Kapitel 20 - Von Menschen und Mawi | 1
Als sie schließlich wieder aus der Vision auftauchten, die der Gedächtnisstein ihnen gezeigt hatte, waren sie alle still. Es ließen sich keine Worte für das finden, was sie erlebt hatten und solche Worte wollten auch nicht gefunden werden.
Das Dunkel des Hauses wirkte auf einmal unangenehm erdrückend. Unheilvoll wirbelten die Staubkörner in den spärlichen Lichtstrahlen umher, die durch die alten Vorhänge fielen. Noch immer fühlte Ardenwyn, als befände sie sich noch nicht ganz wieder im Hier und Jetzt. Ein Teil ihres Geistes war in der Vergangenheit verharrt, einer Vergangenheit, die nicht ihre war. Noch immer hallten Avarons Gefühle in ihr nach. Die Bitterkeit, in ein Leben hineingewachsen zu sein, das nichts für einen bereithielt. Ein Leben, in dem es keine Zukunft gab. Der Hass, gepaart mit dem Schmerz, wenn sie an die hohe Lady Glanzira dachte, deren Grausamkeit ihr die Luft zum Atmen raubte. Das Gefühl von Verrat, als Avarons einziger Freund sich für die Liebe entschieden hatte und beschloss, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Ein Teil von ihr fühlte mit dem Jungen ohne Zukunft, der schließlich zu einem jungen Mann voller Hass herangewachsen war. Einem Mann, der später ihre Familie auf dem Gewissen haben sollte. Und so viele andere. Einem Mann, der für die Unterdrückung und Ausgrenzung der Mawi verantwortlich war. Ein Teil von ihr hasste sich dafür, dass sie verstand, wie der falsche König so grausam hatte werden können. Aber wie sollte es anders sein? Immerhin war ihm Grausamkeit von Lady Glanzira vorgelebt worden.
Sie hatte Mitleid mit dem Sklavenjungen, der doch nur von Freiheit geträumt hatte. Dem Sklavenjungen, der von seiner Herrin gequält worden war. Und der letztendlich wie ebendiese Herrin geworden war.
Aber ihren eigenen Hass, den vergaß sie nicht. Und das würde sie auch niemals. Denn was blieb ihr sonst? Ihr Hass auf Avaron, den Mörder ihrer gesamten Familie, den Vernichter aller Feuertänzer, den Unterdrücker der Mawi, war es, was sie antrieb. Und sie befürchtete, dass wenn ihr Hass erlosch, wie eine Flamme, der die Luft ausging, nicht mehr viel von Ardenwyn selbst übrig bleiben würde. Ihr Hass hatte sie all die Jahre über angetrieben. Hatte sie am Leben gehalten.
Und alles Mitleid der Welt genügte nicht, um zu begreifen, dass Avaron bereits in jungen Jahren keinen Mangel an Egoismus und Selbstbezogenheit vorzuweisen gehabt hatte. Er war jemand, dem keine Hürde zu hoch war, ging es um das Erreichen seiner Ziele. Jemand, der sogar seinem besten Freund einen Dolch in den Rücken rammen würde, würde er darin irgendeinen Vorteil sehen.
»Das ... das war schrecklich«, brach Wisteria schließlich die allumfassende Stille. Ihre Stimme war dünn und ihr war anzusehen, dass sie Avarons Erinnerungen noch nicht gänzlich hinter sich gelassen hatte.
Krächzend lachte Zirkon auf. Der Ton verursachte Ardenwyn eine Gänsehaut. Mit großen Augen schüttelte er seinen Kopf und schlang seine Arme um seinen Oberkörper. »Was genau meinst du? Den Sklaven oder seine Herrin?« Ein Zitter durchfuhr ihn und leise fragte er: »Habt ihr das Feuer auch gespürt? Meine Haut ... sie hat sich angefühlt, als ob...« Er brachte seinen Gedanken nicht zu Ende.
Schweigen war die Antwort. Sie alle hatten es gespürt. Sogar Ardenwyn. Niemals hätte sie geglaubt, jemals zu wissen, wie es sich anfühlte, wenn das Feuer sie verbrannte. Doch jeder von ihnen, der den Gedächtnisstein berührt hatte, war für einen Augenblick zu Avaron Schwarzwasser geworden. Jeder von ihnen hatte gedacht, was er gedacht hatte und gefühlt, was er fühlte.
»Meint ihr, Logaria Glanzira und Eliyan leben noch?« Wisteria rieb sich über die Oberarme, als müsste sie die Kälte vertreiben. Dabei war es in dem Zimmer warm.
»Logaria Glanzira war eine Feuertänzerin«, sagte Ardenwyn mit belegter Stimme. Ihr Blick war in sich gekehrt. »Sie ist tot. Aber Eliyan womöglich nicht.« Hatten er und Logaria ihr Glück gefunden, wenn auch nur für eine kurze Zeit? Und wie musste Eliyan sich fühlen, wenn er noch am Leben war und wusste, dass der Mann, der einmal sein bester Freund gewesen war, die Frau auf dem Gewissen hatte, die Eliyan liebte?
»Vielleicht sollten wir Eliyan suchen und mit ihm reden«, schlug Wisteria zögerlich vor, nachdem alle erst einmal geschwiegen hatten.
»Und wozu?«, fragte Ardenwyn schneidend. »Um nachzufragen, wie der falsche König in seiner Kindheit gewesen war? Was soll das bringen? Wir wissen, was wir wissen müssen. Das genügt. Und ich glaube auch nicht, dass Eliyan gerne über Avaron Schwarzwasser sprechen möchte.« Nicht, wenn das schmerzhafte Erinnerungen wieder an die Oberfläche befördern würde. Vielleicht hatte Eliyan auch Frieden mit sich und seiner Vergangenheit geschlossen. So zerbrechlich dieser Frieden auch sein mochte.
Argwöhnisch blickte Ardenwyn zu dem Geschichtenerzähler. Ein Gedanke wollte sie nicht loslassen. »Was hat Avaron gewollt?«
Dieser schenkte ihr bloß ein träges Lächeln und stützte sein Kinn auf seine zusammengefalteten Hände, während er sie aus blassen Augen musterte. »Von wem?«
»Stell dich nicht dumm«, zischte sie und funkelte ihn zornig an. Sie hatte keine Geduld mit diesem Kerl. »Für irgendetwas muss er diese Erinnerungen doch eingetauscht haben!«
»Wenn der Preis stimmt, könnte ich Euch dies natürlich verraten.« Der alte Mann grinste sein tückisches Grinsen. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und Ardenwyn hätte Lady Glanzira zum Vorbild genommen und mit glühend heißen Händen nach dem Alten gegriffen.
»Oh, nein, nein. Von Euch will ich nichts mehr. Keine Sorge.« Stattdessen wandte er sich an Zirkon. Etwas blitzte in den blassen Augen auf, was ihr nicht gefiel. Als wüsste der Mann etwas, wovon er nichts wissen konnte. Oder als würde er zumindest etwas ahnen. »Bist du Einzelkind?«
Misstrauisch kniff der Steinteufel die Augen zusammen. Voller Anspannung saß er auf seinem klapprigen Schemel und beäugte den Geschichtenerzähler, als hätte dieser sich plötzlich in eine giftige Schlange verwandelt, bereit zuzubeißen. »Nein. Wieso?«
»Erzähl mir von deinem Bruder.«
Für einen Augenblick schien Zirkon zu einer Salzsäule erstarrt zu sein, ehe er sich wieder entspannte, als sei nichts gewesen. Doch irgendetwas sagte Ardenwyn, dass Edmund einen Nerv getroffen hatte. »Kiawwah betreibt ein Fischgeschäft.«
»Ich meine nicht deinen jüngeren Bruder. Der interessiert mich nicht. Nein, ich spreche von dem Ältesten von euch dreien.« Wie bei Ardenwyn zuvor blitzte Gier in den Augen des Geschichtenerzählers auf. Gier nach weiteren Erinnerungen, die ihrem Besitzer entweder lieb und teuer waren oder so schmerzhaft waren, dass allein an sie zu denken eine Qual war.
Zirkons Hände verkrampften sich. »Ich habe keinen älteren Bruder!«, spie er aus und war so abrupt aufgesprungen, dass er den Schemel umgeworfen hatte. Sein Körper bebte und er atmete schwer.
»Na, na. Setz dich doch wieder. Ich dachte, dir sei es wichtig, so viel wie möglich über den falschen König in Erfahrung zu bringen? Von deiner werten Kollegin hier, mit dem feurigen Temperament, hast du doch schließlich auch verlangt, sie möge sich nicht so anstellen.« Feuriges Temperament? Der Mann legte es wirklich darauf an, zu sterben. Doch Ardenwyn beschwor sich, ruhig zu bleiben. Noch hatte er sie nicht verraten.
»Das ist etwas anderes!«, rechtfertigte Zirkon sich bissig.
»Ach, ist es das?« Herausfordernd sah die Feuertänzerin zu ihm auf.
»Ja! Das ist etwas Persönliches, das niemanden etwas angeht!«
Verächtlich verdrehte sie ihre Augen. »Du bist so ein Heuchler.«
»Und ich sage, dass es euch nichts angeht!« Als sei das letzte Wort gesprochen, stürmte Zirkon aus dem Raum. Kurz darauf hörte man eine Tür zuknallen. Er hatte das Haus verlassen. Fast hätte Ardenwyn über diese Ironie und Zirkons Doppelmoral gelacht.
Der Umbrala-Erbe seufzte schwer. »Es ist wohl Zeit, aufzubrechen.« In die Richtung des Geschichtenerzählers deutete er eine leichte Verbeugung an. »Ich danke Ihnen für Ihre Dienste.«
»Und ich danke für die Bezahlung.« Der Alte warf Ardenwyn einen kurzen Blick zu. »Ich halte mein Wort.«
»Das will ich hoffen.« Um seinetwillen.
Seite an Seite mit Motte verließ sie das schäbige Haus und warf keinen Blick zurück. Draußen tigerte Zirkon wie ein unruhiges Tier auf dem schmalen Weg auf und ab. Immer wieder warf er einen finsteren Blick auf das Haus des Geschichtenerzählers. Am liebsten hätte sie ihm einmal gründlich den Kopf gewaschen für seine geheuchelte Bereitschaft, alles für die Mission zu tun. Doch das Geschehene zeigte ihr nur, was für eine Person der Steinteufel wirklich war und dass sie auf sein Wort nichts geben musste. Denn nichts von dem, was er von sich gab, was von Wert.
»Und jetzt?«, fragte Ardenwyn mit verschränkten Armen an Diascur gewandt.
»Sombreon scheint ein angemessenes Ziel zu sein«, teilte er ihnen allen mit.
Zweifelnd zog die Feuertänzerin eine Augenbraue in die Höhe. »Ach ja? Und weshalb? Um noch mehr in Avarons Vergangenheit zu wühlen? Um noch einmal mehr darin bestätigt zu werden, dass er grausam ist und vor nichts zurückschreckt? Danke, aber das wissen wir schon.«
Mit einer Ruhe, die Ardenwyns Wut hochkochen ließ, begegnete der Schattenfürst ihrem Blick. An ihren schneidenden Worten schien er sich nicht zu stören. »Hältst du unsere Reise nach Capri noch immer für Zeitverschwendung? Nach all dem, was wir heute erfahren haben? Wir haben heute gelernt, Avaron Schwarzwasser besser zu verstehen. Und ein Feind, den man kennt und einzuschätzen weiß, ist noch immer ungefährlicher als jener, der für uns ein unbeschriebenes Blatt ist.«
»Avaron ist kein unbeschriebenes Blatt. Das war er nie.« Nicht für sie.
Versöhnlich legte Diascur ihr seine rechte Hand auf die Schulter und schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Ich weiß nicht, was dir zugestoßen ist, doch sei dir sicher: Es tut mir wahrlich leid.«
Die Feuertänzerin riss sich mit einem Schnauben los. »Ich brauche kein Mitleid!« Sie trat einen Schritt zurück.
»Dann sag mir, was du brauchst. Vielleicht liegt es in meiner Macht, dir zu helfen.« Der ehrliche Ausdruck auf seinem Gesicht verriet ihr, dass er es tatsächlich ernst meinte. Vielleicht würde Diascur tatsächlich einen guten Herrscher abgeben, wenn er eines Tages die Regentschaft über die Schattenlande übertragen bekommen würde. Aber das hier war Espenjona. Und noch immer wusste sie nicht, was sie von seiner Anwesenheit in ihrem Land halten sollte, wenn er nicht nach der Krone strebte. Schon einmal hatte er ihr gesagt, dass es ihm darum ging, die Stabilität der Schattenlande aufrecht zu erhalten, indem er dabei half, dass auch in Espenjona wieder Ruhe einkehrte. Doch konnte das wirklich alles sein? Er war der Erbe eines ganzen Landes. Hätte man an seiner Stelle nicht jemand anderen schicken können?
»Ihr könnt nicht helfen. Zumindest nicht mir«, gab die Feuertänzerin zurück. Jedwede Energie schien sie verlassen zu haben.
Du kannst Hilfe annehmen. Das ist keine Schwäche, sagte Motte. Seine Libellenflügel funkelten im Licht der Sonne in allen erdenklichen Farben. Nicht jeder, der dir seine Hilfe anbietet, hegt dabei einen Hintergedanken.
»Ich weiß«, sagte sie leise.
Es ist schwer, sich darauf einzulassen, aber du musst nicht alles alleine bewältigen.
»Das weiß ich.« Genau wie Motte hatte ihr auch schon Kapitän Grämling versucht, das klarzumachen. Trotz dessen, dass sie nach wie vor so verschlossen war, lächelte der Wasserelf ihr aufmunternd zu.
Lass dir Zeit.
»Also.« Sie räusperte sich und wandte sich wieder dem Schattenfürsten zu. »Nach Sombreon?«
Auf seinen Lippen lag der Schatten eines Lächelns. »So ist es. Dank dir haben wir im Glänzenden Schwein an einige durchaus interessante Informationen gelangen können. In Sombreon sollen einige Unruhen bezüglich Avaron Schwarzwassers Herrschaft aufgetreten sein. Daher könnte sich ein Besuch sehr wohl lohnen.«
Nickend stimmte auch die Giftmischerin zu. »Allein schon, um ein paar Eindrücke über die Situation zu gewinnen oder um neue Leute anzuwerben. Denn wenn es dort Unruhen gibt, heißt das, dass es dort auch Leute gibt, die mit der Art des Königs zu regieren nicht einverstanden sind.«
»Sollen wir unsere Pläne wirklich auf offener Straße besprechen?« Argwöhnisch sah Ardenwyn sich um. Der Geschichtenerzähler wohnte zwar relativ abgelegen, doch das bedeutete nicht, dass niemand sich in ihrer Nähe befand und mitbekam, über was sie sprachen.
»Dein Einwand ist berechtigt. Auch ich würde es bevorzugen, wenn wir uns in Gertas Gasthaus eine letzte Mahlzeit genehmigen, bevor wir aufbrechen. Derweil können wir alles Weitere besprechen, ohne dass wir befürchten müssen, dass fremde Ohren lauschen.« Alle schienen einverstanden, weshalb Diascur voranschritt.
Gerta sah sehr niedergeschlagen aus, sobald sie erfuhr, dass ihre Gäste gedachten, so bald schon weiterzureisen, weshalb sie ihnen allen ein letztes üppiges Mahl auftischte, bei dessen Anblick allein Ardenwyn der Magen knurrte. Sie würde Gertas Essen vermissen. Dennoch war sie froh, dass sie ihren Weg fortsetzten. Sie hatte genug von Capri und dem Wald der tausend Ängste. Sie konnte nicht schnell genug von hier verschwinden.
Die Gruppe einigte sich schnell darauf, zumindest den ersten Teil der langen Reise in den Süden zu Fuß zu bewältigen. Zwar hatte Motte vorgeschlagen, Kapitän Grämling eine Nachricht zukommen zu lassen, dass dieser sie mitnehmen sollte, doch Diascur war dagegen. Der Hafen, an dem der Seemann anlegen würde, war zu klein, als dass die Wassertänzerin unauffällig innerhalb so kurzer Zeit erneut vor Anker gehen könnte. Vor allem, wenn sie dazu auch noch Passagiere aufnahm, die bereits vor Kurzem gesehen worden waren, wie sie an genau diesem Hafen die Wassertänzerin verlassen hatten. Außerdem war der Mann am Hafen ohnehin viel zu neugierig gewesen. Niemand wollte ein Risiko eingehen.
Bevor sie gingen, deckte Gerta sie noch mit ordentlich Proviant ein und wünschte ihnen eine schöne Reise. Zum Abschied drückte sie Zirkon noch eine weiche Decke in die Hand, der sie nur verdattert ansehen konnte.
»Nachts wird es kalt. Erkältet euch nicht.« Sorgenvoll winkte sie der Gruppe hinterher, als diese das Gasthaus verließ. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als die Mauern Capris hinter ihnen immer kleiner und kleiner wurden. Ardenwyn war erleichtert, denn mit der nahenden Dunkelheit wollte sie nicht mehr in der Nähe von Capri sein. Zu gering war die Entfernung zum Wald der tausend Ängste. Und den Albtraum-Kreaturen aus dem Nebel wollte sie wirklich nicht ohne jeden Schutz begegnen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro