Kapitel 3 - Die verdorbene Stadt | 5
Schließlich wurde die junge Diebin gemeinsam mit vielen anderen aus der Marktstraße gespült und plötzlich befand sie sich auf dem Platz der Könige. Das war ein großer Platz, der mit Steinpflaster ausgelegt worden war. Außerdem befand er sich genau vor der eindrucksvollen Burg. Hier befand man sich genau in der Mitte der Hauptstadt. Dementsprechend konnte man jedes Ende der Stadt gleich schnell erreichen.
Wenn sie sich nach rechts wandte konnte sie die scheinbar nicht enden wollende Hauptstraße sehen, die ohne Umwege direkt aus der Stadt heraus führte. Und wenn sie nach links sah, baute sich die Burg bedrohlich vor ihr auf. Wie ein dunkles Versprechen ragte das alte Gemäuer in den Himmel hinauf. In diesem Moment kam sie sich so unglaublich winzig vor.
Sie schluckte. Das Tor, das durch die dicken Schutzmauern führte, befand sich nur wenige Meter von ihr entfernt. Die Versuchung, dort einzudringen, war unfassbar groß. Avaron war in greifbarer Nähe. Zumal das Tor nicht einmal geschlossen war. Natürlich waren dort Wachen positioniert, doch wenn sie es wirklich darauf anlegen würde, wären zumindest die kein Problem für sie.
»Bitte lasst mich gehen!«, rief der Junge panisch, der endlich seine Stimme wiedergefunden zu haben schien. Mittlerweile hatten die Wachen ihn auf den hölzernen Podest gezerrt, der sich genau in der Mitte des Platzes befand. Immer mehr Schaulustige versammelten sich um das Podest herum. Langsam, aber stetig, füllte sich der Platz der Könige. Die Nachricht der Auspeitschung hatte sich rasend schnell herumgesprochen und auch aus anderen Straßen und Gassen kamen die Leute herbei.
Unbarmherzig drückte Jona den jungen Wandler mit dem Gesicht voran gegen den aufgestellten Holzpfahl. Schweigend umrundete Theodor den Pfahl und band die Hände des Jungen daran fest, sodass er mit dem Rücken zu Jona stand und nicht fliehen konnte. Der Junge zitterte am gesamten Leib.
Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, das mittlerweile vollkommen nass war. Panisch flackerten seine Augen ruhelos umher. Ängstlich zerrte er an seinen Fesseln, doch sie saßen zu fest.
Mit bedrückter Miene trat Theodor zurück. Er stellte sich an die hintere Ecke des Podests, während Jona vortrat und die Menge ernst musterte. Wortlos entfernte er die Peitsche von seinem Gürtel und begann sie langsam aufzurollen. Zufrieden sah er zu, wie sich der Platz immer weiter füllte.
Mittlerweile war es so voll, dass Ardenwyn sich kaum mehr großartig bewegen konnte. Dicht gedrängt war sie von Menschen eingekesselt, deren Körper sich unangenehm an sie rieben. Der Geruch von Schweiß stieg ihr in die Nase. Die Sonne stand hoch am Himmel.
»Hochgeschätzte Bürger von Mortas Potera!«, rief Jona mit kraftvoller Stimme. Augenblicklich wurde es leise. Nur unverständliches Gemurmel war noch zu vernehmen. »Dieser Junge wurde dabei erwischt, wie er einen hinterlistigen Diebstahl beging! Bei einem Kind seines Alters ist die Strafe dafür fünf Hiebe mit der Peitsche. Da sich allerdings herausgestellt hat, dass er ein Wandler ist, wurde die Strafe auf zehn Hiebe mit der Peitsche angehoben!« Ein lautes Gemurmel ging durch die Zuschauermenge.
»Bestraft ihn!«, ertönte plötzlich ein Ruf aus den Tiefen des Menschenmeeres.
»Ja! Bestraft ihn!«, schlossen sich dem weitere Rufe an. Zustimmendes Gebrummel. Auf Jonas Lippen breitete sich ein Grinsen aus.
»So soll es sein!«, bestimmte er, wandte sich dem armen Jungen zu, dessen Beine so stark zitterten, dass er kaum noch stehen konnte. Grob wurde er von Jona am Hemdkragen gepackt und mit einem einzigen Ruck wurde ihm das dünne Hemd vom mageren Leibe gerissen. Erschrocken schrie der Junge auf.
Betont gemächlich positionierte Jona sich hinter ihm. Mit einer übertrieben langsamen Bewegung hob er die Peitsche. Ardenwyn verzog ihr Gesicht. Dieser Mann war absolut widerlich. Er machte sogar aus einer Auspeitschung ein Event. Als ob er den Leuten etwas bieten wollte. Als wäre das hier nur der Unterhaltung wegen. Am liebsten hätte sie Jona an die Stelle des Jungen gepackt.
Urplötzlich holte Jona aus und die Peitsche zischte schneidend durch die Luft. Mit einer unglaublichen Kraft knallte sie auf den ungeschützten Rücken des Jungen. Das alles geschah so schnell und mit solch einer Wucht, dass der Junge stumm den Mund aufriss, wie auch seine Augen. Diese schienen so unnatürlich groß, als würden sie ihm jeden Moment aus dem Kopf springen.
Schleichend langsam vergingen eine Handvoll Sekunden, dann ertönte ein immenser Schrei. Dieser war so schauderhaft schrill und kam aus tiefster Seele. Es war beinahe unvorstellbar, dass er der Kehle dieses mageren Jungen entsprungen war.
Auf seinem Rücken war ein langer, roter Striemen zu sehen. Der Wandler konnte sich gar nicht erst von dem ersten Hieb erholen, da folgte auch schon der zweite. Dieses Mal bohrte sich die Peitsche noch tiefer in sein Fleisch. Blut spritzte. Der Junge schrie sich die Lungen aus dem geschundenen Leib.
Ardenwyn wandte den Kopf ab. Sie wollte das nicht sehen. Zwar hatte sie schon viel Grauenhaftes gesehen, doch das hier konnte sie nicht. Er hatte doch nur Geld zum Überleben gebraucht. Dafür hatte er stehlen müssen. Ein weiterer Knall ließ die Luft erzittern. Gefolgt wurde er von einem Schrei, noch schrecklicher als der vorherige.
Neben ihr zuckte ein Mann zusammen und kniff gequält seine Augen zusammen. Eine Frau hielt ihrem Kind die Augen zu. Andere schauten sich nach einem Weg um, um aus der Menge zu entkommen. Doch zum einen gab es keinen Weg, und zum anderen wollte sich keiner die Blöße geben und gehen, während alle anderen blieben.
Ein Knall, der durch Mark und Bein ging. Ein Schrei, der ihr Inneres zerriss. Vier. Fehlten noch sechs. Sechs weitere Peitschenhiebe.
Ein Knall. Ein Schrei. Fünf. Fünf Peitschenhiebe. Ihr Magen rebellierte. Ardenwyn blinzelte. Langsam hob sie ihren Blick. Der Junge auf dem Podest stand nicht mehr. Er hing. Bloß die Fesseln an seinen Händen verhinderten, dass er auf den Boden sank. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Leib. Doch selbst dafür schien er schon fast zu schwach zu sein. Sein Körper war nass. Schweiß hatte sich mit Blut vermischt. Und sein Rücken war entsetzlich zerfetzt. Tiefe Striemen bildeten tiefe Furchen in seinem Fleisch. Das würde niemals wieder vollständig heilen. Der Wandler war für sein Leben gezeichnet. Womöglich würde er monatelang nicht mehr gerade stehen können.
In Fetzen hing die Haut von seinem Rücken. Ardenwyn spürte die Galle hochkommen. Erneut wandte sie ihren Blick ab und starrte auf den Boden. Sie hoffte, dass es bald vorbei war. Nicht nur für sich. Die qualvollen Schreie des Jungen wurden immer heiserer und kraftloser. Meist stieß er nur noch ein schmerzerfülltes Wimmern aus.
Neben ihr hielt jemand sich die Ohren zu und hatte die Augen fest zusammengekniffen. Kurz ärgerte die Feuertänzerin sich darüber. Was hatten die Leute geglaubt, wie eine Auspeitschung sein würde? Dass es Spaß machte zuzusehen? Zumal das heute nicht zum ersten Mal passierte.
Ab und an gab es hier auch öffentliche Hinrichtungen. Mittlerweile kannte Ardenwyn viele verschiedene Arten zu sterben. Und nicht ein einziges Mal hatte sie eine davon sehen wollen. Genau wie heute hatte die Menge sie mit sich gerissen und sie hatte nicht entkommen können. Meist war das passiert, als sie noch jünger gewesen war. Doch heute war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie sich nicht aus der Menge hatte befreien können.
Das Knallen der Peitsche war plötzlich verstummt. Ardenwyn schlug das Herz bis zum Hals. War es vorbei? Vorsichtig blickte sie auf. Tatsächlich. Jona stand bewegungslos vor dem in sich zusammengesunkenen Jungen. Dessen Rücken wollte sie sich gar nicht erst genauer anschauen. Teilnahmslos begann die abartige Wache ihre Peitsche wieder aufzurollen. Blut tropfte von dem Folterinstrument.
Ohne das Kind weiter zu beachten, stieg Jona vom Podest und steuerte mit bestimmten Schritten die Burg an. Vermutlich wollte er dort seine Peitsche zur Säuberung abgeben. Wie versteinert stand die Menge an Ort und Stelle. Einige von ihnen atmeten schwer. Es roch nach Erbrochenem.
Sobald alle realisierten, dass es vorbei war, sobald sich alle wieder halbwegs gefasst hatten, begann die Menschenmenge zu zerfließen. Nur Ardenwyn bewegte sich nicht. Ihr Blick lag auf dem Podest. Theodor hatte sich daran gemacht, schnell die Fesseln des Wandlers zu lösen. Kaum war der sie los, klappte er wie eine Puppe in sich zusammen. Gab keinen Ton mehr von sich.
Er war über und über mit Blut beschmiert. Vorsichtig kniete Theodor sich neben ihm hin und hievte ihn so sanft wie möglich auf seine Arme. Dennoch konnte er dem malträtierten Jungen keinen Schmerz ersparen. Kraftlos wimmerte er auf und verzog qualvoll das Gesicht. Leise sprach die Wache auf ihn ein. Dann erhob sie sich mit dem Kind auf den Armen.
In Zeitlupe setzte er einen Fuß vor den anderen. Um bloß die Erschütterung so gering wie möglich zu halten. Theodor würde den Wandler nicht noch weiter leiden lassen. Mittlerweile war die junge Diebin sich dem sicher. Sehr wahrscheinlich brachte die Wache den Jungen zu einer Heilerin. Wenn er schlau war, war diese Heilerin eine Giftmischerin. Auch wenn der Name das vielleicht nicht vermuten ließ, waren Giftmischer exzellente Heiler.
Mit einem schlechten Gewissen wandte Ardenwyn sich ab. Für den Jungen konnte sie nichts tun. Aber da gab es schließlich noch die kleine Waldelfe, für die sie eine Kette hatte.
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