Kapitel 8 - Ein verhängnisvoller Diebstahl | 1
Am nächsten Tag erwischte Ardenwyn sich dabei, wie sie nach einem gewissen Assassinen Ausschau hielt. Sobald sie dies aber bemerkte, verfinsterte sich ihre Miene und sie war sauer auf sich selbst. Erbärmlich.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen und weil Arrohs Auftauchen sie in ihrem Bestreben bestätigt hatte, wollte sie sich nun auf ihr Verschwinden vorbereiten. Sie war fertig hier. Also verbarg sie ihr Haar und Gesicht unter dem grauen Tuch, das sie schon am Tag zuvor getragen hatte.
Heute hatte sie tatsächlich Glück. Unbemerkt wie ein Schatten huschte sie durch die verdreckten Gassen des Labyrinths und die Leute, an denen sie vorbeiging, suhlten sich zu sehr in ihrem eigenen Elend, als dass sie die Diebin bemerkten. Ungesehen gelangte sie aus dem Viertel und atmete erleichtert auf, als sie die altbekannte Marktstraße erreichte. Allerdings bleib der unschöne Gedanke an ihr haften, dass sie es vielleicht nicht mehr so leicht haben würde, wie jetzt, wenn sie sich wirklich zum Aufbruch bereit machen würde. Im Stillen wünschte sie sich, sie hätte diese verfluchte Stadt schon viel früher verlassen. Vielleicht waren ihre Sorgen gänzlich unbegründet, dass sie in einer anderen Stadt nicht ebenso Fuß fassen könnte, wie hier. Ja, sie würde vermutlich wieder ganz neu anfangen müssen. Aber eben nicht von null an. Dafür dankte sie den drei Assassinen, bei denen sie aufgewachsen war. Auch, wenn sie das niemals aussprechen würde.
Aufmerksam schwenkten ihre goldenen Augen über das rege Treiben. Verkäufer priesen lauthals ihre Waren an, die Augen der Wachen hielten alles im Blick, wie Adler, die nach ihrer Beute suchten. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie die Wache namens Jona erblickte, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit einen kleinen Jungen ausgepeitscht hatte. Wie gerne sie ihm dafür die Haut von den Knochen gezogen hätte. Der Hass in ihr rührte sich. Leise und klein, wie ein winziges Vöglein, das auf seine Fütterung wartete.
Sie wandte sich ab und ließ es hungern. Heute würde sie nicht auf der Marktstraße stehlen. Denn würde sie hierbleiben, würde der Hass vielleicht gewinnen.
Also ließ sie die bunte Straße hinter sich, betrat den Platz der Könige, wobei sie die Burg tunlichst ignorierte, und bog auf die Hautstraße ab. Obwohl die Sonne noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht hatte, tummelten sich viele Leute auf der Hautstraße. Ardenwyn registrierte nur wenige Wachen. Umso besser.
Wie immer ließ sie ihren Blick betont gleichgültig schweifen, visierte niemanden direkt an. Stattdessen schlenderte sie gemächlich über die Straße, schenkte mal diesem, mal jenem Geschäft ihre Aufmerksamkeit.
Frauen in eleganten Kleidern, die in allen erdenklichen Farben leuchteten, standen in einer Gruppe beisammen und unterhielten sich gut gelaunt. Ein paar Meter weiter starrte ein gut gekleideter Mann griesgrämig auf das Blatt Papier, das er in seinen Händen hielt. Aus dem Augenwinkeln bemerkte sie einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen, die sich beide halb hinter dem Stand mit Holzschnitzereien versteckten und begierig auf die Auslage eines Obsthändlers starrten. Nichts davon war interessant.
Also ging sie weiter, betrachtete die bunte Wäsche, die hoch oben in den Gassen hing, die von der Hautstraße abgingen. Dann erblickte sie ihn. Hoch gewachsen, breitschultrig. Gekleidet in einen dunklen, aber ganz bestimmt teuren Mantel. Den Hut hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, sodass anstelle seines Gesichts bloß Schatten zu sehen waren. Dennoch entgingen ihr nicht die finsteren Blicke, die er allen Leuten in seiner Nähe zuwarf. Die Hände hatte er tief in seinen Manteltaschen vergraben. Ardenwyn verkniff sich ein triumphierendes Lächeln.
Betont interessiert blieb sie an dem Obststand stehen, nahm einen der rubinroten Äpfel in ihre Hand und betrachtete ihn eingehend von allen Seiten. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den Mann im Mantel, der nun an ihr vorbei ging. Seine Schritten waren lang und zielstrebig.
Die Diebin legte den Apfel wieder zurück, drehte sich gespielt unentschlossen wieder um und folgte dem finsteren Mann in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie versuchte gar nicht erst, mit dem Riesen Schritt zu halten, denn das wäre viel zu auffällig. Stattdessen lief sie gemächlich, schwenkte mal nach links, mal nach rechts. Den Blick richtete sie niemals auf den Mann. Der schien seine Verfolgerin nicht zu bemerken. Selbst dann nicht, als sie schon fast den Platz der Könige erreicht hatten. So langsam dämmerte der Feuertänzerin, welchen Weg er einschlagen wollte.
Die Burg. Der Mann im Mantel wollte zur Burg. Nun konnte nichts mehr sie davon abbringen, dieses Mann zu bestehlen. Ein Mann – ein Mensch – der mit solch einem Selbstbewusstsein auf die Burg zuschritt, als wäre er dort selbstverständlich willkommen, verdiente nichts anderes als bestohlen zu werden. Ganz sicher war er kein Bediensteter und das wiederum bedeutete, dass er auf irgendeine Weise in Avarons Gunst stand.
Sie erreichten den Platz der Könige, auf dem das Gewusel groß war. Gut so. Nur noch ein bisschen weiter. Bald schon hatte er das Tor zur Burg erreicht. Langsam beschleunigten sich ihre Schritte und sie visierte die Stelle neben dem Fremden an.
»Hey, du!«, rief sie plötzlich. Laut genug, dass sich der Fremde umdrehte und die Schatten in seinem Gesicht noch dunkler wurden. Geradewegs schritt sie auf ihn zu und er zog augenblicklich seine Hände aus den Taschen, um sie abzuwehren. Umso überraschter war er, als sie den kleinen Jungen neben ihm am Arm packte. Erschrocken starrte dieser aus geweiteten Augen zu ihr auf.
»Lass gefälligst deine Finger bei dir!«, herrschte sie ihn an. Seine Kleidung war dreckig und zerschlissen. Mit jeder Sekunde weiteten sich seine Augen ein Stück mehr. Die Angst ergriff ihn unbarmherzig wie der tückische Treibsand in der Wüste von Kahn.
»A-Aber... Ich w-wollte nicht ...«, stammelte er und die Tränen ließen seine Augen funkeln. Panisch huschte sein Blick zu den Wachen.
»Ja. Natürlich.«, meinte Ardenwyn bloß herablassen, ehe sie den Jungen gegen den finsteren Mann stieß, der ihn aus einem Reflex heraus packte. Die Diebin schenkte keinen von beiden mehr einen Blick, ehe sie haarscharf an dem Mann vorbei ging, ihre flinken Finger sich blitzschnell in seine rechte Manteltasche schoben, einen relativ schweren Beutel umschlangen und genauso unbemerkt wieder in Ardenwyns eigene Hosentasche wanderten. Dann war sie auch schon an ihm vorbei.
Ein letztes Mal schaute sie unbemerkt prüfend zurück, doch der Mann hatte nicht bemerkt, dass er gerade um einige Goldmünzen erleichtert worden war. Bloß der kleine Junge starrte ihr mit offenem Mund hinterher, als sie ihm ein entschuldigendes Lächeln zuwarf und in der Masse untertauchte.
In einer der Gassen an der Grenze zum Labyrinth, die immer verlassen waren, blieb sie schließlich stehen. Aufmerksam sah sie sich um. Die Gasse, in der sie gelandet war, war schmal und der Boden war vom Dreck ganz braun, während der Putz von den Mauern rieselte. Sie war allein.
Neugierig zog sie den kleinen Beutel aus ihrer Hosentasche und wog ihn in ihrer Hand. Wie sie bereits in der Manteltasche des Mannes vermutet hatte, war sein Gewicht ganz ordentlich. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Gerade jetzt kam ihr ein solch prall gefüllter Beutel voll Geld sehr gelegen. Wenn sie Glück hatte, könnte sie sich jetzt genügend Vorräte für ihre Reise kaufen und hätte am Ende noch genug übrig, um in dem Elendsviertel ihrer neuen Stadt neu anzufangen. Natürlich erst, wenn sie sich eine Stadt ausgesucht hatte. Vielleicht würde sie nach Alba gehen, der Minenstadt. Oder aber in die Stadt am Wechselsee, einen Ort voller Ruhe und Abgeschiedenheit.
In Erwartung lauter goldener Sonnenmünzen zu erblicken, öffnete sie den Beutel. Augenblicklich blinzelte sie überrascht. Das waren keine Münzen. Stattdessen starrte sie auf dreizehn Perlen. Kugelrund und aalglatt. Ihre Farben schimmerten mit der Sonne um die Wette, sobald ihr Licht auf sie traf. Ardenwyn lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Eine Perle war intensiv grünlich und mit gelben Sprenkeln versehen. Gift.
Eine andere wiederum in einem Moment völlig farblos, während sie im anderen nur so vor lauter unterschiedlicher Farben blitzte. Wandler.
Die Perle daneben blitzte gelb und war mit einer leicht dunklen Färbung versehen. Donner.
Eine war in einem solchen tiefschwarz gehalten, dass sie mit der Dunkelheit im Beutel zu verschmelzen schien. Schatten.
Und dann sah Ardenwyn die feuerrote Perle, die golden schimmerte, sobald das Sonnenlicht sie küsste. Feuer.
Abrupt zog die Diebin, deren Gesicht mittlerweile so weiß wie der Schnee war, den Beutel zu. Sie brauchte die anderen Perlen gar nicht erst zu betrachten. Sie wusste auch so, was für eine unvorstellbare Kostbarkeit sie da in ihren Händen hielt. Das hier waren die legendären Perlen von Kahn. Schwer schluckte sie.
Wie eine eiserne Klaue umschloss die Verzweiflung ihr Herz, sodass sie schon glaubte, das dunkle Gewand des Todes hinter sich zu erspähen. Eine Panik, wie sie sie schon lange nicht mehr verspürt hatte, ermächtigte sich ihrer. Die Panik ließ ihre Welt verschwimmen, stürzte jeden ihrer Gedanken in vernunftloses Chaos und ließ ihre Glieder erbärmlich zittern, sodass sie befürchtete, sich nicht mehr länger auf den Beinen halten zu können. Mit einem Mal war ihr so elendig, dass sie glaubte, sich haltlos übergeben zu müssen.
Diese Perlen. Diese verdammten Perlen. Warum hatte gerade sie diejenige sein müssen, die sie stahl? Diese dreizehn kleinen, schön anzusehenden – aber auf den ersten Blick harmlosen Perlen – brachten ihr die Verdammnis. Stürzten ihr ohnehin schon in Scherben liegendes Leben ins Chaos.
Ardenwyn blieb keine andere Wahl. So sehr sie sich auch wünschte, diese verfluchten Perlen loszuwerden, sie konnte nicht. Nicht auszudenken, was für eine Macht die Perlen in den falschen Händen entfesseln würden. Ihr wurde ganz anders, als sie daran dachte, dass sie geradewegs auf den Weg zu Avaron gewesen waren, damit er sie in seine gierigen Hände bekommen konnte. Das würde niemals geschehen! Und da Ardenwyn bloß sich selbst vertraute, lag die Bürde der Perlen von Kahn nun schwer wie die Last der Welt auf ihren schmalen Schultern, drückte sie mit aller Macht nieder.
Doch Ardenwyn schwor sich, Stand zu halten. Sie war die letzte Instanz zwischen den sagenumwobenen Perlen von Kahn, denen die geballte Macht Espenjonas innewohnte, und dem falschen König. Wäre dieser in ihren Besitz gekommen, würden die magischen Wesen vom Angesicht der Welt getilgt werden und Avarons Macht wäre der eines Gottes gleich. Niemals würde die Feuertänzerin, deren Leben er zerstört hatte, das zulassen. Solange noch Atem in ihren Lungen war, solange das Herz in ihrer Brust noch schlug, würde sie kämpfen.
Einst war Kahn eine der ersten Städte Espenjonas gewesen, bevor sie vom Sand verschlungen worden war. Sie existierte bereits lange bevor die Menschen ihren ersten Schritt auf das fremde Land taten und diente als Sammelpunkt für die verschiedenen Wesen, die es bevölkerten. Noch lange Zeit, bevor die Menschen kamen, fand man die Perlen. Es waren genau dreizehn. Eine für jedes Wesen. Unter ihnen war auch eine Perlen so schwarz wie der Schatten, was darauf hin deutete, dass auch einst die Schattenfürsten Espenjona ihre Heimat genannt hatten und nicht die Schattenlande, in denen sie nun aufzufinden waren.
Jede einzelne dieser Perlen von Kahn verfügte über einzigartige Fähigkeiten, die in den falschen Händen eine unvorstellbare Zerstörung über die Welt bringen könnten. Sie liehen ihrem Träger so lange ihre Kraft, wie sie sich in seinem Besitz befanden.
Man sagte sich, dass sie einst in Kahn, als Espenjona noch ein gespaltenes Land gewesen war, das vom Krieg zerrüttet wurde, von den dreizehn Oberhäuptern der verschiedenen Wesen erschaffen worden waren, um endlich einen Ausweg aus dem nie enden wollenden Morden zu finden. Die Perlen von Kahn, in denen die jeweilige Kraft der dreizehn Oberhäupter gespeichert waren, schufen Recht und Ordnung. Danach gingen sie verloren.
Entschlossen ballte die Diebin die Hände zu Fäusten und spürte die lodernde Glut in ihrem Inneren brodeln. Lange hatte sie ihre Kräfte unterdrückt. Hatte nicht das einzige Aufflackern von Wärme geduldet. Aber Ardenwyn bestand aus Flammen und Asche. Sie war das Feuer, die Hüterin der Perlen von Kahn. Darum durfte sie nicht zulassen, dass ihre Hitze erkaltete, bis nur noch ein Häufchen von grauem Staub übrig war.
Die Zeit der Feuertänzerin war gekommen. Viel zu lange hatte sie im Untergrund gelebt. Sich versteckt wie eine verängstigte Maus in einem Labyrinth aus lauter schmutzigen Gängen aus denen es kein Entkommen gab. Aber Ardenwyn Descinere war nicht länger gewillt, die Maus zu spielen.
Sie war Feuer. Sie brauchte sich vor niemandem zu verstecken. Stellte sich ihr jemand in den Weg, würde er brennen. Dafür würde sie Sorge tragen!
Mit einem letzten glühenden Blick, der der Sonne Konkurrenz machte, schob sie sich den Beutel, mit dem kostbarsten Inhalt der Welt, der die geballte Macht der dreizehn Wesen, die Espenjona einst bevölkert hatten, in sich vereinte, in die Hosentasche. Diese Macht würde sie Avaron nicht einmal über ihre Leiche überlassen.
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