bloßen Füße kalt.
„Und jetzt?", traute ich mich, nachzufragen.
„Genau deswegen bist du hier", erläuterte die Direktorin, „wir habe die Nacht damit verbracht, uns zu überlegen, wie es nun weitergehen wird."
„Und?", hakte ich nach, bis in die Haarspitzen angespannt.
„Nun, es ist entsprechend schwer, abzuschätzen, was Noah als nächstes tun wird", meldete sich M. Aprice zu Wort, „aber sein Plan wurde mittlerweile so oft von uns durchkreuzt, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis er ihn zu Ende bringt – was auch immer das heißt."
„Das heißt, wir warten einfach und können nichts tun, wie das Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank?", schlussfolgerte ich.
„Nein, so ist es nun auch wieder nicht", Mrs. Walsh sah mich ernst an, „wir müssen Noah zuvor kommen. Dazu gehört, die Schülerschaft vorzubereiten und sie auf unsere Seite zu ziehen."
„Und dann?", hakte ich nach, „Wir können schlecht von allen erwarten, dass sie für diese Sache in irgendeiner Weise kämpfen werden. Wir sind doch alle nur Kinder."
„Da hat sie wohl recht", grummelte Mr. Graves.
„Wir haben nicht wirklich eine Wahl", Mrs. Walsh schüttelte den Kopf, „als Direktorin ist es meine Aufgabe, meine Schüler und Schülerinnen aus so etwas herauszuhalten, aber ich fürchte, dafür ist es bereits zu spät. Zwei Schüler sind bereits zu Tode gekommen, mehrere weitere wurden verletzt, teilweise schwer... die Zeit, die Schülerschaft da rauszuhalten, ist lange vorbei. Aber wer gehen möchte, hat selbstverständlich das Recht dazu."
„Ich bleibe", bot ich sofort an, „ich muss schließlich. Und... ich bin mir sicher, dass meine Freunde auch bleiben."
„Das ist ein großer Einsatz von euch", bemerkte die Schulleiterin wohlwollend, „wir können nur hoffen, dass die anderen Schüler auch so entschlossen sind."
„Das müssen sie einfach sein!", entgegnete ich nachdrücklich, „Noah hat bereits gezeigt, dass er keinen Halt vor Personen macht, die eigentlich gar nichts mit alledem zu tun haben und er wird auch vor niemandem zurückschrecken, der sich ‚raushalten' will."
Mrs. Walsh nickte zustimmend und tief in meinem Bauch keimte Angst auf. Das war es jetzt, die Zeit, in der sich alles entscheiden würde. Es blieb keine Zeit mehr, sich vorzubereiten, wir hatten alle Zeit bereits verspielt. Niemand konnte sagen, was genau Noah vorhatte, aber dass er einen Plan verfolgte, einen grausamen, skrupellosen Plan, das war gewiss.
„Was ist unser Plan?", wollte ich zittrig wissen.
„Wir werden heute nach dem Frühstück alle Schüler in die Aula rufen und uns dort versammeln", erklärte Mrs. Walsh, „dann werde ich die Situation schildern und unser weiteres Vorgehen erläutern."
„Das ist alles?"
„Viel mehr können wir leider nicht tun", M. Aprice sah besorgt in die Runde, „wir können froh sein, wenn wir einigermaßen heil aus dieser ganzen Misere herauskommen. Aber wir werden zum Kämpfen aufrufen."
Ich nickte angespannt.
„Was kann ich tun?"
„Es wird nicht möglich sein, dich völlig aus der Sache herauszuhalten", erwiderte Mrs. Walsh in einem sorgenvollen Ton, „leider machst du nun einmal einen großen Teil von Noahs Motiven aus und es wird nicht möglich sein, die Schüler zu informieren, ohne ihnen die Gründe für die aktuelle Gefahr zu nennen. Aber du musst nicht auf die Bühne kommen oder dergleichen. Am meisten würde es uns helfen, wenn du jetzt in dein Zimmer gehst, dich anziehst und wie alle anderen frühstückst. Wie viel du deinen Freunden erzählst oder anderen, wenn sie nachfragen, bleibt dir überlassen."
Ich nickte und platzierte meine Hände auf den Armlehnen.
„Kann... kann ich dann gehen?", fragte ich unsicher. Die Schulleiterin nickte und ich erhob mich, noch immer im Schlafanzug und mit mittlerweile eiskalten Füßen. Auf dem Weg zurück zu meinem Zimmer, den ich dieses Mal sehr zu meiner Überraschung alleine bestritt, ließ ich die Entwicklung erst einmal sacken. Das kleine Bündel Angst in meiner Magengrube, welches seit dem Gespräch mit den drei Lehrern dort festsaß, schien in immer weiter nach oben zu rutschen, bis es mir direkt in der Kehle saß. Ich musste trocken schlucken.
Noah konnte jeden Moment zuschlagen, theoretisch konnten er oder einer seiner Unterstützer hinter jeder Ecke hocken und ohne Will, der uns mit seinen Visionen helfen konnte, waren wir wirklich aufgeschmissen.
Es konnte alles und nichts passieren und jetzt hatten wir wirklich keine Ahnung mehr, was passieren würde. Noah hatte kein Druckmittel mehr gegen uns, ebenso wenig wie wir eines gegen ihn hatten. Er würde den direkten Kontakt suchen, vermutlich in Form eines Kampfes.
Mir machte es nicht einmal unbedingt Angst, was mir zustoßen würde, denn mit Noahs Hass auf mich hatte ich mich schon länger abfinden können. Doch erst jetzt sickerte die Erkenntnis ein, dass ich nicht nur mich, sondern auch meine Freunde in Gefahr brachte und mit ihnen alle anderen Schüler und Schülerinnen, die sich auf eine der beiden Seiten stellen würden.
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(1594)
Hallihallohallöle!
Was haltet ihr von diesem Kapitel? Denkt ihr, es kann Faye gelingen, die Schülerschaft auf ihre Seite zu ziehen? Oder kommt sie bereits zu spät und alle unterstützen Noah?
Da wir uns hier dem Ende nähern (es wird 29 Kapitel geben, wenn ich mich recht erinnere), würde ich mich übrigens sehr freuen, wenn ihr noch einige Fragen für mein Q&A hinterlassen würdet: ihr könnt dies entweder im letzten Kapitel ("Habt ihr noch Fragen?") oder ganz am Anfang ("Q&A") tun.
Ich würde mich wirklich sehr darüber freuen. Fragen stellen könnt ihr an die Charaktere oder an mich - und zwar so viele, wie ihr mögt ;)
Wie sieht es bei euch eigentlich mit Schule aus? Ich bin jetzt diese Woche zuhause und bei euch so?
Ich hoffe, ihr habt einen schönen Mittwoch, lg, Lotta
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