Kapitel 17 - Nachhall des Nebels | 1
Lange wollten die Tränen nicht versiegen und Ardenwyn war froh, dass Wisteria noch immer schlief. Sie fühlte sich jetzt einfach nicht in der Lage, der Giftmischerin Rede und Antwort stehen zu müssen, geschweige denn, ihr Mitgefühl über sich ergehen zu lassen.
So viele Jahre waren vergangen. Und noch immer schmerzte Honras Abwesenheit wie am ersten Tag. Würde es denn niemals besser werden? Wie konnte es noch immer so wehtun? Würde sie jemals aufhören, ihn zu vermissen? Oh, wie sie ihn vermisste! Eigentlich hätte man meinem müssen, dass sie sich an diese Gefühle längst gewöhnt hätte. Doch dieser Schmerz, diese Sehnsucht; Das waren Wunden, die nie verheilten. Die immerzu offen blieben, sich niemals schlossen. Wunden, aus denen noch immer Blut tropfte. Und alles, was Ardenwyn blieb war, es abzutupfen. Immer und immer wieder. Weil niemals ein Ende in Sicht war.
Als Wisteria schließlich erwachte, war der Diebin nichts mehr anzusehen. Sie gab sich gewohnt kühl und begab sich gemeinsam mit ihren Reisegefährten nach unten in die Wirtsstube. Offenbar war sie nicht die Einzige, die schlecht geschlafen hatte, denn auch die anderen wirkten müde und wenig erholt. Unter Zirkons Augen lagen dunkle Schatten und er war ziemlich mürrisch.
Schlecht gelaunt saß er in seinem Sessel und löffelte das warme Rührei, das Gerta ihm frisch zubereitet hatte. Auch das Brot, das auf ihren Tellern lag war noch nicht allzu lange aus dem Ofen heraus. Käse und Wurst hatte die alte Frau ihnen bereitgestellt. Schon lange hatte Ardenwyn nicht mehr so gut gefrühstückt. Es war herrlich.
Ich habe kaum ein Auge zugetan, verriet Motte ihr, der sich erschöpft zurücklehnte und für einen Moment die Augen schloss. Diese Geräusche haben mich fast wahnsinnig gemacht.
»Ich bin von ihnen aufgewacht.« Die Feuertänzerin massierte sich die Schläfe und nahm anschließend einen Schluck von ihrem Tee. »Ich bin aufgestanden und habe aus dem Fenster gesehen. Dort war ein Geschöpf ... So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.«
Schlagartig war es still an ihrem Tisch. Alle Aufmerksamkeit lag auf der Diebin.
»Was hast du gesehen?« Ernst hatten sich Diascurs Augenbrauen zusammengezogen.
»Ich weiß es nicht genau. Da war diese Gestalt ohne Körper. Es war, als bestände sie ausschließlich aus Nebel.« Allein bei der Erinnerung kroch ein kalter Schauer über ihren Rücken.
Ohne Sorge kippte Wisteria einen Löffel Zucker in ihre Tasse. »Ja, ich weiß, was für ein Wesen du meinst.« Sie war die Einzige, die in der Nacht tief und fest geschlafen hatte. Im Gegensatz zu den anderen war sie entspannt und völlig frei von Angst. Augenblicklich fuhren alle Köpfe zu ihr herum.
Aber dann fiel Ardenwyn wieder ein, dass die Giftmischerin in dem Wald der tausend Ängst einst ein Zuhause gefunden hatte. Für sie war es unvorstellbar, dort zu leben, wenn doch solche Kreaturen umherschlichen.
»Der Wald lebt.« Wisteria sagte das mit solch einer Selbstverständlichkeit, dass es Ardenwyn kalt den Rücken hinabfuhr. Unbeeindruckt kippte sie einen Löffel Zucker in ihren dampfenden Tee und rührte. Leises Klingen, verursacht durch Löffel und Porzellan, war das einzige Geräusch in der Stille.
»Du weißt schon, dass ein Wald ein Wald ist, oder? Selbst wenn er einen – zugegeben – sehr beeindruckenden Namen hat.« Krampfhaft umschlossen Zirkons Hände sein Besteck. Das wunderbar duftenden Rührei war vergessen.
»Der Wald der tausend Ängste ist bereits seit Jahrtausenden kein gewöhnlicher Wald mehr«, belehrte ihn Wisteria und genehmigte sich einen Schluck. Wohlig schloss sie die Augen und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
»Das ist keine Antwort.« Zirkon starrte sein Rührei an, als würden Würmer auf seinem Teller wimmeln. Offenbar hatte er deutlich schlechter geschlafen, als er bereit war, zuzugeben. Jedenfalls war jeder Appetit verschwunden.
Zweifelnd hob die Giftmischerin ihre Augenbrauen. »Hast du es denn nicht bemerkt? Der Wald atmet. Der Wald hat ein Bewusstsein. Hast du nicht bemerkt, wie uns die Bäume beobachtet haben, als wir Capri betreten haben? Hast du nicht den Nebel gesehen? Er kommt mit der Dunkelheit und bewegt sich wie ein eigenständiges Wesen. Wenn du so willst, stellt er die Hände oder den Atem des Waldes der tausend Ängste dar. Er schützt den Wald.«
»Der Nebel?« Ardenwyn klang sketpisch.
»Gerade du solltest das nicht anzweifeln.« Die Giftmischerin hatte sich ihr zugewandt. »Schließlich hast du die Nebelgestalt gesehen. Der Wald hat einen ausgeprägten Schutzmechanismus. Meist ist das der Nebel, der verhindert, dass Unbefugte die Grenze überschreiten und zwischen den Bäumen wandern. Und selbst wenn sich doch jemand hinein verirren sollte; Niemand bleib freiwillig länger als notwendig, wenn der Wald das nicht will.«
»Aber die Giftmischer lässt er ein?« Der Steinteufel hatte sein Besteck niedergelegt und schluckte.
Mit einem Mal legte sich ein Schleier aus Trauer über Wisterias Gesicht und sie blickte bedrückt auf ihre Teetasse, die sie wieder auf den Tisch gestellt hatte. Ihre Stimme war leise, als sie wieder sprach: »Nicht alle.« Das Grün-Gelb ihrer Augen trübte sich und unausgesprochenes Leid machte sich in ihren sanften Zügen bemerkbar.
Forschend betrachtete die Feuertänzerin die Giftmischerin. Wenn der Wald der tausend Ängst einst ihr Zuhause gewesen war, wieso klang es dann so, als würde der Wald auch Wisteria nicht mehr einlassen? Also stand sie nicht mehr in der Gunst des Waldes? War sie nicht mehr willkommen? Je länger Ardenwyn die Brünette beobachtete, desto sicherer wurde sie: Wisteria war im Wald der tausend Ängste nicht mehr willkommen. Aber weshalb?
»Wenn diese Gestalt also nur aus Nebel besteht, dann ist sie nur dazu da, jemandem Angst zu machen? Kann sie einem denn überhaupt gefährlich werden?« Die Diebin sah dem Steinteufel an, dass er mit Unbehagen an die vergangene Nacht dachte.
Wisteria schluckte und räusperte sich. »Ja. Diese Kreaturen ... können verletzen. Und sie können töten.« Ihre Worte klangen heiser und kraftlos, rau. Als würde die Giftmischerin von einer unliebsamen Erinnerung heimgesucht werden.
Betretenes Schweigen breitete sich am Tisch aus. Die Furcht stand Zirkon ins Gesicht geschrieben und auch Motte wirkte äußerst besorgt.
»Wenn das so ist« Zirkon musste schlucken, um weitersprechen zu können, »und diese Kreaturen jede Nacht herkommen, weshalb haben die Bewohner Capri nicht schon längst hinter sich gelassen?« Niemand konnte ihm diese Frage beantworten.
»Na, kann ich euch noch etwas bringen, meine Lieben?« Mit einem strahlenden Lächeln trat Gerta an ihren Tisch. Von der düsteren Stimmung schien sie gar nichts zu bemerken. Seit sie hier angekommen waren, kümmerte die alte Dame sich wirklich rührend um sie und achtete darauf, dass alles zu ihrer Zufriedenheit war.
»Sagen Sie, sind wir Ihre einzigen Gäste?«, erkundigte sich Diascur höflich.
Verlegen zuckte die alte Frau mit den Schultern. »Ach, meine Lieben.« Sie seufzte. »Capri ist kein beliebtes Reiseziel. Und es liegt so weit abgeschieden im Norden, dass sich nur selten Reisende hierher verirren. In der Nähe gibt es keine sehenswerten Städte oder Sehenswürdigkeiten. Es gibt für die meisten Leute keinen Grund, so weit in den Norden zu gehen. Und der Wald der tausend Ängste tut sein übriges.«
Nachdenklich nickte der Prinz, ehe er fragte: »Wir hörten, dass ein Geschichtenerzähler sich hier niedergelassen hätte. Könnten Sie uns etwas über ihn erzählen?«
Gerta blinzelte. »Der Geschichtenerzähler?« Gekünstelt lachte sie auf und ein Hauch von Unbehagen huschte über ihr Gesicht. »Ihr sucht wohl Edmund.« Unwohl verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust und mit den Fingern zupfte sie an dem Ärmel ihres blauen, leicht verwaschenen Kleides. Sorge erfüllte jeden Winkel ihres kleinen Körpers. »Haltet euch lieber fern von ihm.« Ihre Stimme hatten einen überraschend eindringlichen Klang erhalten und ihre Augen richteten sich fest auf die Gruppe. »Was auch immer ihr von ihm wissen wollt, es ist es nicht wert.«
Mit erhöhter Aufmerksamkeit beobachtete der Schattenfürst die alte Frau aus seinen silbernen Augen. Mit geradem Rücken saß er in seinem wackeligen Stuhl, die Hände lagen gefaltet in seinem Schoß. »Dürfte ich wissen, weshalb wir uns von ihm fernhalten sollten?«
Vor Unbehagen hatte Gerta ihre Stirn gerunzelt und immer wieder zuckte ihr Blick zur Tür, als würde sie jeden Moment erwarten, dass Edmund, der Geschichtenerzähler, hereingeplatzt käme. Was konnte an diesem Mann so furchteinflößend sein, das die Wirtin dermaßen beunruhigte?
»Der Preis, mein Junge.« Die Worte waren kaum mehr als ein zarter Windhauch. »Der Preis.« Sie schluckte und wich ein paar Schritte zurück, fort von ihrem Tisch. Gehetzt zuckten ihre Augen immer wieder zum Fenster.
»Ach, was. Wir haben genug Geld dabei«, winkte Zirkon unbeeindruckt ab. »Wo finden wir ihn nun?«
Gertas Augen weiteten sich entsetzt. »Das solltet ihr nicht tun.« Heftig schüttelte sie ihren Kopf. »Haltet euch fern von ihm. Frühstückt, schaut euch unser schönes Städtchen an. Aber geht nicht zu diesem Mann. Geht nach Hause. Glaubt mir, meine Lieben. Es ist besser so.« Als hätte sie einen Geist gesehen, eilte sie zum Tresen und verschwand im Zimmer dahinter. Die Tür schlug mit einem endgültigen Knall zu.
Verdattert und mit einem unguten Gefühl starrten die Reisegefährten auf die Tür, hinter der die alte Frau verschwunden war.
»Was sollte das denn?« Zirkon runzelte die Stirn. »Die Leute leben hier an der Grenze zum Wald der tausend Ängste. Aber ausgerechnet irgendein Mann, der gerne Geschichten erzählt, macht ihnen Angst?« Ungläubig lachte er auf.
Doch Ardenwyn konnte sich Zirkons Unbeschwertheit einfach nicht anschließen. Die Worte der Wirtin beunruhigten sie. Gerade weil sich Capri am Wald der tausend Ängste befand. Weshalb also war Edmund so gefürchtet? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Furcht grundlos war.
Seufzend ließ Zirkon sich in seinem Sessel zurücksinken. »Tja. Wenn Gerta uns nicht sagen will, wo wir ihn finden, müssen wir halt wen anders finden, der es uns verrät. Oder wir klopfen an jeder einzelnen Tür.« Er grinste. Irgendetwas sagte Ardenwyn, dass ihm dieses Grinsen schon bald vergehen würde.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro