Kapitel 16 - Aus Holz und Nebel | 5
Alle schienen in ihren eigenen Gedanken versunken, während sie ihre heiße Schokolade tranken. Ardenwyn schaute weiterhin in die Flammen, deren unberechenbarer, aber träge werdender Tanz sie beruhigte. Draußen herrschte nun vollkommene Dunkelheit. Die Schwärze vor den Fenstern war erdrückend.
Bald schon entschieden sie, zu Bett zu gehen. Diascur reichte der Wirtin ein paar silberne Münzen hin. Die zwanzig Monde, die er ihr auf die Theke legte, waren zwar viel zu viel für fünf Tassen voll heißer Schokolade, doch Gerta nahm das üppige Trinkgeld gerne an. Vergessen war die bedrückte Stimmung von zuvor. Voller Tatendrang trat die alte Frau auf die Treppe zu.
»Folgt mir! Eure Betten sind frisch gemacht. Ich bin sicher, die Zimmer werden euch gefallen!« Summend ging Gerta voran. Unter jedem ihrer Schritte knarzte das Holz. Die kleine Dame führte die Gruppe in den ersten Stock und deutete auf zwei gegenüberliegende Türen am Ende des Ganges. Verspielte Gemälde zierten den ansonsten leeren Gang.
Die meisten von ihnen bildeten wohl die nähere Umgebung ab, denn die hohen, wogenden Gräser auf einem der Bilder kamen ihr bekannt vor. Auf einem war sogar die verknotete alte Eiche zu sehen, an der Weggabelung.
»Ich wünsche eine erholsame Nacht. Wenn irgendetwas sein sollte, findet ihr mich im Zimmer links neben der Treppe. Weckt mich ruhig.« Mit einem letzten, liebevollen Lächeln verabschiedete die alte Gerta sich und trippelte davon.
»Wenn ich gleich ins Bett falle, wache ich gar nicht mehr auf!«, stöhnte Zirkon und reckte sich ausgiebig. »Es könnte brennen und es wäre mir egal!«
Spöttisch grinsend zog Ardenwyn eine Augenbraue in die Höhe. »Willst du das testen?« Immerhin dabei könnte sie ihm behilflich sein. Es juckte sie in den Fingerspitzen, auch wenn sie selbstverständlich nicht das Risiko eingehen würde, sich zu offenbaren.
Der Steinteufel verzog das Gesicht. »Ne, lass mal. Du hättest mir zu viel Freude daran.«
»Ach, aber sonst gerne?« Herausfordernd grinste sie. Zirkon antwortete mit einem Augenrollen, zog die Tür auf und stapfte ohne ein weiteres Wort zu sagen in das Zimmer. Im Dunkeln konnte sie nicht mehr erkennen, als ein paar Umrisse.
»Drei Betten!«, kam es aus dem Zimmer.
Das ist dann wohl unseres. Motte wünschte Ardenwyn einen erholsamen Schlaf und verschwand in dem Raum. Diascur folgte.
»Dann ist das andere wohl für uns«, sagte Wisteria und trat in das andere Zimmer, das ihnen zugewiesen worden war. Gähnend ließ sie die Flamme in der bereitgestellten Laterne aufflackern, die das Zimmer in ein warmes Licht tauchte. Es war klein und bot bloß genug Platz für die wichtigsten Möbelstücke: Direkt rechts neben der Tür stand ein hölzerner Schrank und links eine alte Kommode. Direkt vor ihnen stand ein Doppelbett, auf dem eine selbstgestrickte Tagesdecke lag. Diese war in einem leuchtenden orange gehalten und kleine Kätzchen tollten über den Stoff.
Am Kopfende des Bettes war in der Wand ein Fenster eingelassen, vor dem eine bunte Gardine hing, die aussah, als hätte man aus Versehen verschiedene Farbeimer auf ihr ausgeschüttet. Auf dem Fensterbrett standen drei dicke Kerzen, deren heruntergelaufenes Wachs bereits interessante Formen gebildet hatte.
Schweigend machten Wisteria und Ardenwyn sich fertig. Die Diebin hatte ihrer Mitbewohnerin nichts zu sagen und auch der Giftmischerin schien nichts einzufallen, über das sie mit ihr reden könnte.
»Gute Nacht«, wünschte die Brünette und huschte unter die Bettdecke.
»Nacht.« Ardenwyn machte es sich auf ihrer Seite des Bettes gemütlich. Sobald sie lag, merkte sie, wie anstrengend der Marsch heute eigentlich gewesen war. Ihre Glieder fühlten sich schwer an und so wurde sie vom Schlaf geholt.
Ein schauriges Heulen in der Nacht ließ die Feuertänzerin aufschrecken. Orientierungslos saß sie im Bett und versuchte sich daran zu erinnern, wo sie überhaupt war. Es war dunkel und das Licht in der Laterne längst erloschen. Bloß der silberne Mond erhellte mit seinem matten Schein das Zimmer. Die Wolken hatten sich verzogen, doch der Nebel war geblieben.
Mit klopfendem Herzen schälte die Feuertänzerin sich aus ihrer Bettdecke und trat mit nackten Füßen ans Fenster. Die Luft war kühl hier im Norden. Vor allem jetzt, da die Sonne fort war.
Da sie sich nur im ersten Stock befand, hatte sie keinen Überblick über die kleine Stadt und konnte nur auf den Hauptweg hinabsehen. In der Nacht wirkten die kreativ erbauten Häuser unheimlich. Von ihnen waren kaum mehr als seltsam geformte Schemen zu erkennen.
Erneut hörte sie ein Geräusch. Dieses Mal war es jedoch kein Heulen, sondern ein unangenehmer, kratzender Laut. Als würden scharfe Krallen über die hölzernen Häuserwände gezogen werden. Ihr wurde mulmig.
Das schrille Kreischen aus der Ferne erwischte sie eiskalt. Augenblicklich zuckte Ardenwyn zusammen und ihr Herz stolperte für einen Moment, ehe es wieder heftig in ihrer Brust pochte. Unruhig wanderten ihre Augen über die Umgebung. Doch es war einfach zu dunkel. In Capri gab es keine Straßenlaternen, die die Nacht erhellten.
Tief hing der Nebel in der Straße. Sie lehnte sich vor, legte ihre Hand an den Fensterrahmen. Angestrengt kniff sie ihre Augen zusammen und versuchte dort unten etwas zu erkennen. Das Kratzen war ganz nahe. Mittlerweile raste ihr Herz unaufhaltsam. Sie verfluchte die schlechte Sicht, kam sich blind und hilflos vor.
Irgendetwas war dort. Die Angst der Einwohner erschien auf einmal gar nicht mehr so abwegig. Dort! Angespannt beobachtete die Feuertänzerin einen Schatten, der sich lauernd wie ein Raubtier über die Straße bewegte. Seine Bewegungen wirkten irgendwie unnatürlich. Huschte erst mit wogenden Schritten zu einer Haustür, schlug seine Klauen hinein und zog sie quälend langsam über das Holz. Dann, genauso plötzlich, wandte er sich ab und lief auf die andere Straßenseite. Wie ein Wassertropfen auf einer Platte, die man erst in die eine, dann in die andere Richtung neigte.
Dann verharrte der Schatten und im schwachen Mondlicht erkannte Ardenwyn mit einem nie gekannten Entsetzen, dass das Ding sie entdeckt hatte. Es war eine Gestalt aus Luft und Nebel. Nichts Halbes, aber auch nichts Ganzes. Sie war körperlos und doch glühten Augen wie blutrote Kohlen in der Finsternis auf. Plötzlich riss das Biest sein Maul auf, das mit messerscharfen Zähnen aus Nebel bespickt war und stieß ein Kreischen aus, das der Diebin das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Entsetzt zuckte sie zurück, wich vom Fenster weg. Weg, bloß weg! Hektisch atmete sie ein und aus. Die Furcht saß ihr tief in den Knochen. Eine Furcht so intensiv, wie sie sie nie gekannt hatte. Mit kalten Klauen hatte sie sich in ihr Herz gekrallt und ließ nicht mehr los.
Fluchtartig hastete sie wieder ins Bett, zog die Decke bis unter ihr Kinn. Noch immer klopfte ihr Herz viel zu schnell. Sie war hellwach und ihre Augen durchsuchten aufmerksam das Zimmer. So sehr sie es auch versuchte; Der Schlaf ließ sich in dieser Nacht nur schwer finden. Doch irgendwann fielen auch ihr die Augen zu. Aber das Entsetzen begleitete sie noch ins Reich der Träume.
Ardenwyn konnte an nichts Anderes denken. Wie ein ekelhafter Parasit hatte sich dieses Bild in ihren Kopf gefressen und ließ sich nicht vertreiben. Sie wollte das nicht sehen! Denn es änderte alles. Das Bild, das sie zuvor von Honra gehabt hatte, war unwiderruflich zerstört. Es war der Riss im Spiegel, der dazu führte, dass dieser in unzählige scharfe Scherben zerbarst.
Der liebe, freundliche Honra. Fürsorglich und immer für sie da, seit er sie vor drei Jahren gerettet hatte. Aber nun gab es diesen Honra nicht mehr. Es hatte ihn niemals gegeben. Sie hatte es sich nur eingebildet. Nur das gesehen, was er zuließ.
Immer und immer wieder schlich er sich in ihren Kopf. Er und die Frau, die er ermordet hatte. Gewimmert hatte sie. Gefleht. Aber ihn hatte sie mit ihren Worten nicht erreicht. Es war, als hätte sie versuchen wollen, mithilfe eines Blattes durch eine Eiswand zu graben. So kaltherzig, grausam und furchteinflößend hatte Ardenwyn ihren besten Freund noch nie erlebt. Er war ihr wie eine vollständig andere Person vorgekommen. Wie ein Fremder.
Noch immer zitterte sie am gesamten Leib. Hatte die Arme fest um sich geschlungen und starrte voller Furcht auf die Tür. Sie hatte sich unter den schäbigen Küchentisch verkrochen. Die Augen vor Angst groß wie der Mond.
Bei jedem Geräusch, das von der anderen Seite der Tür zu ihr hindurchdrang, zuckte sie instinktiv zusammen. Fürchtete, dass er zurück war. Was sollte das Mädchen nur tun, wenn es so weit war?
Honras Seele war so schwarz wie die dunkelste Nacht des Labyrinths. Und hätte sie einen Geruch, würde sie vermutlich genauso fürchterlich stinken wie die Totengrube, bei all den Leuten, die er bereits ermordet haben musste! Dabei war auch er beinahe noch ein Kind. Er war nur vier Jahre älter als sie und mit seinen dreizehn Jahren war er bereits ein Mörder.
Wie hatte sie jemals glauben können, dass er lieb und freundlich war? Sie hatte doch gewusst, dass er – anders als sie selbst – im Labyrinth geboren worden war. Natürlich brachte das Labyrinth nur Monster hervor! Und sie hatte diese Monster doch mit eigenen Augen gesehen!
Immer wieder sah sie all das Blut vor sich. So viel Blut! Intensives Rot und es war überall! Der Boden war in rotes Nass getaucht worden. Aber das war nicht das Schlimmste gewesen. Natürlich war es das Erste gewesen, was Ardenwyn aufgefallen war. Erst dann hatte sie die arme Frau gesehen, deren leere Augen sich in ihre Seele zu bohren drohten. Ihre Kehle war aufgeschlitzt gewesen. Noch immer war in regelmäßigen Abständen Blut aus ihr gesprudelt. Aber auch das war nicht das Schlimmste.
In ihrem kurzen Leben hatte das junge Mädchen bereits viele Leichen gesehen. Und nur die wenigsten davon waren friedlich aus dem Leben geschieden. Für sein Alter hatte das Kind schon viel zu viel Leid erlebt.
Doch das Schlimmste war Honra – ihr bester Freund – gewesen. Wie er mit dem schwarzen, aus Obsidian geschliffenen Messer, das er selbst voller Stolz angefertigt hatte, über der Frau mit der offenen Kehle gestanden hatte. Beinahe wie ein Raubtier. Die Muskeln noch immer angespannt, das Messer, das Ardenwyn selbst schon bewundernd in den Händen gehalten hatte, nass.
Und dann waren da seine Augen. Seine Augen! Fast weiße Augen, die trotz ihrer Farbe immer warm und freundlich erschienen waren. Nicht jedoch in diesem schicksalhaften Moment. Eisigere Augen waren der jungen Feuertänzerin noch nie zuvor begegnet. In ihnen hatte eine Grausamkeit gelegen, die sich nicht in Worte fassen ließ. Es war ein ganz und gar fremder Ausdruck in den Augen gewesen, die sie eigentlich besser als ihre eigenen kannte.
Ihr ganzer Körper hatte gezittert. Vor Entsetzen war ihr ganz kalt gewesen. Doch die Furcht war noch entsetzlicher gewesen. Honra war ihr bester Freund. Vor ihm sollte sie keine Angst haben. Nicht vor ihm, der ihr vor drei Jahren, als er sie fand, versprochen hatte, dass sie keine Angst mehr zu haben brauchte.
Mit den Füßen hatte der junge Steinteufel in einer blutigen Pfütze gestanden. Und obwohl sie es auf seiner schwarzen Kleidung nicht gesehen hatte, hatte sie gewusst, dass auch sie voller Blut gewesen war. Zum allerersten Mal hatte das Mädchen verstanden, weshalb sogar die Leute im Labyrinth, die am furchteinflößendsten aussahen, Honra mieden und ihm lieber aus dem Weg gingen, wenn er ihnen entgegenkam.
Bisher hatte sie nie darüber nachgedacht. Sie war einfach froh gewesen, dass seine Gesellschaft die ganzen üblen Leute von ihr fernhielt. Nie hatte sie geahnt, dass es daran lag, dass Honra Meister Dorzoss' Lehrling war. Schon oft genug hatte sie sich gefragt, was Meister Dorzoss ihm und Arroh eigentlich beibrachte. Irgendwann war sie einfach davon ausgegangen, dass der Meister seine beiden Lehrlinge zu Dieben ausbilden würde. Zu überdurchschnittlich begabten Dieben, die sogar eine Uniform trugen, die so schwarz wie die Nacht selbst war. Nun wusste sie es besser. Die kleine Feuertänzerin erinnerte sich daran, dass sie Honra schon oft damit in den Ohren lag, dass sie dasselbe tun wollte wie er. Sie hatte dazugehören wollen. Die drei hatten sie nie eingeweiht und sie hatte sich ausgeschlossen gefühlt.
Doch in diesem Punkt war Honra hart geblieben. Er hatte sie immer von dieser einen Sache ferngehalten, über die die drei in ihrer Anwesenheit nicht einmal sprachen. Als sie ihnen eines nachts einmal gefolgt war, hatte Honra sie bemerkt und wieder zurück nach Hause gebracht.
Aber heute hatte er sie nicht gesehen. Erst vor Kurzem hatte er begonnen, auch ohne seinen Meister loszuziehen. Dennoch waren sie wie immer zu dritt losgegangen, bevor sie sich schließlich doch getrennt hatten. Und weder der Meister, noch Arroh hatten den kleinen Schatten bemerkt, der ihnen auf leisen Sohlen gefolgt war. Ardenwyn hatte dazugelernt. Auch sie war unterrichtet worden, wenn auch nicht im Töten.
Nun wünschte sie sich von ganzem Herzen, sie hätte es nicht getan. Wäre Zuhause geblieben, wie sie es eigentlich hätte tun sollen. Wäre sie geblieben, wäre ihre Welt noch ganz. Jetzt aber lag sie in Scherben.
Honra, das Wesen, das sie am liebsten hatte, war ein Monster. Ein mordendes Monster. Und vielleicht würde sie sein nächstes Opfer sein. Tränen rannen ihr über die Wangen und sie ließ sie laufen.
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