XIV
Angesetzt wurde das Vorhaben für den Mittwochabend, da die Lehrer vorher noch wichtige Besprechungen und Fortbildungen hatten, die man nicht absagen konnte. Es störte mich zwar einerseits, dass wir erst in einer halben Woche handeln würden, doch ich musste auch einsehen, dass Noah seit einer Woche still geblieben war. Da er nichts von unserem Vorhaben wissen konnte, war es unwahrscheinlich, dass er in diesen wenigen Tagen handeln würde.
Ich erzählte zunächst niemandem meiner Freunde etwas von dem Plan. Ich hatte den Lehrern versprochen, Stillschweigen zu wahren, damit niemand etwas erfuhr, der die Information an Noah weitertragen konnte. Ich vertraute allen meinen Freunden zwar blind (obwohl einer meiner einst besten Freunde sich als der ‚Böse' entpuppt hatte), doch ich respektierte den Wunsch der Lehrkräfte und wollte nicht das Risiko eingehen, ungebetene Zuhörer zu haben.
Am Montagabend saß ich alleine in meinem Zimmer auf dem Bett und machte Hausaufgaben – Leela war gemeinsam mit Amy in die Bibliothek gegangen und Trish war mit einigen Vampiren draußen – als es an der Tür klopfte.
„Herein", rief ich, mehr aus Reflex, und sah dann alarmiert auf, als ich realisierte, dass nicht einmal abgeschlossen war. Glücklicherweise war es Jay, dessen blonder Schopf sich durch den Türspalt schob, als er die Tür öffnete.
„Hallo...", begrüßte er mich verlegen, „störe ich?"
„Absolut nicht", ich schob meine Hefte beiseite, „du kannst ruhig reinkommen."
Jay lachte verlegen und schob sich in den Raum, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und sah zu Leelas Bett.
„Wo ist denn deine Zimmergenossin?"
„Mit Amy in der Bibliothek", informierte ich ihn, „ich wäre auch mitgekommen, aber ich hatte noch einen ganzen Batzen Hausaufgaben."
„Oh, ich wollte dich jetzt aber von nichts abhalten", beteuerte Jay erneut, „möchtest du lieber noch Hausaufgaben machen?"
„Ist das eine ernstgemeinte Frage?", ich grinste schief, „setz dich schon, ich bin ja froh über ein bisschen Ablenkung."
Jay wirkte erleichtert und durchquerte den Raum, setzte sich zu mir auf das Bett. Ich schob meine Schulsachen beiseite und setzte mich in den Schneidersitz.
„Was führt dich zu mir?"
„Ich wollte nur ein bisschen quatschen", Jay brach für einen Moment den Blickkontakt zu mir ab, „irgendwie haben wir schon sehr lange nicht mehr geredet."
Das stimmte allerdings. Meistens hatte ich Zeit mit der großen Gruppe an Freunden verbracht oder, aus Bequemlichkeit, mit den Mädchen, die ja direkt bei mir wohnten. Gespräche unter vier Augen zwischen Jay und mir waren seltener geworden und ich ertappte mich selbst dabei, wie ich das ein wenig vermisste. Andererseits würde ich die Gespräche mit Leela oder Trish aber genauso vermissen.
Oder?
Ich dachte an Cole, mit dem ich mich – genau wie mit Jay – in der letzten Zeit weniger unterhalten hatte. Die Gespräche mit ihm vermisste ich nicht so sehr wie die mit Jay. Natürlich hatte ich mir einige Gedanken darüber gemacht, wie wenig wir im Moment mit den Jungs zusammen machten, doch ich hatte dabei in erster Linie tatsächlich nicht an Cole, sondern an Jay gedacht.
„Ähm... gibt es Neuigkeiten wegen Maddy?", fragte Jay, doch er klang, als würde ihm eigentlich noch etwas ganz anderes auf dem Herzen liegen.
„Naja... also... schon irgendwie", druckste ich herum. Ich wollte den Erdbändiger nicht belügen, wenn er mich schon so direkt fragte, doch zu viel preisgeben wollte ich auch nicht.
„Wurde sie gefunden?", fragte Jay überrascht, „oder hat man herausgefunden, wo Noah und sie versteckt sind?"
„Ja... also...", ich seufzte, dann lehnte ich mich ein Stück zu Jay und flüsterte: „du darfst das niemandem sagen, okay?"
Der Blonde sah mich ein wenig verwirrt an, nickte dann aber und sah mich aufmerksam an.
„Ich hatte am Samstag eine Besprechung mit den Lehrern", erzählte ich mit gesenkter Stimme, so leise, dass Jay noch dichter rutschen und sich nach vorne lehnen musste, „und dabei hat Mrs. Walsh erklärt, dass sie die Adresse von einem Haus hat, in dem Noah sein könnte."
„Echt?", fragte Jay positiv überrascht, doch ich brachte ihn mit einem hektischen Zischen sofort wieder zum Schweigen.
„Schhh, ich darf das eigentlich niemandem erzählen", wisperte ich, „aber am Mittwoch werden einige der Lehrer und ich aufbrechen und Maddy da rausholen – wenn sie denn da ist."
„Das ist doch großartig", flüsterte er, „wenn ich irgendwie helfen kann, dann sag Bescheid – ich komme auch gerne mit, ich kann bestimmt nützlich sein."
„Glaub mir, ich würde mich wohler fühlen, wenn ich nicht die einzige Schülerin wäre", gab ich kaum hörbar zurück, „aber ich darf auch nur mit, weil Maddy mich kennt und mir hoffentlich noch genug vertraut, um mit mir zu kommen, ohne viele Fragen zu stellen."
„Oh ja, das leuchtet ein", Jay sah mich mitfühlend an, „hast du Angst?"
„Ist das eine ernstgemeinte Frage?"
Verwirrtes Nicken.
„Und wie", ich seufzte, „ich mache mir große Sorgen um Maddy, das ist glaube ich klar, aber ich habe auch Angst, dass etwas schief gehen könnte. Was ist, wenn Noah ihr etwas angetan hat? Oder wenn sie mir nicht mehr vertraut und nicht mitkommen möchte."
„Das kann ich mir nicht vorstellen", wandte Jay ein, „du hast ja erzählt, was zwischen euch vorgefallen ist und sie wird vielleicht noch immer wütend und verletzt von damals sein, aber sie wurde immerhin entführt – und dich kennt sie."
Ich nickte.
„Ich habe einfach Angst, dass der Plan nicht aufgeht", gab ich zu, „große Angst. Und... es klingt verrückt, aber vor Noah habe ich tatsächlich wenig Angst. Es geht nicht so ganz in meinen Kopf, dass er nicht der nette Junge ist, den wir kennengelernt haben. Ich habe nur Angst vor dem, was er tun könnte, aber nicht vor ihm selbst. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn."
„Doch, tut es", versicherte Jay mir, „so ähnlich geht es mir auch. Ich habe mir mit ihm immerhin ein Zimmer geteilt und ich hätte nie vermutet, dass er all diese Dinge getan hat. Es ist auch für mich schwer zu begreifen, auch jetzt noch."
Ich nickte, dann verfielen wir in Schweigen. Unsere Ruhe hielt für einige Minuten an, bis Jay sich schließlich verlegen zu Wort meldete.
„Wir haben in letzter Zeit nur total wenig geredet."
Ich brummte zustimmend und nickte, starrte jedoch weiterhin auf die Matratze, ohne den Kopf zu heben und betrachtete interessiert die Falten in meiner Bettdecke.
„Eigentlich... wir wollten doch nicht, dass es nach dem Ball seltsam zwischen uns wird", setzte Jay erneut an, dieses Mal noch verlegener, als ich ihn je erlebt hatte. Ich hob erstaunt den Blick und sah direkt in die grünen Augen des Erdbändigers.
„Du meinst, wegen des... des...?", ich wurde leiser und verstummte schließlich, ohne das Wort auszusprechen. Es zu sagen, dass Jay und ich uns beinahe geküsst hatten, schien das Ganze noch realer werden zu lassen und ich wollte die Situation eigentlich gern verdrängen. Hätte der Blondhaarige mich in diesem Moment geküsst, hätte ich nicht nein gesagt und es hätte mir sicherlich auch gefallen, doch da daraus nichts geworden war, war es mir irgendwie peinlich.
Jay nickte auf meine Worte hin und kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf.
„Wegen des Fast-Kusses", vervollständigte er meinen Satz. Es trat erneut unangenehme Stille ein, bis ich über meinen Schatten sprang und einfach zu sprechen begann.
„Hätte die Musik nicht geendet, wäre es ein richtiger Kuss geworden", stellte ich fest und Jay nickte. Der blonde Erdbändiger sah mich aus bangenden Augen an, während er seine Hände knetete.
„Findest du... also, wäre das ein Fehler gewesen?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, es hätte mir sogar ganz gut gefallen", gab ich zu und musste unwillkürlich lächeln, als sich auf dem Gesicht meines Gegenübers ebenfalls ein Lächeln ausbreitete.
„Ich... ähm... naja", Jay wurde rot und senkte den Blick kurz, sah mir dann jedoch wieder in die Augen, „würdest du es nachholen wollen?"
Ich schwieg einen Moment und ordnete meine Gedanken. Würde ich? Würde ich Jay gerne küssen? Der Gedanke daran, meine Lippen auf die des blonden Erdbändigers zu legen, ließ Schmetterlinge in meinem Bauch aufsteigen, doch in meinem Kopf schoben sich Maddy und Noah dazwischen, die im Moment so viele Probleme bereiteten.
„Ich weiß nicht...", gab ich ehrlich zu und beeilte mich, fortzufahren, als Jays Gesichtszüge fielen, „das ist kein nein. Ich... ich weiß nur nicht, ob jetzt die richtige Situation dafür ist."
Ich seufzte, entfaltete meine Beine und wickelte sie stattdessen an, meine Arme locker um die Knie gelegt.
„Es passiert so viel im Moment", erklärte ich, was in mir vorging, „ich habe Angst um Maddy, ich mache mir Sorgen um sie. Alle möglichen Schüler könnten heimlich auf Noahs Seite stehen, das heißt, man kann niemandem mehr trauen. Dazu ist es noch das letzte Schuljahr und... ich weiß nicht, ob ich da noch Platz für... so etwas habe. Bitte versteh mich nicht falsch, das ist kein Korb, ich... ich würde mich ehrlich gesagt gerne darauf einlassen, aber ich möchte nicht, dass ich dadurch etwas kaputt mache oder einen Fehler begehe."
„Das verstehe ich", entgegnete Jay und lächelte mich beruhigend an, doch ich merkte, dass er dennoch ein wenig verunsichert war.
„Und...", ich seufzte, dann beschloss ich, einfach mit der Tür ins Haus zu fallen, „du kannst gerne lachen, aber... ich habe noch gar keine Erfahrung. Nicht mal meinen ersten Kuss."
„Ich auch nicht", gab Jay sofort zurück, ohne eine Sekunde zu zögern. Mein Blick schoss zu ihm nach oben und ich riss überrascht die Augen auf. Ich hatte mit vielen Dingen gerechnet, aber nicht damit. Sonst hatte ich immer das Gefühl gehabt, eine totale Spätzünderin zu sein, die mit siebzehn nicht einmal ihren ersten Kuss, geschweige denn einen Freund gehabt hatte und war fest davon ausgegangen, dass, sollte ich tatsächlich mal jemanden kennenlernen, er schon mehr Erfahrung haben würde als ich.
„Wirklich jetzt?", hakte ich nach, „ich dachte, ich wäre da irgendwie so gut wie die Einzige."
„Nein, das bist du sicherlich nicht", Jay lächelte mich aufmunternd an, „es hat sich bei mir einfach nie ergeben. Wenn ich mal ein Mädchen toll fand, beruhte das nie auf Gegenseitigkeit. Ich war aber auch oft zu feige, es ihr zu sagen – vielleicht habe ich so meine Chancen verpasst."
„Das kenne ich", stimmte ich zu, „ich habe nie etwas gesagt, wenn ich auf einen Jungen stand... es war mir immer peinlich und ich konnte meistens kein Wort sagen, wenn dieser Junge dann in Hörweite war."
„Das würde dann dafür sprechen, dass du mich total langweilig findest", neckte Jay mich und seine grünen Augen funkelten schelmisch.
„Sei leise", gab ich zurück und konnte spüren, wie die angespannte Stimmung sich langsam auflockerte, „wir sind schon seit einem Jahr miteinander befreundet – und haben in den Osterferien praktisch jeden Tag zusammen verbracht."
„Das stimmt", Jay lächelte mich an und rutschte dann ein Stück dichter. Mein Bauch machte einen nervösen, aber nicht unangenehmen Salto.
„Faye... ich mag dich wirklich sehr", murmelte er. Ich errötete und musste augenblicklich lächeln, sah dem Erdbändiger schüchtern in die grünen Augen, die mir langsam dichter kamen. Dieses Mal gab es keine Musik, die uns aufhalten konnte und es platzte auch niemand dazwischen, als ich meine Knie sinken ließ und unsere Lippen sich vorsichtig und ein wenig unbeholfen trafen.
Der Kuss blieb sehr unschuldig und einfach, ich stützte mich mit meinen Händen ab und Jay legte eine Hand sanft an meine Wange. Als wir uns nach nur wenigen Sekunden wieder lösten, hatten wir beide ein breites Lächeln auf dem Gesicht.
„Langsam, okay?", schlug ich vor und Jay nickte.
„Wir haben alle Zeit der Welt, vor allem, wenn alle Gefahren endlich gebannt sind."
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(1893)
Fun fact:
Ich hätte heute beinahe das Updaten vergessen, hätte ich nicht Werbung von einem Bücherladen auf Insta bekommen, in der es um Augenfarben ging - und bei gelb musste ich an Will denken und war dann so "... Moment!"
Also, hier ist das Kapitel!
Hat es euch gefallen? Jetzt entwickeln sich die Dinge auch zwischenmenschlich so langsam, was haltet ihr von den Entwicklungen?
Und eine persönliche Frage für diejenigen, die es beantworten mögen: wann hattet ihr euren ersten Kuss? Ich persönlich bin (mit 18 (Stand November 2020)) noch ungeküsst aber das ist okay. Ich mache das in meinem Tempo und mit der/dem Richtigen.
Ich wünsche euch noch einen schönen Nachmittag, Lg, Lotta
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