Kapitel 5 - Die Stadt mit den zwei Gesichtern | 2
Sie verkniff sich ein leises Fluchen. Der oder die Mörder waren vermutlich noch ganz in der Nähe. Wenn das hier bloß ein Racheakt gewesen war, hätte sie wenig zu befürchten. Dann könnte sie, sollte sie auf den Mörder treffen, unbehelligt ihrer Wege gehen. Aber wenn das hier ein Mord allein aus der Lust zum Töten geschehen war, würde sie aufpassen müssen. Ungern wollte sie jemandem im Blutrausch begegnen.
Das brachte Komplikationen mit sich, die sie nicht gebrauchen konnte. Außerdem bekam man Blutflecken nur sehr schwer aus der Kleidung heraus, von der Ardenwynohnehin nicht viel besaß. Und als Diebin konnte sie getrost darauf verzichten, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die blutverschmierte Kleidung nun einmal einbrachte.
Aufmerksam betrachtete die junge Frau ihre Umgebung. Ihre linke Hand schwebte über ihrer Hüfte, an der sie versteckt ihr Messer aufbewahrte. Lautlos setzte sie einen Fuß vor den anderen, lauschte. Diese Gasse führte in zwei andere. Einmal in etwa einem Meter nach rechts und wieder ein paar Meter weiter nach links. Aus beiden Gassen vernahm sie Geräusche.
Was ihr allerdings den entsprechenden Hinweis lieferte, war das heisere Gelächter aus der Gasse rechts von ihr. Dunkle Schatten legten sich auf ihr Gesicht. Jetzt blieben ihr nur noch drei Optionen: Zurück zu gehen, weiterzugehen und von den Mördern – dem Lachen nach waren es mehrere – entdeckt zu werden oder hier zu warten, in der Hoffnung, dass keiner von ihnen zurückkam und sie bemerkte.
Zurückgehen würde sie nicht. Der Umweg war es einfach nicht wert. Aber wenn sie hier wartete – was keinen Erfolg garantierte – könnte sie genauso gut viel Zeit verschwenden. Mit einem resignierten Seufzen streckte sie den Rücken durch und ging zu der rechten Gasse. Betont ruhig betrat sie diese und erblickte sogleich drei Gestalten. Eine von ihnen klein und mickrig, das Lachen geheuchelt. Hektisch huschten die Augen zwischen seinen beiden Kameraden hin und her. Ein Mitläufer. Vermutlich schwach, aber hinterlistig. Wenn sie ihn komplett ignorieren und sich mit den anderen beiden beschäftigen würde, würde er ihr vermutlich zu einem passenden Zeitpunkt ein Messer in den Rücken rammen.
Die anderen beiden waren breitgebaut und allein die Ausdrücke auf ihren Gesichtern sagten Ardenwyn, dass es sich bei ihnen um gewissenlose Kerle handelte, die sich daran labten, sich mächtig zu fühlen. Und diese Macht überkam sie, wenn sie mordeten. Ardenwyn ging nicht so weit, zu behaupten, dass ihr Opfer hilflos gewesen war. Nicht hier.
Schnell bemerkten die Mörder sie, hielten in ihrem triumphierenden Gelächter inne. Herablassend blitzen die goldenen Augen der Diebin ihnen entgegen. Kurz runzelte der Größere von ihnen die Stirn, sagte jedoch nichts dazu.
»Du kommst genau zur richtigen Zeit, Süße!«, krähte der Breitere. Offensichtlich war er betrunken, während die anderen beiden nüchtern waren. Sie ging gar nicht erst auf ihn ein. Noch immer schwebte ihre linke Hand über ihrem versteckten Messer. Innerhalb eines Wimpernschlages könnte sie es ziehen, ohne dass auch nur einer von denen etwas ahnte.
»Zur falschen Zeit.«, korrigierte der Größere grinsend. »Was für ein Pech.« Ihm fehlte ein Schneidezahn und einige andere seiner Zähne waren schwarz. Der Mickrige kicherte.
Die Diebin wusste, dass sie sich nicht die kleinste Unsicherheit anmerken lassen durfte. Noch hatte sie die Möglichkeit, unbehelligt an den drei Mördern vorbeizugehen. Dafür musste sie vollkommen furchtlos und gleichgültig wirken. Keine eingezogenen Schultern, kein leicht gebeugter Rücken. Sonst würden die drei sich auf sie stürzen wie ein Rudel Wölfe auf ein Reh. Ausstrahlung war Macht.
Sie sagte nichts. Ihr finsterer Blick sagte alles. Diese Männer konnten ihr nichts anhaben. Und ein Angriff würde ihr bloß Zeit rauben, aber nicht das Leben.
Soweit sie das beurteilen konnte, waren die Männer keine Menschen. Zumindest nicht gänzlich. Doch keiner von ihnen konnte ihr wirklich gefährlich werden. Zumal die Messer in ihren Händen darauf hindeuteten, dass sie sich lieber auf ihre Waffen als auf ihre Kräfte verließen.
Schon fast war sie an ihnen vorbei, als der Große sie fest am Arm packte. »Wage es nicht, uns zu ignorieren!«, zischte er. Das Grinsen war ihm vergangen. Stattdessen vertiefte sich eine wütende Falte auf seiner Stirn. Natürlich musste sie gerade an solche Leute geraten. Sie hätte es ahnen müssen. Es war ihr Fehler. Ihr war bereits klar gewesen, dass die drei es liebten, Macht zu haben. Da sie sie ignoriert hatte, hatte sie ihre Macht als wertlos betitelt. Aber sich ängstlich zu geben wäre auch der falsche Weg gewesen.
»Fass mich nicht an.«, sagte Ardenwyn. In ihrer Stimme schwang eine deutliche Drohung mit. Doch die drei schienen sie nicht zu bemerken oder sie nahmen sie nicht ernst. Fehler.
»Töte sie! Töte sie!«, feuerte der Mickrige den Großen an. In seinen Augen schimmerte der Hauch von Wahnsinn. Den beiden anderen schien es zu gefallen. Der Breitere kam mit dem Messer auf sie zu, während der Größere noch fester zupackte. Sie konnten nicht ahnen, dass sie den besten Lehrer gehabt hatte, bei dessen bloßem Erscheinen die Leute vor Furcht Reißaus genommen hatten. Ihr Training war mit Schweiß und Tränen verbunden gewesen. Natürlich hatte er ihr nur beigebracht, was sie zum Überleben in diesem Viertel brauchte. Schließlich hatte er niemals vorgesehen, dass sie sich derselben Tätigkeit annahm, wie er selbst.
Sie zitterte nicht. Sie war ganz ruhig. Ihre Gedanken kreischten nicht ohne Sinn und Verstand wie damals, als sie hierher kam. Ihr Kopf war ganz klar. Vorsichtig und langsam bewegte sie ihre linke Hand zu ihrem Messer. Niemand bemerkte es, aber sie hatte ohnehin dafür gesorgt, dass ihre Hand in dessen Nähe war.
Sie brauchte ihr Feuer nicht. Und das war gut so.
Blitzschnell hatte sie ihre Waffe gezogen und bevor der Große es überhaupt bemerkt hatte, sprudelte Blut wie aus einer Quelle aus seiner Kehle. Tauchte sein dreckiges Hemd in nasses Rot.
Überrascht ließ er Ardenwyn los, zitternd bewegte sich seine Hand an seine Kehle, versuchte zu verhindern, dass der Lebenssaft verloren ging. Gurgelnd starrte er sie aus großen, bereits erlöschenden Augen an.
Seine beiden Komplizen waren in eine Schockstarre gefallen. Sie mochten vieles erwartet haben. Aber ganz sicher nicht, dass diese zierliche junge Frau in Sekundenschnelle ihren Anführer tötete.
Der Mickrige tat, was sie bereits vermutet hatte: Er floh. Womöglich würde er Hilfe holen. Das dufte sie nicht zulassen. Wenn er, wie auch die beiden anderen, zu einer Bande gehörten, würde diese Rache an ihr nehmen wollen.
Zu ihrem Leidwesen war der Mickrige schnell. Normalerweise wäre das kein Problem gewesen, wäre der Breite nicht auch da. Dieser hatte sich aus der Starre gerissen und keinerlei Logik folgend, stürmte er wütend auf sie zu, hieb wie blind mit dem rostigen Messer nach ihr.
Mit Leichtigkeit wich sie geschickt aus. Die Klinge kam ihr nicht ein einziges Mal zu nahe. Leider heizte das die Wut des Breiten nur noch mehr an. Brüllend wollte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie werfen, doch wieder verfehlte er sie und lag nun ungeschützt vor ihr auf dem Bauch.
Ardenwyn durfte nicht zulassen, dass er am Leben blieb. Wäre sie ein Mensch gewesen, der außerhalb des Labyrinth-Viertels gelebt hätte, hätte sie die Wachen um Hilfe gebeten. Diese hätten den Mann abgeführt und ihr hätte man Schutz versprochen, falls sich herausstellte, dass er tatsächlich zu einer Bande gehörte.
Aber sie lebte nirgendwo anders. Und darum war sie für ihren eigenen Schutz verantwortlich. Da sie keine Zeit vergeuden wollte – Wer wusste schon, ob der Mickrige bereits Hilfe angefordert hatte – schnitt sie dem Mann ohne zu zucken die Kehle durch. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, steckte sie ihr Messer wieder ein und rannte los. Sie musste den Mickrigen abfangen!
Jedoch konnte dieser bereits überall sein. Hier gab es unendlich viele Abzweigungen, weshalb sie nicht einmal erahnen konnte, wohin er gegangen war. Und so folgte sie Honras Geist.
Diese Gasse war zu breit, als dass sie sich an den Wänden hätte abstoßen können, weshalb ihre Finger sich in die raue, unebene Fassade des Hauses bohrten und sie begann, sich hochzuziehen. Schnell, aber geübt, kletterte sie an dem Haus hoch, bis die hohen Mauern endlich den Himmel freigaben.
Warm schien ihr die Sonne auf das Gesicht, während der Wind sanft mit ihren kupfernen Haaren spielte. Die Dächer im Labyrinth waren meist flach, was ihr zugute kam.
Außerdem hatte Ardenwyn von hier oben einen wunderbaren Blick auf die Gassen. Und weil die Häuser alle so nah standen, konnte sie sich problemlos über die Gassen springen. Auf diese Weise würde sie den Mickrigen schnell finden.
Die Dächer waren menschenleer. Natürlich war das kein Wunder, immerhin waren die Wände ziemlich hoch und hier herauf zu kommen, war ein gewaltiger Ausdauer- und Kraftakt. Wenn Honra sie jetzt nur sehen könnte. Sie wusste nicht, ob er stolz oder entsetzt wäre. Er hatte sie immer von seiner Tätigkeit fernhalten wollen.
Doch auch als Diebin hatte es sich bereits ausgezahlt, an Wänden hochklettern zu können.
Von oben erschien das Labyrinth ganz anders. Als wäre es eine ganz andere Welt. Ardenwyn machte sich daran, nach dem Geflohenen zu suchen. Der Wind blies ihr so stark ins Gesicht, als wollte er sie davon abhalten. Wie ein Raubvogel glitt sie über die Dächer des Viertels und spähte in die dunklen Gassen.
Da! Keuchend hatte der Mickrige sich in einer Sackgasse an ein vergittertes Fenster gelehnt. Zum Glück hatte sie ihn noch rechtzeitig gefunden! Vielleicht gehörte er auch keiner Bande an und sie machte sich völlig umsonst Sorgen, doch sie wollte auf keinen Fall nachlässig werden. Das konnte sie sich nicht leisten.
Leise glitt die Diebin vom Dach und war schnell wieder am Boden angelangt. Als der Mickrige sie bemerkte, zuckte er sichtlich zusammen. Zuerst spiegelte sich Angst in seinen Augen, ehe sie von seinem Grinsen vertrieben wurde, das gar nicht zu einem Mann passen wollte, der in der Falle saß.
Augenblicklich spannte sich die Feuertänzerin an. In ihr tönten die Alarmglocken. Etwas stimmte nicht. Aufmerksam glitt ihr goldener Blick zu den Häusern, deren Eingänge sich rechts und links von ihr befanden. Innerlich schalt sie sich.
Der Mickrige gehörte einer Bande an. Und sie war ihm geradewegs vor die Haustür gefolgt. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können? Sie hätte sich zuerst um den Fliehenden kümmern sollen! Der Andere wäre nicht so schnell gewesen und hätte demnach niemanden informieren können. Aber sie hatte auch nicht wissen können, wie nah oder fern die Bande war.
»Wenn das nicht die goldenen Augen der Elster sind.«, ertönte auf einmal eine Stimme. Ein Mann trat aus der Tür neben dem Fenster, an das sich der Mickrige gelehnt hatte. Seine Gestalt war kräftig und Ardenwyn zweifelte nicht daran, dass er sie selbst unbewaffnet überwältigen könnte. Jemand wie er hatte nicht ohne Grund das Kommando über eine Bande.
Einige Narben verunstalteten sein Gesicht. Manche waren hauchdünn, während andere dick und ungleichmäßig waren. Den Kopf hatte er sich kahlgeschoren, was seine Narben nur noch mehr zur Geltung brachte und er war definitiv besser gekleidet, als die drei Mörder, auf die sie gestoßen war.
»Eigentlich hatte man mir berichtet, dass du eine Diebin seist. Jetzt aber muss ich feststellen, dass du eine Mörderin bist.«, sagte der vernarbte Bandenführer und trat gelassen aus der Tür. Er schien nicht die geringste Sorge zu haben, dass sie ihm etwas antun könnte. Eingehend musterte er sie.
Finster sah sie ihm entgegen. Ihr gefiel diese Situation nicht. Aber das musste er ihr nicht gleich ansehen. Sie ging davon aus, dass sie schneller war als er und sie musste ihre Möglichkeiten realistisch abschätzen. In einem Kampf zog sie womöglich den Kürzeren. Zwar war die Kraft nicht immer ausschlaggebend, doch hier, in der schmalen Sackgasse, schätzte sie ihre Chancen gering ein. Ganz fatal wäre es, wenn man sie so weit drängen würde, bis sie schließlich nicht mehr die offene Gasse, sondern die Mauer im Rücken hätte.
Natürlich hätte sie hier auch alles niederbrennen können. Doch auf lange Sicht wäre das nicht vorteilhaft. Jetzt würde es ihr vielleicht helfen. Aber wenn Avaron Wind von einem Feuer bekäme, von dem die Leute eventuell der Meinung wären, dass es auf mysteriöse Weise ausgebrochen wäre ...
Nein. Das war keine Option.
»Mir ist es egal, ob du nun eine Diebin oder eine Mörderin bist, Elster.«, sagte der Bandenführer gelassen und trat noch einen Schritt auf sie zu. »Meinetwegen kannst du so viele Leute töten, wie du willst. Nur nicht meine.« Ardenwyn ahnte, worauf es hinauslief. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Ein amüsiertes Grinsen legte sich auf seine Lippen und verzerrte seine Narben. »Du redest dich gar nicht raus.«, stellte er fest.
»Weil es rein gar nichts ändern würde.«, meinte sie trocken. Man würde ihr nicht glauben, würde sie lügen und behaupten, sie hätte die beiden Männer nicht getötet. Selbst, wenn es der Wahrheit entsprochen hätte, würde man ihr nicht glauben.
Doch wie sollte sie sich jetzt aus dieser Situation befreien? Jetzt würde man sie aus Rache töten wollen. Und es würde nicht ausreichen, den Bandenführer und den Geflohenen zu beseitigen, da es jetzt wahrscheinlich die gesamte Bande wusste. Ardenwyn konnte nicht einfach die gesamte Bande auslöschen. Mit ihrem Feuer könnte sie es womöglich, aber das war keine Option. Außerdem zog es Aufmerksamkeit auf sich, wenn von einem auf den nächsten Tag eine ganze Bande ausgelöscht worden wäre.
»Nein.«, stimmte der Bandenführer ihr zu. »Und du weißt auch, was jetzt mit dir passieren wird.« Natürlich wusste sie das.
Als sei das das Kommando gewesen, erschienen die ersten Gestalten auf den Türschwellen und hinter den zerbrochenen Fenstern. Die Ersten verließen die Gebäude, stellten sich hinter und neben ihrem Bandenführer auf. Alle mordlustigen Blicke lagen auf Ardenwyn.
Angespannt presste sie ihre Zähne fest aufeinander. Ihr Herz wie auch ihr Verstand rasten. Sie musste hier weg! In einer solch aussichtslosen Lage war sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen und damals hatte sie sich dem meist in Begleitung gestellt. Aber jetzt war sie allein. Es gab nur noch sie. Und sie hatte nicht vor, auch noch vom Angesicht der Welt zu verschwinden.
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