Kapitel 19 - Der Junge aus Sombreon | 3
»Hm. Ja.« Nervös kicherte er und mied es, dem anderen Jungen in die Augen zu sehen. »Die junge Lady Glanzira hat mit ihrer hohen Mutter über meine Arbeit gesprochen und gesagt, dass ich für meine Mühen eine Entlohnung verdiene.«
»Aber du bist ein Sklave!« Avaron konnte es nicht fassen.
»Das stimmt, aber ich bekomme jetzt trotzdem Geld für meine Arbeit. Nicht viel, nur ein paar Monde. Aber wenn ich darauf achtgebe und genug spare, kann ich mich freikaufen.« Ein Lächeln voller Hoffnungen legte sich auf sein Gesicht. »Ist das nicht der Wahnsinn?« Seine Unsicherheit wich Aufregung. »Ich habe nachgerechnet: Wenn ich jetzt mit dem Sparen anfange, habe ich in ungefähr zehn Jahren genug zusammen, um mich freizukaufen! Dann steht mir die ganze Welt offen! Ist das nicht unglaublich?«
Avaron fand das ganz und gar nicht unglaublich. Ärger machte sich in ihm breit, schürte die Glut des Zorns, entfachte ein kleines Flämmchen. »Du bist ein Sklave! Sklaven sollten keinen Lohn erhalten! Das ist nicht fair!«
»Avaron-«, versuchte Eliyan seinen Freund mit sanfter Stimme zu beschwichtigen, doch der ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
»Dir zahlt man doch nur was, weil du der jungen Lady Glanzira gefällst und du das Glück hast, nicht vollkommen menschlich zu sein!«
»Avaron, hör doch-«
»Nein! Hör du zu! Wenn du ein Mensch wärst wie ich, würdest du keinen einzigen Mond bekommen und Logaria Glanzira würde dich nicht einmal eines Blickes würdigen! Du wärst auf ewig dazu verdammt, den Glanziras zu dienen. Selbst wenn dich das eines Tages ins Grab bringt!«
Eliyan seufzte schwer. Dann packte er seinen Freund an den Schultern und zwang ihn, innezuhalten. »Meinst du, das weiß ich alles nicht? Ich weiß, dass ich Glück habe. Aber ich kann für mein Blut nichts. Genauso wenig wie du. Und denkst du etwa, ich würde dich vergessen, sobald ich frei bin? Wie könnte ich? Wir kennen uns nun schon so lange, Avaron. Denkst du, mir ist dein Schicksal egal?« Eliyan schüttelte seinen Kopf. »Wenn ich freikomme, kann ich mir eine Arbeit aussuchen. Und dann werde ich viel mehr verdienen, als die paar mickrigen Monde, die ich hier bekomme. Viel, viel mehr. Und dann kann ich auch dich freikaufen.«
Sprachlos starrte Avaron seinen Freund an. Tränen der Dankbarkeit traten in seine Augen. »Versprichst du es?«, fragte er ganz leise und mit zitternder Stimme.
Eliyan lächelte. »Natürlich. Ich verspreche es dir. Bei dem Sonnenfluss!« Nun liefen Avaron tatsächlich die Tränen über die Wangen und er konnte sich ein Schluchzen nicht verkneifen. Dieses Versprechen war mehr, als man je für ihn getan hatte. Und daran klammerte er sich fest wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. Er brauchte dieses eine Licht in all der Dunkelheit, möge es noch so klein sein. Er war so froh, Eliyan seinen Freund nennen zu können! Tatsächlich war das Glück auch mal auf seiner Seite. Hätte Eliyan diese paar Tropfen Waldelfenblut nicht, mochten es noch so wenige sein, gäbe es für keinen von ihnen beiden Hoffnung. Und diese Hoffnung bedeutete ihm alles.
»Komm. Lass uns die hohen Herrschaften nicht warten lassen, nicht wahr?« Eliyan schenkte ihm ein Lächeln, das Avaron erwiderte. Nachdrücklich nickte er und die beiden setzten ihren Weg fort. Sie kamen nur langsam voran. Unter dem Gewicht der Wassereimer begannen Avarons Beine schon bald zu zittern und auch der unebene Pfad machte es ihm nicht leichter. Mehrfach stolperte er und bedrohlich schwappte das Wasser über den Rand. Doch jedes Mal fing er sich noch, ehe er das ganze Wasser verschütten konnte und zurück zu der Wasserstelle musste, um neues zu schöpfen.
Eigentlich hatten die Glanziras einen Brunnen auf ihrem großen Anwesen. Doch die Herrin des Hauses schwor auf das Wasser am Palmentümpel. Es würde ihre Haut unwiderstehlich zart und rein werden lassen. Avaron hielt von alldem nichts, doch ihn fragte ja niemand. Außerdem war er, trotz der mühseligen Arbeit, durchaus froh, das Anwesen für einige Stunden hinter sich lassen zu können.
»Bald geschafft!«, munterte Eliyan ihn auf, sobald das große Anwesen in Sichtweite kam. Anders als die anderen großen Familien wohnten die Glanziras in keiner großen Burg aus grauem Stein mit hohen Mauern, die mehr wie ein Gefängnis wirkten. Sie lebten in einem großen Anwesen aus braun-orangenem Stein, das wie ein eckiges U geformt war. Große Fenster ließen fiel Licht in das Innere und große Palmen und zahlreiche Blumen in sämtlichen Farben sowie kleine Wasserläufe schmückten den Park, der das Anwesen umgab. Es war ein schöner Ort, oder hätte zumindest ein schöner Ort sein können, wären da nicht die Glanziras.
Als sie beide die letzten Schritte gingen, begegneten sie dem einen oder anderen Sklaven, der Avaron einen mitleidigen Blick zuwarf und schlagartig verschwand seine zuvor noch verspürte Freude. Er kannte diese Blicke und wusste, dass er zu lange auf sich warten lassen hatte. Er schluckte. Und dann sah er sie.
Lady Glanzira war eine schöne, eindrucksvolle Frau im mittleren Alter. Sie war groß und schlank, mit langem Haar in der Farbe von Terrakotta, das wie Seide über ihren Rücken floss, wenn sie es offen trug. Nun aber hatten ihre Dienerinnen es kunstvoll hochgesteckt. In der Sonne entdeckte er funkelnde Edelsteine in ihren Haarsträhnen, von denen ein einziger Avaron hätte freikaufen können. Trotz der Hitze trug Lady Glanzira ein hochgeschossenes Kleid aus schwerem Brokat. Violett floss es an ihrem Körper herab und war durchwirkt von silbernen Fäden. Eisig legten sich ihre hellblauen Augen auf Avaron, sobald sie ihn erblickte.
»Oh.« Eliyan schluckte. »Das sieht so aus, als wollte sie was von dir.«
»Ja, scheint so.« Avaron unterdrückte das Zittern in seiner Stimme. Er musste seinem Freund nicht noch mehr Sorgen bereiteten. Obwohl alles in ihm schrie, zu fliehen. Die Wassereimer vor Lady Glanziras Füße zu werfen, zu rennen und nie wieder zurückzublicken. Angstvoll klopfte sein Herz, dröhnte ihm so laut in den Ohren, dass er kaum etwas anderes vernahm.
»Geh schon mal vor.« Avarons Stimme klang belegt. Er räusperte sich. »Ich komme gleich nach.« Das war eine Lüge. Eliyan wusste das genauso gut wie er. Dieser legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter und drückte sanft zu.
»Zehn Jahre«, sagte er. »Dann kann ich arbeiten gehen und Geld für dich sparen.«
»Zehn Jahre«, bestätigte Avaron wie um sich selbst einzureden, dass es wahr war. Dass es wahr werden würde. Eliyan ging und ließ ihn allein. Noch einmal holte Avaron tief Luft, ehe er sich bereit fühlte, sich Lady Glanzira zu stellen. Mit ruhigen Schritten, für die er alle Kraft aufbringen musste, ging er auf die Hausherrin zu. Geduldig wartete diese, doch die Härte in ihrem Gesicht sprach Bände.
»Du hast lange gebraucht, Avaron. Ich bin ganz und gar nicht zufrieden mit dir. Ganz und gar nicht.« Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb. Der Junge zuckte zusammen.
»Es tut mir leid, Lady Glanzira. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Lady Glanzira schnalzte mit der Zunge. »Das will ich für dich hoffen. Und jetzt komm. Du hast genug Zeit vertrödelt!« Sie winkte einen der anderen Sklaven herbei. Einen alten Mann, von Jahren der körperlichen Arbeit gebeugt, kam heran geschlurft. »Nimm ihm die Wassereimer ab. Bring sie in meine Gemächer und gieße mir ein Bad ein.«
»Sehr wohl, meine Lady.« Unter dem Gewicht der Wassereimer wurde der alte Mann noch mehr gebeugt. Fast hätte Avaron angeboten, der Lady selbst das Bad einzugießen. Doch er hütete seine Zunge.
»Und jetzt zu dir«, sagte Lady Glanzira harsch. »Folge mir.« Mit schnellen, aber dennoch eleganten Schritten ging die hohe Dame voran. Leider wusste der Junge nur zu gut, wo sie ihn hinführen würde. Das Herz klopfte so schnell, dass er glaubte, kaum atmen zu können. Doch er hütete sich, langsamer zu werden. Er musste die Hausherrin nicht noch weiter verärgern. Er würde es nur schlimmer machen.
Die hohe Dame führte ihn tief in das Anwesen hinein. Golden schien das Licht durch die großzügigen Fenster, Pflanzen zierten die Gänge, ließen das ganze Gebäude warm und wohnlich wirken. Aber Avaron war ganz kalt. Lady Glanziras öffnete die Tür zu ihrer privaten Bibliothek, zu der andere Leute bloß mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis Zutritt erlangten. Da sie solche Erlaubnisse allerdings nicht verteilte, waren sie hier ungestört. Bis zur Decke erstreckten sich die Bücherregale. Ein jedes von ihnen war gefüllt mit den wundersamsten Büchern aus ganz Espenjona und den Schattenlanden. Thematisch war die private Bibliothek breit gefächert, aber Avaron bezweifelte, dass die Hausherrin jedes Buch gelesen hatte.
Lady Glanzira ging zielstrebig auf eines der Regale an der Wand zu. Etwa auf Höhe ihres Gesichts griff sie nach einem Buch, von dem Avaron wusste, dass es kein Buch war. Mit einem leisen Klicken setzte sich das Regal in Bewegung und schwang beiseite. Dem Jungen offenbarte sich der dunkle Abgang einer Treppe, die hinab in die Finsternis führte. Ihm wurde noch kälter. Bereits jetzt traten ihm die Tränen in die Augen, dabei war noch überhaupt nichts geschehen. Noch war alles gut. Das versuchte er sich immer und immer wieder einzureden. Es gelang ihm nicht.
»Runter«, befahl Lady Glanzira und Avaron gehorchte. Seine Beine fühlten sich weich und zittrig an, als würden sie sein eigenes Gewicht nicht mehr lange tragen können. Dennoch machte er einen Schritt nach dem anderen. Mit jeder Stufe, die er nahm, verschlang ihn die Dunkelheit ein Stückchen mehr. Bis er schließlich ganz in ihr Verschwand. Allein der Klang der Schritte hinter ihm, verriet ihm, dass er nicht allein war. So sehr er sich das auch gewünscht hätte.
Unten angelangt, breitete Lady Glanzira die Arme aus, woraufhin augenblicklich die Fackeln entflammten. Erschrocken zuckte er zusammen, als direkt neben ihm ein Feuer in die Höhe zu züngeln begann.
Es handelte sich um einen geheimen Raum, den bloß die Familie Glanzira kennen konnte. Und alle anderen, die bereits hinabgeführt worden waren. Er war recht karg eingerichtet. Bis auf die Fackeln gab es bloß einen alten, großen Schrank und einen schweren Holztisch, auf dem lauter Papiere lagen. Aber da Avaron nie lesen gelernt hatte, konnte er nicht sagen, um was für Papiere es sich genau handelte.
Hier unten war es trotz der Fackeln und des Sommers eiskalt. Aber wie auch die Hitze machte die Kälte Lady Glanzira nichts aus. Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum aus Stein. Und jeder einzelne Schritt tönte unglaublich laut in seinen Ohren und verursachte ihm eine Gänsehaut.
»Du hast heute zu lange gebraucht, Avaron«, sagte Lady Glanzira. Ihre Stimme war gefährlich sanft. Avaron erzitterte. »Komm her.« Langsam und widerwillig folgte der Junge dem Befehl. Die Feuertänzerin ging in die Knie und deutete neben sich auf den nackten Steinboden. »Leg dich auf den Bauch.«
Avaron wich das Blut aus dem Gesicht, aber er gehorchte. Zwar kämpfte er mit den Tränen, aber er widersetzte sich nicht. Er war nur ein Mensch. Ein Sklave. Er hatte keinen wert, hatte nichts zu sagen. Sein Wort hatte kein Gewicht. Selbst wenn er allen sagte, was Lady Glanzira für ein Monster war; niemand würde ihm glauben. Und selbst wenn, war sie von Adel. Wenn sie ihn als einen Lügner bezichtigte, selbst wenn jeder wusste, dass er keiner war, würden die Leute – Menschen und Mawi gleichermaßen – nicken und ihr zustimmen.
Avaron zuckte zusammen, als sein nackter Oberkörper in Kontakt mit dem kalten Stein kam. Der Temperaturunterschied zwischen hier und draußen war enorm. Der Junge zitterte, doch kein Laut verließ seine Lippen. Angespannt blieb er liege, wartete auf das Unvermeidliche und hoffte, dass es schnell vorbeiging.
»Waren die Eimer zu schwer?« Die Sanftheit in Lady Glanziras Stimme machte ihm mehr Angst als die Kälte. »Ist dein Rücken zu verspannt?« Sanft legten sich Lady Glanziras zarte Hände auf seinen Rücken. Unter der Berührung erschauderte das Kind. Die Adelige begann Avarons verspannte Muskeln und seinen schmerzenden Rücken zu kneten. Langsam wich die Kälte, es wurde wärmer. Angenehm warm. Für einen Moment war die Massage der hohen Dame tatsächlich angenehm und wohltuend. Dennoch lief ihm der Schweiß über die Stirn.
Die Hände der Feuertänzerin wurden immer wärmer. Wärmer und wärmer, bis die Wärme schließlich nicht mehr wohltuend war, sondern heiß. Doch es hörte nicht auf. Die Hände wurden immer heißer, bis es nicht mehr auszuhalten war. Doch Lady Glanzira massierte weiter und dachte gar nicht daran, ihre Hände zurückzunehmen oder die Hitze wieder zurückzunehmen. Was als eine Massage begann, wurde zu einer Folter.
Die Hitze war so schmerzhaft, als würde die Feuertänzerin Avaron vom Braten noch heiße Pfannen auf den Rücken drücken. Der Schmerz war stechend und breitete sich aus. Jede einzelne Berührung war wie ein Messerstich, traf ihn wie ein Schlag. Es war, als legte man ihm immer und immer wieder glühende Kohlen auf die nackte Haut. Avaron schrie.
Als Lady Glanzira schließlich von ihm abgelassen hatte, konnte er sich kaum mehr rühren. Jede noch so winzige Bewegung glich einem Messerstich und so blieb er in dem Keller. Die Feuertänzerin machte sich auch nicht die Mühe, ihm selbst aufzuhelfen oder jemanden zu rufen. Und so verbrachte er seine Nacht alleine in dem geheimen Raum unter der Bibliothek.
Erst am Morgen wagte Avaron, sich aufzurichten und brach gleich darauf wieder in Tränen aus. Er kämpfte um jede Bewegung, jeden Schritt. Und als er schließlich in den Sklavenunterkünften ankam, wartete bereits Eliyan auf ihn. In seinen Händen hielt er eine Brandsalbe. Schweigend kümmerte er sich um Avarons Rücken, der längst von Brandnarben entstellt war. Avaron biss die Zähne zusammen, als Eliyan begann, die Salbe sanft auf seiner verletzten Haut zu verteilen.
»Eines Tages hört das auf«, sagte Eliyan leise. »Eines Tages bist du frei und du musst sie nie wiedersehen.« Avaron sagte nichts. Verbittert schwieg er. Eliyan hatte gut Reden. Immerhin war er nicht gänzlich ein Mensch und niemand wollte ihm wehtun, nur weil er es konnte.
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