Kapitel 15 - Mit dem Wind in den Segeln | 4
Von nun an lief es so jede Nacht ab. Da ein Sturm über dem Meer wütete und die Wassertänzerin einfach nicht vorankommen wollte, verlängerte sich ihr Aufenthalt auf dem Schiff zwangsläufig. Da konnte selbst Motte mit seiner Fähigkeit, das Wasser seinem Willen zu unterwerfen, nichts ausrichten. Dennoch trübte sich Kapitän Grämlings Stimmung nicht. Ihm war anzusehen, wie sehr er die Zeit auf seinem Schiff genoss. Ein Sturm konnte seinem Gemüt nichts anhaben.
Während Ardenwyn sich tagsüber nur widerwillig zu den gemeinsamen Essen gesellte und ihren Mitreisenden aus dem Weg ging, da sie sich einfach nicht weiter mit ihnen befassen wollte, verbrachte sie viel Zeit in ihrer kargen Kammer oder in einer stillen Ecke an Deck. Fridolin hatte es sich angewöhnt, ihre Nähe zu suchen, da er nur dann sichergehen konnte, von Henri in Ruhe gelassen zu werden. Er sprach nicht viel mit ihr, hatte sie bloß einmal schüchtern gebeten, bei ihm zu bleiben, wenn er seine Aufgaben verrichtete. Da Ardenwyn ohnehin nichts besseres zu tun hatte, tat sie dem Jungen den Gefallen.
Nachts, wenn sie die kühle Luft einatmete und sich der Dunkelheit um sich herum ergab und drohte, in ihren Gedanken und auch in der Vergangenheit zu ertrinken, leistete Motte ihr still Gesellschaft. Und obwohl sie nicht miteinander redeten, verschwand die Einsamkeit in ihrem Herzen für eine Weile.
Sie verstanden den Schmerz des anderen auch ohne Worte. Das, was sie beide nicht aussprachen. Motte vielleicht sogar besser als sie.
Ardenwyn hatte bereits bemerkt, dass Motte kein Mann vieler Worte war. Auch tagsüber, wenn er am Bug stand und das Wasser formte, sprach er nicht. Sie hatte auch noch nie gesehen, dass er sich beim Frühstück oder Abendessen mit den Matrosen unterhielt. Dennoch schienen diese ihn zu mögen, erzählten ihm irgendwelche Belanglosigkeiten und gingen generell freundschaftlich mit ihm um. Die meiste Zeit jedoch saß Motte neben Kapitän Grämling. Ihr war aufgefallen, dass dieser Motte nicht so herum scheuchte, wie den Rest der Mannschaft. Nein, im Gegenüber verhielt er sich weniger rau und dafür überraschend sanft. Beinahe schon liebevoll, sodass Ardenwyn sich fragte, wie Motte ausgerechnet auf der Wassertänzerin gelandet war.
Nicht, dass die Wassertänzerin ein schlechter Ort war. Ganz und gar nicht. Motte hatte wirklich Glück gehabt. Die meisten die wie er und die Feuertänzerin waren, landeten an Orten, die die Menschen mieden. An Orten, die jeder lieber vergessen wollte. Orte, wie dem Labyrinth. Und dennoch ... Da war etwas an Motte, das sie ahnen ließ, dass auch er ursprünglich an einem schlechten Ort gewesen war. Nur hatte er es, im Gegensatz zu vielen anderen geschafft, ihn zu verlassen und ein neues, ein bessere Leben zu beginnen.
Die Nacht war alles andere als ruhig. Das Rauschen der Wellen hatte sich in ein Tosen verwandelt. Die Wassertänzerin wiegte nicht mehr seicht hin und her, sondern wurde mit Kraft umher gerissen. Die Wellen zogen und zerrten, doch das Schiff blieb standhaft. Wie ein Fels in der Brandung. Der Wind brüllte und der Regen klatschte erbarmungslos auf das Deck.
Nass klebten ihr die Haare im Gesicht und ihre Kleidung war schon ganz durchweicht. Dennoch blieb sie nicht unter Deck, wo es warm und trocken war. Obwohl der Sturm laut war, fand sie hier dennoch ihre Ruhe.
Sie wusste nicht, ob Motte trotz des Wetters wegen ihr blieb oder ob er genau wie sie die Ruhe in der Nacht suchte. Tatsächlich vermutete sie letzteres. Noch immer hatte keiner von ihnen kein Wort gesagt, obwohl sie bereits mehrere Nächte zusammen verbracht hatten. Bisher war das auch gar nicht nötig gewesen, hatte sie auch überhaupt nicht gestört. Das tat es auch jetzt nicht, doch die Fragen ließen sie einfach nicht los.
Ardenwyn war keine zurückhaltende Person. Sie war nicht schüchtern. Und doch wagte sie es kaum, die einvernehmliche Stille zwischen ihnen zu brechen und ihre Frage zu stellen die ihr schon länger auf der Seele brannte. Wie fing man an, mit jemandem zu sprechen, mit dem man vorher nur geschwiegen hatte? Würde sich dann nicht zwangsläufig etwas zwischen ihnen ändern? Die Feuertänzerin wollte diese wohltuende Ruhe nicht verlieren. Dieses seltene Gefühl von Gemeinschaft, Zusammenhalt.
Andererseits wusste sie, dass dies ohnehin nicht von Dauer war. Irgendwann würden sie wieder an Land anlegen und ihre Wege würden sich trennen. Es würde keine Flucht aus der ständigen Anspannung geben. Niemanden, der ihre quälenden Gedanken verstummen lassen könnte. Auch Honra war dazu in der Lage gewesen. Aber genau wie Honra war Mottes Anwesenheit nicht von Dauer.
Beinahe hätte sie verächtlich aufgelacht. Sie sollte gar nicht erst lernen, darauf angewiesen zu sein. Sie sollte sich bloß nicht daran gewöhnen und abhängig von der Ruhe werden, die Körper und Geist entlastete und endlich entspannen ließ. Sie war bisher jahrelang mit sich selbst klargekommen. Hier sollte keine neue Schwäche die Gelegenheit bekommen, sich zu entwickeln.
Also gab sie sich einen Ruck. Tief atmete sie die Luft bestehend aus Salz und Regen ein. Sie wandte ihren Kopf, sah Motte zum ersten Mal wirklich an, seit sie ihre Nächte nebeneinander verbrachten. Schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit, wie sie es zuvor nicht getan hatte.
Dem Wasserelf entging das nicht. Er drehte sich zu ihr, blinzelte und schaute sie fragend an. Klare Augen wie Meerwasser, die wirkten, als könnten sie bis auf den Grund von Ardenwyns Seele sehen.
In dem Tosen der Wellen und des Windes klang ihre Stimme leise und zart. Vielleicht auch, weil sie dieses Mal keinerlei Stärke, keinerlei Beständigkeit zeigen musste. Weil sie nicht kämpfen musste, wie in so vielen anderen Augenblicken ihres Lebens.
»Wie bist du auf der Wassertänzerin gelandet?« Diese Frage beschäftigte sie schon lange. Die restliche Mannschaft bestand ausschließlich aus Menschen. Da passte Motte als Wasserelf nicht ins Bild.
Doch er schien es ihr nicht übel zu nehmen, dass sie das angenehme Schweigen zwischen ihnen gebrochen hatte. Ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen, halb traurig, halb froh. Ardenwyn wusste nicht, wie er das zustande brachte. Ein leises Seufzen ertönte, als Motte der Feuertänzerin nun auch seinen Körper zuwandte. Langsam, fast schon bedächtig, hob er seine rechte Hand und führte sie sanft an seine Kehle. Dann schüttelte er den Kopf. Aufmerksam beobachteten seine blauen Augen die Diebin. Warteten auf ihre Reaktion.
Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Sie glaubte, verstanden zu haben. Ein Kloß saß ihr in der Kehle, sodass sie erst einmal schlucken musste. Ardenwyn hatte bereits viele Grausamkeiten gesehen. Im Labyrinth traf man nicht selten auf Personen, die verstümmelt waren oder gerade verstümmelt wurden. Immerhin trieben Banden immer ihre Schulden ein. Auf die ein oder andere Weise. Und irgendetwas sagte ihr, dass Motte nichts bereits ohne Stimme geboren worden war. Vielleicht war es der Ausdruck in seinem Gesicht.
»Du kannst nicht sprechen.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte Motte den Kopf. Deutete erneut auf seine Kehle und hob dann zur Veranschaulichung seine Hände, die er langsam hin und her drehte.
»Du verständigst dich mit deinen Händen.« Jetzt lächelte er wieder. Mit einem Mal kam sie sich ausgesprochen dämlich vor. Sie hätte es längst wissen sollen. Schließlich waren die Zeichen da gewesen. Tagsüber, wenn er bei der Mannschaft saß und die Gespräche wie einseitig wirkten. Oder nachts, da er noch nie ein Wort gesprochen hatte. Wenn nicht einmal eine kurze Begrüßung kam. Sie hatte geglaubt, dass es zwischen ihnen einfach so ablaufen würde. Wie dumm und naiv sie gewesen war!
Auf einmal legte sich Mottes Hand auf ihre Schulter, drückte sanft zu. Seine Miene war freundlich, als er ihr eindringlich in die Augen sah und den Kopf schüttelte. Als wollte er sie davon abhalten, sich selbst für ihre Unachtsamkeit zu rügen. Als sei es in Ordnung. Aber das war es nicht. Nicht ihm gegenüber und auch nicht ihr selbst gegenüber. Unachtsamkeit brachte den Tod. Eine Lehre, die sie in den Gassen das Labyrinths gelernt hatte. Eine Lehre, die ihr dort fast tagtäglich vor Augen geführt wurde.
Motte legte seine Hand auf seine Brust, dann tippte er sich mit dem Zeigefinger an seine Stirn und anschließend zeigte er auf sie. Ardenwyn brauchte nicht lange, um sich zusammenzureimen, was er ihr sagen wollte. Weshalb auch immer wollte er sie wissen lassen, dass er sie verstand. Dass er verstand, wie sie sich fühlte. Dass er verstand, weshalb ihre Unachtsamkeit sie wütend machte. Und ihr wurde wieder einmal erneut klar, dass er einst wahrscheinlich genau wie sie gewesen war. Dass auch er lernen hatte, zu überleben und wusste, worauf es ankam.
Als Motte seinen Zeigefinger erhob, um dann seinen nicht vorhandenen Bart zu kneten, ahnte Ardenwyn abermals, was er ihr mitteilen wollte. Oder zumindest, auf welche Person er sich bezog. »Kapitän Grämling?«, fragte sie, woraufhin sich seine Miene erhellte und er nickte. Dann deutete er wieder auf sie.
Dieses Mal fiel es ihr schwerer zu raten, auf was er hinaus wollte. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu raten. »Ich soll zu Kapitän Grämling?« Zur Bestätigung nickte Motte und tippte an seine Lippen. »Um mit ihm zu sprechen?« Sie berichtigte sich: »Um ihm meine Frage zu stellen?« Erneut nickte Motte und schenkte ihr ein Lächeln, das auch seine Augen in der Dunkelheit zum Strahlen brachte.
Der Morgen begrüßte sie mit einem frischen Wind, der von Westen her wehte. Zumindest der Sturm schien sich gelegt zu haben. Geblieben waren nur dunkle Wolkenkleckse am Himmel, die nach wie vor unheilvoll über der Wassertänzerin hingen.
Da es noch früh war und die Sonne sich bloß träge erhob, war an Deck bisher relativ wenig los. Verschlafen gähnte der ein oder andere Matrose, saß entweder mit halb geschlossenen Augen am Boden und döste oder schaute mit müden Augen auf die blaue Weite hinaus. Leichter Nebel lag auf dem Wasser und ließ die Umgebung irgendwie unwirklich erscheinen. Beinahe wie ein Traum.
Die ersten Seeleute saßen bereits beieinander und warteten auf ihr Frühstück. Doch keiner Sprach. Der Schlaf steckte noch zu sehr in ihren Gliedern, sein Sog zu verführerisch.
Die Trägheit und Stille an Bord, gepaart mit den leichten Nebelschwaden, die alles in ein helles Grau tauchten, ließ die Matrosen der Wassertänzerin wie verlorene Seelen wirken, gestrandet im Nirgendwo. Allein das Lied der Wellen durchbrach die Stille in einem gleichmäßigen Rhythmus.
Tief atmete Ardenwyn die klare Morgenluft ein, ehe sie auf wenigen versammelten Matrosen zuging, die bereits wartend und halb schlafend am Boden saßen. Einer hatte tatsächlich sein Kissen mit an Deck genommen, das er zwischen dem Holz des Mastes und seinem Kopf eingeklemmt hatte. Zufrieden schlummerte der muskulöse Riese und schnarchte leise. Sie erkannte ihn schnell als Eddie.
Nur mit Mühe konnte sie ein Lächeln unterdrücken. Sollte Kapitän Grämling ihn erwischen, würde er sich etwas anhören können. Aber Eddie nahm das stets gelassen.
Ardenwyn ließ sich ein wenig entfernt von ihm nieder und lehnte sich mit dem Rücken an das Holz der Reling. Ihre Reisegefährten schliefen noch. Bei Zirkon verwunderte sie das nicht weiter. Sehr wohl aber bei Diascur und Wisteria. Die beiden erschienen ihr immer viel zu pflichtbewusst, um Langschläfer zu sein. Wie sehr sie sich geirrt hatte.
»Genug geschlafen!«, ertönte plötzlich die gesenkte, aber durchaus scharfe Stimme von Henri. Dieser zerrte Fridolin grob am Arm mit sich, der verzweifelt hinter ihm her stolperte. »Schlafen kannst du auch, wenn du tot bist. Du hast hier Verpflichtungen!« Finster lag Henris Blick auf dem kleinen Jungen, dessen Unterlippe gefährlich zitterte. Dem Aussehen nach, hatte der Ältere ihm nicht einmal die Zeit gegeben, sich umzuziehen, und so stand Fridolin in einem alten, ausgeleierten Hemd, das ihm viel zu groß war und einer schlabbrigen dünnen Hose, die viel zu lang war, an Deck.
»Das nächste Mal kippe ich dich aus deiner Hängematte, du kleine Plage. Verstanden?« Ardenwyn wollte sich einfach nicht erschließen, weshalb Henri es so sehr auf den Jungen abgesehen hatte. Tat er es einfach aus Langeweile? Aus Spaß? Sie glaubte kaum, dass Fridolin ihm jemals einen Anlass dazu gegeben hatte, der es gerechtfertigt hätte, so von ihm behandelt zu werden. Noch nie hatte sie gehört, dass Henri ein gutes Wort an Fridolin verlor. Und wieso wies niemand aus der Mannschaft Henri zurecht?
»Setz dich«, sagte Henri barsch und stieß den Jungen von sich. Stolpernd fand Fridolin sein Gleichgewicht wieder. Er sagte kein Wort, schaute sich bloß um, wollte wissen, wer schon da war. Seine traurigen Augen erhellten sich, als er die Diebin erblickte. Sofort fasste er sich wieder und eilte auf ihn zu.
»Hey, wo willst du hin?« Henris Stimme klang streng und tadelnd, doch als er bemerkte, neben wem der Junge sich niedergelassen hatte, schlich ein Schatten über sein Gesicht und er murmelte bloß: »Mach doch, was du willst.« Anschließend suchte er sich einen Platz mit möglichst viel Abstand zu Ardenwyn und Fridolin.
»Hallo«, grüßte Fridolin die Diebin schüchtern. Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf seinem kindlichen Gesicht.
Ardenwyn erwiderte es freundlich. »Guten Morgen.«
Neben ihr knetete Fridolin unbeholfen seine Hände, wagte aber nicht, eine Unterhaltung zu beginnen. Vermutlich wusste er ebenso wenig, was er sagen sollte, wie sie. Sie war einfach nicht dafür gemacht.
Erneut öffnete sich die Tür, die unter Deck führte. Dieses Mal war es Motte, der verschlafen in das getrübte Licht blinzelte.
»Aye, Motte!«, rief einer der Matrosen begeistert, dessen Namen die Feuertänzerin nicht kannte. »Was geht?« Motte lächelte ihm zu und reckte den Daumen in die Höhe.
»So gehört es sich, mein Junge!« Der Mann lachte. »Gut geschlafen?« Motte wiegte den Kopf nach links und rechts.
»Ja, geht mir auch so. Beim Seepferdchen, hat das heute Nacht geschaukelt, was? Bin fast aus meiner Koje geworfen worden.« Der Matrose bellte nun mehr, als dass er lachte. »Bei dir alles heil?«
Betont nachdenklich zählte der Wasserelf seine Finger nach, ehe sich seine Miene merklich erhellte und er mit einem breiten Grinsen nickte. »Prächtig!«, schnaufte sein Gesprächspartner zwischen ein paar schnaufenden Lachern. »Immer weiter so, Junge!«
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