Kapitel 18 - Der Preis für eine Geschichte | 3
Das war nicht möglich! Das konnte nicht möglich sein! Ardenwyn war dreizehn Jahre alt gewesen, als er verschwunden war. Als er sich von ihr verabschiedet hatte, um einen Auftrag auszuführen und nicht wieder zurückkehrte. Sieben Jahre. Sieben lange Jahre war es her, seit Honra aus ihrem Leben getreten war. An einem Tag war er noch da gewesen und am nächsten nicht mehr. Sie hatte nie herausfinden können, was mit ihm geschehen war. Ob ihm etwas zugestoßen war oder ob er sie freiwillig zurückgelassen hatte.
Mit der Zeit hatte sie sich damit abgefunden, dass ihr bester Freund wahrscheinlich tot war. Das war ein bekanntes Risiko, dass Honra mit jedem Auftrag eingegangen war, den er angenommen hatte. Honra mochte gut in dem gewesen sein, was er tat. Doch aus Assassinen waren nicht unsterblich. Ihm war das bewusst gewesen. Er hatte sich keinen Illusionen hingegeben.
Ardenwyns Glieder zitterten. Ihre Beine fühlten sich so weich und nachgiebig an, als würden sie aus Pudding bestehen. Ungehemmt strömten ihr die Tränen über das Gesicht und weigerten sich, zu versiegen. Sie schluchzte.
Sieben Jahre war es her, seit sie einander in die Arme geschlossen hatten. Sieben Jahre, in denen sie geglaubt hatte, ihn für immer verloren zu haben. Und nun stand er vor ihr. Gesund und lebendig.
Alle Kraft schien sie verlassen zu haben. Ihre Beine konnten sie kaum mehr tragen. Sie konnte den jungen Steinteufel nur anstarren. Ihre Augen weigerten sich, woanders hin zu sehen. Jedes Detail sog Ardenwyn verzweifelt auf, als sei Honra die Luft, die sie zum Atmen brauchte.
»Honra.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Lufthauch. Mehr brachte sie nicht hervor. War verstummt.
Vorsichtig und mit einem Lächeln auf den Lippen - einem Lächeln, das sie schmerzlich vermisst hatte – trat der Steinteufel näher. Er sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Das weiße Haar war noch immer kurz, er noch immer groß und schmal, seine Kleidung nach wie vor in dunklen Tönen gehalten und schmal geschnitten. Sieben Jahre waren vergangen. Und doch wirkte er um kaum einen Tag gealtert. Sie hatte ihn so sehr vermisst. So sehr, dass es ihr Tag für Tag, Jahr für Jahr, das Herz gebrochen hatte. Ein Schmerz, der sie nie mehr losgelassen hatte.
Und dann fielen ihre Mauern. Ardenwyn versuchte nicht, sie wieder hochzuziehen, sie wieder zu reparieren. Nein, stattdessen riss sie die übrig gebliebenen Ruinen eigenhändig nieder. Jeden Schutz, jede Maske, ließ sie fallen und schmiss sich mit einem erstickten Schluchzen in Honras Arme.
Dieser fing sie auf, drückte sie ganz fest an sich, während ihr Körper bebte. Verzweifelt krallten sich ihre Finger in den schwarzen Stoff seiner Kleidung, als fürchtete sie, dass der Steinteufel wieder im Nebel verschwinden würde, sobald sie ihn losließ. Hemmungslos weinte sie. Ihre Tränen durchnässten sein dunkles Leinenhemd und ihr war es egal. Er war zurück! Das war alles, was zählte!
Beruhigend strichen seine Finger über ihren Rücken. »Alles ist gut«, murmelte Honra sanft in ihr kupfernes Haar. Seine Wärme war genauso angenehm wie die ihrer Flammen. Ardenwyn wollte ihn nie wieder los lassen. Nie, nie wieder!
»Wo warst du? Was ist damals passiert?«, flüsterte sie leise. Ihre Worte klangen ganz gedämpft, da sie nach wir vor ihr Gesicht in seinem Hemd vergraben hatte. Diese Fragen brannten ihr nun schon so lange auf der Seele. Hatten sie verfolgt wie eine Spukgestalt und nie wieder losgelassen. Die Ungewissheit hatte ihr so sehr zu schaffen gemacht, hatte sie zermürbt.
»Das ist jetzt nicht wichtig«, antwortete er und schenkte ihr ein trauriges Lächeln, als er sich von ihr löste, seine Hände auf ihre Schultern legte und sie eine Armlänge von sich schob. Ardenwyn ergriff sofort seine Handgelenke. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Honra loszulassen. Als bestände er aus Rauch, der mit dem nächsten Windzug davongetragen werden würde.
Der Schmerz stand der Feuertänzerin ins Gesicht geschrieben. »Wieso bist du nie zu uns zurückgekehrt?« Ihre Stimme brach. »Wir alle haben auf dich gewartet. Haben nach dir gesucht. Arroh und Meister Dorzoss haben sogar die Totengrube auf den Kopf gestellt.« Der Geruch nach Tod und Verwesung hatte über Wochen in ihrer Wohnung gehangen, bis Ardenwyn es nicht mehr ausgehalten hatte und bloß noch zum Schlafen heimgekehrt war. Zumal der Geruch sie in eine solch starke Verzweiflung getrieben hatte, weil er sie zu sehr an das Schicksal erinnert hatte, das Honra hätte ereilt haben können.
Das Gesicht des Steinteufels verschloss sich mit einem Mal und er zog sich vor ihr zurück. Fast schon panisch umklammerte sie seine Handgelenke fester. Sie könnte es nicht ertragen, würde er sie jetzt wieder allein lassen. Nicht, nachdem sie ihn endlich zurück hatte.
»Es ging nicht anders«, sagte Honra. Seine Stimme klang distanziert und seine Worte rammten ihr einen Dolch ins Herz. Doch sie verzog keine Miene. Jahrelang hatte sie es perfektioniert, ihre Gefühle zu verbergen und zu verdrängen.
Ardenwyn blieb hartnäckig. Sie hatte es verdient zu erfahren, was geschehen war. Sie beide hatten einander so nahe gestanden, wie kaum jemand anderem. »Hat man dich entdeckt? Musstest du fliehen und dich verbergen?« Das war durchaus schon vorgekommen, wenn die falschen und zudem auch mächtigen Leute auf einen Assassinen aufmerksam geworden waren.
Honra wich ihrem Blick aus. Vielleicht war es ihm unangenehm. Womöglich nahm er an, versagt zu haben oder hatte Ardenwyn, Arroh und Meister Dorzoss nicht in Gefahr bringen wollen.
»Du hättest uns immerhin wissen lassen können, dass es dir gut geht«, sagte sie leise. »Ein Brief, eines geflüsterten Wortes. Mehr hätte es nicht gebraucht. Jahrelang hast du uns in dem Glauben gelassen, dass du tot seist.« Erneut rannen ihr die Tränen über die Wangen. »Wir haben um dich getrauert, Honra. So lange. Es tat so weh. So schrecklich weh.«
Honra, der bis jetzt geschwiegen hatte, löste sich aus ihrem Griff. Erschrocken machte ihr Herz einen heftigen Hüpfer. Doch sie hielt sich zurück. Wenn ihm ihre Nähe zu viel war, würde sie sie nicht erzwingen. Auch wenn die Panik an sie heran kroch und ihr gehässig einflüsterte, dass er wieder verschwinden würde und sie rein gar nichts dagegen unternehmen konnte.
Und wenn es wirklich sein Wunsch sein sollte, zu gehen, würde sie ihn ziehen lassen. Es würde weh tun. Schrecklich weh. Allein der Gedanke daran fühlte sich an, als würden Messer auf ihr Herz einstechen. Sie wusste nicht, ob sie das noch einmal ertragen könnte. Vor allem, wenn er sie dieses Mal freiwillig zurücklassen würde. Jahrelang hatte sie die Risse in ihrem Inneren immer und immer wieder geflickt. Doch würde Honra sich nun aus eigenem Willen von ihr lossagen, diese Risse würde sie nie wieder reparieren können. Er würde eine Ruine zurücklassen.
Aber das hier war Honra. Ihr bester Freund. Er hatte sie nicht verlassen, weil er es gewollt hatte, sondern weil er keine andere Wahl gehabt hatte. Weshalb also sollte er sie jetzt, da sie einander wiedergefunden hatten, von sich stoßen?
»Honra, bitte rede mit mir«, flehte Ardenwyn. Den Wald der tausend Ängste hatte sie vollkommen ausgeblendet. Alles, was sie sah, war der Steinteufel mit den hellen Augen.
Langsam hob er seinen Blick. Seine Miene war seltsam abweisend. »Du willst, dass ich mit dir rede? Dass ich dir erzähle, was damals passiert ist?« Da war ein Ausdruck auf seinem Gesicht, der ihr nicht gefiel. Entschieden trat er einen Schritt auf die Feuertänzerin zu. Sein Blick legte sich unbarmherzig auf sie. Seine hellgrauen, fast weißen Augen, sahen kalt auf sie herab. Die Stimmung war so abrupt umgeschlagen, dass sie irritiert vor ihm zurückwich.
»Du willst die Wahrheit hören, weshalb ich nicht zurückkam? Sie wird dir nicht gefallen.« Der eisige Ausdruck in seinem Gesicht jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. »Nun, Arda. Ich habe die Gelegenheit ergriffen und bin gegangen.«
Ardenwyn blinzelte. »Ich verstehe nicht -«
»Ich. Bin. Gegangen.« Honra betonte jedes einzelne Wort. »Ich habe mich dazu entschieden. Niemand hat mich dazu gezwungen.«
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Ihr Herz flatterte nervös, als ahnte es etwas, das sie selbst noch nicht einmal ansatzweise begriffen hatte. »Nein, du hattest einen Auftrag. Du -«
»Ja, ich hatte einen Auftrag«, stimmte der Steinteufel zu. »Und ich wusste genau, was du denken würdest, wenn ich nicht zurückkomme.«
Langsam, ganz langsam, beschlich sie eine ungeheuerliche Ahnung. Vehement schüttelte sie den Kopf. Nein, nein, unmöglich! Nicht Honra, nicht ihr bester Freund. Ihr bester Freund, mit dem sie hatte lachen und weinen können, der sie getröstet und ihr immer aufgeholfen hatte, wenn sie gefallen war. Der Honra, der sie nie aufgegeben hatte.
»Du lügst.« Die Worte waren kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Überfordert lachte sie auf. Fast schon hysterisch.
Zu ihrem Entsetzen schüttelte er den Kopf. »Nein, Arda. Und ich sage es dir jetzt ganz deutlich, sodass du das nicht falsch verstehen kannst: Ich bin gegangen, weil ich es wollte. Nachdem ich meinen Auftrag erledigt hatte, bin ich nicht zurückgekehrt, weil ich wusste, dass du mich dann für tot halten würdest.«
Ardenwyn wurde ganz anders. Ihr war speiübel. Honra sagte »du« und nicht »ihr«.
»Mir war völlig egal, wo ich am Ende landen würde. Hauptsache, du wärst nicht dort.« Jedes Wort fühlte sich an wie ein Schlag in ihre Magengrube. Ihr Bild, das sie von ihm und ihrer Vergangenheit hatte, bröckelte. Und Honra selbst war derjenige, der immer und immer wieder auf es einschlug und in Fetzen riss.
»Wer hält es schon mit dir aus?« Es war so unglaublich still in dem Wald. Seine Worte peitschten wie Donnerschläge durch die Luft. Wenn er einen Schritt auf sie zumachte, taumelte sie einen zurück. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Beine jeden Moment unter ihr nachgeben könnten. Ihr Herz schlug so schnell, dass ihr ganz schwindelig war.
»Alle haben dich bisher verlassen. Ist dir das nicht aufgefallen? Ihr dir das nie seltsam vorgekommen, da das so oft geschieht? Jedes Mal?« Da war nichts sanftes mehr an Honra. Nur Eiseskälte. Wie damals, als sie ihn dabei beobachtet hatte, wie er eine Frau ermordet hatte und ihr klargeworden war, womit er sein Geld verdiente. Vor ihr stand ein Fremder.
»Du warst allein, als ich dich fand. Alle, die du gekannt hast, haben dich zurückgelassen, sodass du in dieser dreckigen Gasse damals fast zugrunde gegangen bist.« Sie stolperte zurück, doch er ging unweigerlich weiter auf sie zu. Mit dem Rücken stieß sie an einen Baum, dessen Rinde sich hart an ihre Haut drückte. »Du du warst allein, als ich entschlossen hatte, dass ich nicht weiter für dich verantwortlich sein wollte. Du warst eine Klette, Arda. Ein Parasit, der sich in unserer Wohnung, in unserem Leben breit gemacht hat. Und sobald ich weg war, haben es auch Arroh und Meister Dorzoss nicht mehr länger mit dir ausgehalten. Sie haben es versucht, glaub mir. Weil du ihnen leid tatest. Aber auch sie haben dir schließlich den Rücken gekehrt. Du bist ganz allein.«
»Nein. Nein, das ist nicht wahr.« Stumm flossen die Tränen. Meister Dorzoss war schon immer der Meinung gewesen, dass es für sie viel zu gefährlich war, mit Assassinen in Kontakt zu stehen. Darum war er gegangen. Aber weshalb hat er deine Anwesenheit dann so viele Jahre lang toleriert?, flüsterte eine leise, gehässige Stimme in ihrem Inneren.
»Oh doch, das ist es. Und du weißt es.« Der Hass in seinen fast weißen Augen brannte wie Säure. »Bilde dir bloß nichts darauf ein, dass du zurzeit von dieser zusammengewürfelten Gruppe umgeben bist. - Und Motte. So heißt er doch, nicht wahr?« Voller Verachtung starrte Honra sie nieder. Sie konnte es nicht ertragen. »Dir ist bewusst, dass diese Freundschaft nur temporär ist, oder? Auch er wird dich verlassen. Das tun sie alle. Seit jeher. Träume, solange du noch kannst, aber irgendwann musst auch du aufwachen.«
»Das ist nicht wahr. Das ist alles nicht wahr!«, wimmerte sie. Sie wollte ihm nicht weiter zu hören! Wieso blieb er nicht einfach still? Wenn er sie schon verletzen wollte, sollte er gefälligst eines seiner Messer verwenden! Das konnte unmöglich mehr schmerzen. Hasste er sie denn so sehr, dass er ihr unbedingt wehtun wollte? Wieso hatte sie nie etwas von all dem Hass bemerkt, den er in sich trug? Wie hatte sie jemals sein Lächeln sehen und nicht die Abscheu erkennen können, die es verbarg?
»Was willst du von mir?« Sie weinte, obwohl sie es nicht wollte. »Wenn du mich so sehr verabscheust, weshalb zeigst du dich mir jetzt?«
Seine Mundwinkel hoben sich und formten ein selbstgefälliges Lächeln. »Weil ich weiß, wie sehr es dir wehtut.« Dann verschwand sein Lächeln und machte Platz für etwas Dunkles. »Und jetzt werde ich es beenden.«
Ehe Ardenwyn begreifen konnte, was geschah, zog Honra seine Messer und stürzte sich rücksichtslos auf sie. Erschrocken japste sie auf, zu mehr war sie in diesem Moment nicht in der Lage. Mit voller Wucht prallte der Körper des Steinteufels gegen ihren, sodass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Gemeinsam stürzten sie zu Boden. Der Wald um die Diebin herum drehte sich, die Bäume schienen dunkler zu werden und sich seltsam zu verzerren. Der Nebel, der sich bisher zurückgehalten hatte, bäumte sich auf, doch stürzte nicht auf sie nieder.
»Honra«, krächzte Ardenwyn voller Entsetzen. Angst und Schmerz rangen miteinander, ließen nicht zu, dass sie klar denken konnte. Alles, wozu sie im Stande war, war Honra auf Abstand zu halten. Mit aller Kraft drückte sie ihn von sich, doch er war sowohl schwerer als auch stärker als sie. Sein Gesicht war vor lauter Zorn und Hass zu einer grausigen Maske verzerrt und er fletschte die Zähne wie ein wildes Tier.
»Honra, bitte!« Sie wollte ihm nicht wehtun. Selbst nach all den entsetzlichen Worten nicht, die er ihr an den Kopf geworfen hatte. Sie war einfach nicht dazu in der Lage, konnte es einfach nicht über sich bringen, ihn zu verletzen. Honra war immer schon ein Teil von ihr gewesen und er bedeutete ihr unglaublich viel. Sogar nach all den Jahren hatte sich daran nichts geändert.
Doch Honra erwiderte diese Gefühle nicht. Ganz im Gegenteil. Er ließ nicht locker, gab nicht auf. Mit aller Macht versuchte er, sie zu brechen. Ihre Arme zitterten und waren vor Anstrengung schon ganz schwer. Sie würde ihn nicht mehr länger aus Distanz halten können. Unkontrolliert schwang er ihr die blanken Klingen seiner Messer entgegen. Ohne Sinn und Verstand versuchte er, ihr mit den Waffen Schnittwunden zuzufügen. Jede Strategie, jede Logik schien ihn verlassen zu haben. Das war nicht länger der besonnene und geduldige Honra, der aus den Schatten angriff, wenn die Zeit reif war.
Ardenwyn presste die Zähne zusammen, sammelte ihre letzten Kräfte und stieß den Steinteufel von sich. Er hätte sie auch einfach mit einem einzigen Blick in eine Statue aus Stein verwandeln können, doch er tat es nicht. Es ging ihm nicht bloß darum, sie zu töten. Er wollte sie leiden lassen.
Hastig rappelte sie sich auf und brachte sofort Abstand zwischen sich und den einstigen Freund. Ihre Gedanken kreischten und jaulten, ihr Herz schmerzte und sehnte sich nach Aufmerksamkeit. In ihr herrschte Chaos.
Immerzu war Ardenwyn stets besonnen gewesen. Hatte in Kämpfen stets gewusst, wie sie zu handeln hatte und wie sich sich lebendig aus der Gefahrensituation herauswinden konnte. Nun aber war sie ahnungslos, konnte sich nicht konzentrieren und hatte auch keine Zeit, zur Ruhe zu kommen und nachzudenken. Honra hatte sie zu sehr aufgewühlt. Sein Erscheinen hatte alle Mauern niedergerissen, die sie sich über sie Jahre so sorgsam aufgebaut hatte. Und sie war nicht länger dazu in der Lage, ihr Innerstes zu schützen. Vollkommen schutzlos und entblößt stand sie vor der Person, die ihr die Welt bedeutet hatte und wusste sich nicht zu helfen.
Erneut holte der Steinteufel mit seinen beiden Klingen aus und ein scharfer Schmerz zog durch Ardenwyns Oberarm. Blut verfärbte dem Ärmel ihres hellbraunen Leinenhemdes dunkel. Der Schnitt brannte bei jeder noch so kleinen Bewegung. Voller Hohn grinste Honra ihr zu und hob das Messer, dessen Klinge ihr Blut in Rot getaucht hatte.
Die grausame Erkenntnis traf die Feuertänzerin wie ein Blitzeinschlag. Honra wollte sie töten. Unter allen Umständen. Und er würde sie töten, wenn sie sich nicht wehren würde. Sie hatte es gewusst. Doch realisiert hatte sie es nicht. Und mit diesem Begreifen kam der Schock. Drohend wie ein Schatten näherte er sich ihr hinterrücks und drohte, sie zu umschlingen und nicht wieder loszulassen. Ihre Glieder waren schwer und ihre Beine wie auch Arme ließen sich kaum heben. Sie wusste, dass das ihr Ende bedeutete.
Aber sie durfte nicht aufgeben. Sie konnte nicht akzeptieren, dass es jetzt zu Ende gehen würde. Die Feuertänzerin musste etwas tun! Mit aller Kraft schob sie den nahenden Schock von sich und zwang ihre Beine, sich zu bewegen. Stolpernd entfernte sie sich von Honra.
»Glaubst du, du kannst mir entkommen?« Gehässig lachte er auf. »Sieh es ein: Niemand mag dich. Niemand will dich. Du bist besser allein dran. Und noch viel besser, wenn du gar nicht mehr existierst. Damit tust du jedem einen Gefallen!« Dunkelheit legte sich auf sein Gesicht. »Der König hätte dich schon vor vielen Jahren vernichten sollen. Deine Zeit ist schon lange vorbei, Arda. Oder sollte ich besser 'Ardenwyn' sagen?« Er setzte ihr nach, bekam sie am Arm zu fassen und drückte schmerzhaft zu. Die Feuertänzerin wimmerte leise auf. Unbarmherzig blickte Honra auf sie hinab. »Du hast mich belogen. So viele Jahre lang. Hattest du jemals vor, mir die Wahrheit zu sagen?«
Am liebsten hätte die Diebin nachgegeben. Sich auf dem Boden zusammengerollt wie ein kleines Kind und die Augen geschlossen, in der Hoffnung, die Welt auszusperren.
»Eigentlich hatte ich erst überlegt, dich dem König vorzuführen. Avaron hätte sicherlich größtes Interesse daran, von dir zu erfahren. Und ich hätte nur zu gerne zugesehen, wie er dir das Leben aushaucht. Aber dann habe ich überlegt, dass ich es doch lieber selbst in die Hand nehme.« Brutal riss er sie zu sich und presste ihr die kalte Klinge seines Messers an die Kehle. »Es wird ganz schnell gehen.«
Die verschiedensten Gefühle kämpften in Ardenwyn. Trauer, Sehnsucht und Schmerz, Entsetzen, Leere und Verzweiflung. Es wäre so leicht, jetzt aufzugeben. Zuzulassen, dass Honra zu Ende brachte, was er begonnen hatte. Doch trotz all ihres Schmerzes, all dem, was sie für ihren einstigen Freund empfand, wollte sie nicht sterben. Etwas in ihr wollte kämpfen. Ihr Leben war nicht einfach, war es nie gewesen. Doch sie hatte stets selbst über es entschieden. Hatte auf Schicksalsschläge reagiert und hatte irgendwie weitergemacht. Sie hatte es in der Hand. Sie konnte etwas bewirken. Wenn sie jetzt nicht nachgab.
Brüllend erwachte die Hitze in ihr, brach tosend aus ihr heraus und stürzte sich wie eine Naturgewalt auf Honra. Der Druck des Messers an ihrer Kehle verschwand und keuchend fand sie Halt an einem Baum. Rotes und orangenes Licht erhellte den dunklen Wald. Wild und ungezähmt wüteten die brutal zuckenden Flamen. Sie labten sich an Ardenwyns Schmerz, ihrer Enttäuschung, ihrer Verzweiflung. Wuchsen in die Höhe, wandelten all diese quälenden Gefühle in Stärke um.
Das Feuer verschlang alles in seiner Umgebung. Große, alte Tannen verbrannten zu Asche, die Hitze versenkte Blätter und Grashalme, an die die Flammen nicht heranreichte. Das Knistern ertönte in der Stille ohrenbetäubend laut. Holz knarzte, verfärbte sich schwarz. Mit einem lauten Krachen stürzten Äste zu Boden. Und Ardenwyn stand mit Augen wie zwei kleine, glühende Sonnen im Auge des Infernos.
Hoch reckten sich die roten Flammen, bäumten sich brüllend auf und tobten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten. Als auch das letzte Feuer erlosch, hatte sich der Teil des Waldes, in dem die Feuertänzerin stand, in eine karge Landschaft aus Rauch und Asche verwandelt. Vereinzelte verbrannte Bäume standen noch, kaum mehr als der Schatten der mächtigen Bäume, die sie einst gewesen waren. Die toten und leblosen, Verkohlten Bäume ließen den Teil des Waldes wie einen Friedhof wirken.
Hier und da schwelte am Boden noch die Glut, Rauch mischte sich mit Nebel. Von Honra war nicht mehr viel übrig. In sich zusammengesunken lag eine zusammengekrümmte, graue Gestalt am Boden, die kaum mehr als Person auszumachen war. Doch als Kind hatte Ardenwyn schon genügend Verbannte gesehen, um Honras Leiche am Boden auszumachen. Neben der Gestalt, die einst ihr Freund gewesen war, lagen zwei geschmolzene Messer.
Ardenwyn war zu keinem einzigen Gedanken in der Lage. Instinktiv stolperte sie los und ließ sich neben den verkohlten Überresten auf den Boden fallen. Fest krallte sie ihre Hände in die verbrannte Erde, starrte das an, was einst Honra gewesen war. Sie konnte ihre Augen nicht von diesem Anblick lösen. Dann brach der Damm. Ein Strom aus Tränen floss ihr aus den Augen und sie stieß ein ersticktes Schluchzen aus. Zitternd streckte sie ihre Hand nach Honra aus und sobald sie ihn berührte, schrie sie gequält auf.
Ihr Herz schmerzte so sehr, dass sie glaubte, daran sterben zu müssen. Wieso hatte er das getan? Wieso hatte er sie gezwungen, ihn zu töten? Wieso waren ihm seine verachtenden Worte nicht genug gewesen? Wieso hatte er ihr keine Wahl gelassen? Sie hatte es nicht tun wollen. Niemals hatte Ardenwyn geglaubt, Honra jemals wehtun zu müssen. Schon gar nicht mit ihrem Feuer. Doch nun war es geschehen. Wie hatte es so weit kommen können?
Sie dachte, keine Luft mehr zu bekommen. Panisch schnappte sie nach Atem, meinte, zu ersticken. Tränen zeichneten helle Linien auf ihr mit Ruß bedecktes Gesicht. Sie glaubte, zu zerbrechen.
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