Kapitel 8 - Ein verhängnisvoller Diebstahl | 3
Aber sie hatte keine Zeit, auf Arrohs Gefühle zu achten. Vielleicht wäre das alles anders verlaufen, hätte er keine drei Jahre gebraucht, um zurückzukommen. Wo auch immer er gewesen war. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Früh hatte sie gelernt, dass man bei Assassinen lieber nicht wusste, wohin sie unterwegs waren. Die Antworten gefielen einem selten.
Wäre er früher wiedergekommen, wer weiß. Vielleicht hätte Ardenwyn sich ihm öffnen können. Vielleicht hätte sie wieder jemanden in ihre Nähe lassen können. Aber es war zu spät. Das neugierige, vor Leben sprühende Mädchen, das er einst gekannt hatte, gab es nicht mehr. Er selbst hatte seinen Teil dazu beigetragen, es zu zerreißen und ins Nichts zu schicken.
Ardenwyn schob jeden Gedanken an ihn beiseite. Es brachte nichts, in der Vergangenheit zu verweilen. Oder gar an das zu denken, was hätte sein können, aber niemals mehr Realität werden konnte. Wünsche waren so unbeständig wie der Wind.
Immer wieder blickte sie gehetzt hinter sich, doch nirgendwo erblickte sie Arroh. Doch sie wagte nicht, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Sie wusste, dass er ihr folgte. Und wenn sie Pech hatte, würde er sie eingeholt haben, bevor sie diese verfluchte Stadt verlassen hatte. Aber er war nur ihr kleinstes Problem. So sehr es sie auch ärgerte, wie ein Kaninchen auf der Flucht durch die zahlreichen Gänge zu hetzen, Arroh in die Hände zu laufen war noch immer besser, als der Bande. Denn mit dem Assassinen wusste sie umzugehen.
Die Diebin gönnte sich keine Pause, denn auch Arroh würde nicht nachgeben. Er würde nicht einfach innehalten und sie ziehen lassen. Nicht, wenn er glaubte, dass sie in Gefahr war. So sehr er sich auch damals dagegen gesträubt hatte, als Honra sie fand und mit sich nach Hause nahm, auch der ältere der beiden Assassinen hatte irgendwann nicht mehr verhindern können, dass sie sich in sein Herz geschlichen hatte. Nur war Ardenwyn nicht mehr dieses liebenswürdige Kind. Das musste auch er erkennen.
Während sie rannte ging ihr Atem gleichmäßig, geriet keine Sekunde lang aus dem Takt. In einem immer gleich bleibenden Rhythmus trommelten ihre Füße auf den Boden. Sie hatte so wenig dabei, das sie das Gewicht des Beutels kaum wahrnahm. Die meisten Leute schenkten ihr kaum mehr als einen zweiten Blick. Es war nicht unüblich, dass die Leute hier um ihr Leben rannten. Meist rannten sie auch einfach bloß vor Krenas Schlägern davon, die die überfällige Miete eintreiben wollten. Obwohl man sich doch lieber von Krenas Schlägern fangen ließ, als von Krena selbst.
»Wen haben wir denn da?«, ertönte plötzlich eine samtweiche Stimme. Wie erstarrt verharrte sie in ihrer Bewegung. Feine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Bitte nicht. Sie hatte geahnt, dass es nicht leicht werden würde, das Labyrinth zu verlassen. Das Labyrinth gab ungern her, was es bereits in seinen Klauen gehabt hatte.
Schnell zwang sie sich um Fassung und drehte sich betont ruhig um. Hoch oben am Rande des Daches hockte eine Gestalt. Das Licht der Sonne, das den Boden zwar nicht erreichte, dafür aber das Wesen, verhinderte, dass Ardenwyn ihr Gegenüber sehen konnte. Stattdessen sah sie nur einen dunklen Schemen im hellen Licht. Eines jedoch wusste sie: Das war nicht Arroh.
Gemächlich erhob sich die Gestalt. Anstelle von Armen breitete sie ihre Flügel aus. Ardenwyn wurde ganz schlecht. Von allen Übel musste es ausgerechnet ein Federgeist sein. Genau davor hatte sie sich gefürchtet. Sie zweifelte nicht daran, dass dieser Federgeist der Bande angehörte.
Mit einem einzelnen Schlag seiner mächtigen Flügel erhob sich die Gestalt in die Luft und landete mit einem breiten Lächeln auf den schmalen Lippen vor ihr. »Arda Elster, nehme ich an.«
»Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Das Lächeln des Federgeists wurde breiter. Er war kaum älter als sie selbst, doch die Kälte in seinen Augen zeugten davon, dass er bereits Dinge gesehen haben musste, die niemand hätte sehen sollen. Die wunderschönen bläulichen Federn standen im starken Kontrast zu der Grausamkeit, die sich in seinem Gesicht abzeichnete. Die Federn auf seinem Kopf, die seine Haare ersetzten, waren eine Spur dunkler als die Federn seiner Flügel. Ardenwyn musste nicht nach unten schauen, um zu wissen, dass er keine Füße sondern Vogelklauen hatte. Federgeister waren schöne, aber auch durchaus gefährliche Wesen.
»In deinem Fall bin ich dein Tod.«, sagte der junge Federgeist und sein sanftes Lächeln verursachte ihr eine eisige Gänsehaut. Wenig von all dem Schrecken und dem Leid berührte sie noch. Aber dieser junge Mann ließ sie schaudern.
»Zieh lieber keine voreiligen Schlüsse.«, meinte sie so gelassen wie eine Spinne, in deren Netz sich eine Fliege verfangen hatte.
»Wir werden sehen.«, erwiderte der Mann mit den herrlichen blauen Federn. Sein Lächeln wandelte sich zu einem grausamen Grinsen. »Und jetzt lauf. Lauf um dein Leben, Arda Elster.«
Das ließ Ardenwyn sich nicht zweimal sagen. Ein kurzer Blick auf den Federgeist hatte gereicht, um sie wissen zu lassen, dass sie gegen ihn keine Chance hatte. Der Körper des jungen Mannes war kräftig. Seine Stärke würde ihre übertrumpfen. Und erhob er sich erst einmal in die Lüfte, würde er an Schnelligkeit nicht mehr zu überbieten sein. Seine Augen waren um Welten besser als ihre und seine Klauen überboten jede Waffe, mit der die Diebin sich hätte verteidigen können.
Sie wusste, wann es besser war, die Flucht zu ergreifen. Auch wenn das den Jäger in ihm nur weiter anheizen würde. Eine andere Wahl blieb ihr nicht. Ihr blieb nur dieser eine Versuch. Versagte sie, hatte sie ihr Leben verwirkt.
Also drehte sie sich um und rannte. Hinter ihr ertönte das freudige Lachen des Federgeists. Sie musste sich an die schmalen Gassen wenden. Die Flügelspanne des Federgeists würde ihm einige Probleme bereiten, sie in einer dieser Gasse zu erwischen, sodass er ihr entweder zu Fuß oder über den Dächern des Labyrinths folgen musste. Sie musste ihn auf Abstand halten. Nur so hatte sie eine Chance. Schlossen sich seine Klauen erst einmal um ihren Körper, gab es kein Entkommen mehr.
Dann blieb nur noch ein Problem: Seine Augen. Egal, wie lange sie durch das Viertel rennen würde: Er würde sie nicht verlieren. Und anders als er würde sie schneller müde werden. Er war ein Federgeist und auf die Jagd spezialisiert. Wenn nötig würde er ihr so lange folgen, bis sie mit blutigen Füßen zusammenbrach.
Während sie rannte und ihr der geflügelte Mann wie der Tod im Nacken saß, ging sie in Gedanken ihre Optionen durch. Sie musste sich von den breiteren Gassen fernhalten. Darauf zu vertrauen, dass Arroh sie jetzt doch noch fand und ihr aus der Patsche half, kam nicht in Frage. Sie würde ihr Leben nicht allein von einer Hoffnung abhängig machen. Das bedeutete, dass sie wie immer auf sich allein gestellt war.
Es würde ihr auch nichts bringen, das Labyrinth zur Marktstraße hin zu verlassen. Das würde den Federgeist nicht davon abhalten, sich auf sie zu stürzen, sobald sie die schützenden Mauern hinter sich ließ. Und schneller als die Wachen eingreifen könnten, wenn sie überhaupt einen Finger für eine Ratte des Viertels des Abschaums rühren würden, wäre der Federgeist wieder verschwunden.
Nein, die Marktstraße kam nicht in Frage. Ebenso wenig konnte sie sich über den Rand des Labyrinths in die Tiefen des Sonnenflusses stürzen, zumal sie davon ausging, dass ihr Verfolger sie einfach aus der Luft klauben würde. Da wäre sogar der Tod in den Fluten angenehmer, als das, was sie erwarten würde, bekäme er sie zu fassen.
Die Diebin musste sich schnell entscheiden. Eine kopflose Flucht war ebenso gefährlich, wie wenn sie das falsche Ziel auswählen würde. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich in einer Sackgasse selbst den Weg abschneiden. Und dieses Mal würde es ihr auch nichts bringen, die Mauern hinaufzuklettern und zu versuchen, über die Dächer zu entkommen. Dort oben würde sie sich auf dem Präsentierteller befinden.
»Lauf, lauf, kleine Maus.«, gurrte ihr Jäger. »Der Tod findet dich. Du kannst ihm nicht entkommen. Er wird dich verschlingen, sodass nicht einmal mehr ein einzelner Finger für die Totengrube übrig bleibt!«
Da! Das war er! Der letzte Ausweg! Sie hatte keine Zeit, Erleichterung zu empfinden. Denn jetzt musste sie den Schutz der schmalen Gasse verlassen und in den Strom der breiten Gasse eintauchen. Abrupt verließ sie den Weg, der vor ihr lag und wandte sich nach links. Der Schatten des Federgeists lag unaufhörlich wie eine stumme Drohung auf ihr.
Der plötzliche Luftzug verriet ihr, dass der Jäger auf sie zu stürzte. Gerade rechtzeitig warf sie sich zur Seite. Mit einem Knurren kam der Federgeist nur Millimeter vor einer schweren Wand aus Stein in der Luft zum Stehen. Zornig funkelten seine hellen Augen ihr entgegen, doch sie ließ sich keine Zeit, sich an ihrem kleinen Triumph zu erfreuen. Sie rannte. Unheilvoll fuhren die Klauen über den Stein und erzeugten ein kratzendes Geräusch, das ihr wie der rasselnde Atemzug des Todes vorkam.
Ihre Muskeln begannen langsam zu brennen. Ihre Lungen protestierten. Doch sie rannte weiter, gab nicht nach. Sie zwang ihren Atem denselben Rhythmus beizubehalten, ignorierte das beginnende Seitenstechen. Ewig konnte sie so nicht weitermachen. In etwa wusste sie, wo sie sich gerade befand und ahnte, wie weit sie es noch hatte.
Nur noch ein bisschen. Nur noch ein kleines bisschen.
Jedes Mal, wenn sie auf Leute stieß, sprangen diese augenblicklich zur Seite, sobald sie den gefiederten Jäger hinter oder über ihr erblickten. Es ängstigte sie zu wissen, dass nur einer dieser Leute ihr zu spät ausweichen musste, um ihr Ende zu besiegeln. Jeder Fehler könnte ihr letzter sein. Fehler würden ihr nicht verziehen werden. Und das schrecklichste war, dass dieser Fehler auch ein Zufall sein könnte. Also nichts, über das sie die Kontrolle hatte.
Aber von diesen Gedanken ließ sie sich nicht beeinflussen. Nicht jetzt. Also rannte sie. Zwang ihre Beine weiter, so sehr ihre Muskeln auch protestierten. So sehr ihr Körper auch gequält aufschrie. Ardenwyn war keine Ausdauerläuferin. Ihre Stärken lagen im Sprinten und im Klettern. Nicht jedoch darin, über längere Distanz eine hohe Geschwindigkeit beizubehalten.
Nur noch ein bisschen weiter.
Im Kopf ging die die Biegungen durch, die noch vor ihr lagen. Rechts, links, links, links, rechts. Den Gang, der sie in die Freiheit entlassen würde, sah sie bereits vor ihrem geistigen Auge. Dort würde es sich entscheiden.
»Du entkommst mir nicht, kleine Elster!« Die Stimme war von solch einer Sanftheit, dass selbst das ruhige Wasser eines Teiches ruppig dagegen erschien.
Ardenwyn sparte sich eine Antwort. Sie benötigte jedes bisschen Luft, das ihr zur Verfügung stand. Sie spürte jede Bewegung seiner Flügel. Spürte jeden Windstoß, den ihr Schlagen verursachte. Und es gefiel ihr überhaupt nicht, dass der erzeugte Wind ihr nun viel näher war. Die Spitzen der Flügel sah sie bereits aus den Augenwinkeln. Bald schon könnte er seine Klauen nach ihr ausstrecken und sie packen.
Noch ein bisschen.
Die Diebin sah den Platz, in dem die Gasse mündete wie ein Fluss im Meer. Der bestialische Gestank trieb ihr die Tränen in die Augen. Hoch türmten sich die finsteren Mauern um den Platz auf, der am äußersten Rand des Labyrinths lag. Von ihrer Position aus konnte sie noch nicht den schmalen Spalt sehen, der auf der anderen Seite des Platzes zwischen zwei Mauern im Nichts endete. Ihr Weg in die Freiheit.
Sie spürte das Zögern des Federgeists, als dieser erkannte, wohin sie ihn geführt hatte. Ein letztes Mal bündelte sie all ihre Kraft und beschleunigte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Das Blut rauschte ihr laut in den Ohren, sodass sie kaum andere Geräusche wahrnahm. Wie der Wind schoss sie aus der Gasse auf den Platz.
Fliegen summten ohrenbetäubend laut, bildeten schwarze Schwärme. Der Gestank ließ sie fast erbrechen. Süßlich und streng stach er ihr in die Nase, sodass ihre Tränen ihre Welt verschwimmen ließen.
Der Platz war groß und lauter Löcher teilten den Boden. Und in diesen Löchern lagen die leblosen Körper der Toten. Von manchen waren bloß noch weiße Knochen übrig, andere waren bereits so stark verwest, dass sich nicht mehr mit Sicherheit sagen ließ, welcher Spezies die Toten angehört hatten. Andere wiederum sahen so aus, als würden sie schlafen, wäre da nicht das Blut gewesen. Sein rot erschien wie eine Warnung.
Achtlos waren die Leichen aufeinander in die Löcher geworfen worden. Kein Lebender war zu sehen. Seit der falsche König aufgrund seines Hasses auf die Feuertänzer die in Espenjona üblichen Feuerbestattungen verboten hatte, wurden im Labyrinth jeden Morgen die Leichen eingesammelt und hierher gebracht. Jeder mied diesen Ort.
Damals, vor Avarons Herrschaft, übergaben die Adeligen ihre Toten während einer harmonischen Zeremonie dem ewigen Feuer der Flammenbucht. Einem Feuer, das niemals erlosch. Sie glaubten, dass der Körper, der zur Asche zerfällt, die Seele freigab, die somit in eine andere, friedvolle Welt wechseln konnte, um diese zu bereisen. Alle anderen, die nicht adelig waren oder in der Nähe der Flammenbucht lebten, verbrannten ihre Toten an den örtlichen Feuerstellen, an denen immer Feuertänzer zugegen waren, um über die Feuer zu wachen. Die Feuerstellen waren schöne, ruhige Orte gewesen, an denen die Hinterbliebenen die Seelen der Toten in die Freiheit entlassen konnten.
Die Totengrube war nichts davon. Sie zeugte von Grausamkeit und wies nichts als die abgrundtiefe Hässlichkeit auf. Sie brachte selbst die Bewohner des Labyrinths zum Zittern. Man sagte sich, dass die Seele von Toten, die nicht verbrannt wurden, auf ewig im verwesenden Körper gefangen waren und erst frei kamen, wenn von diesem nur noch Staub übrig war. Allerdings waren ihre Seelen aufgrund der Verwesung des Körpers verdorben und voller Bosheit, sodass sie jedem Lebenden Unheil brachten, der sich in ihre Nähe wagte.
Verunsichert war der Federgeist am Rande der Totengrube stehengeblieben. Dennoch lagen seine hellen Augen unaufhörlich auf der Diebin. Ihm war anzusehen, wie sehr er mit sich haderte. Auch er war trotz seiner Grausamkeit nicht frei von Aberglaube und zögerte.
An Ardenwyns Lippen zupfte ein Lächeln. Sie hatte ihn genau, wo sie ihn haben wollte. Sie beide waren die einzigen Lebenden hier. Nur die Toten würden ihre Zeugen sein.
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