Kapitel 14 - Der Weg nach Norden | 2
Die Sonne ließ das Weiß der Häuser erstrahlen. Der Tag hätte nicht schöner sein können.
Die kleine Gruppe bewegte sich zielstrebig durch die schmalen Gassen, immer weiter in Richtung Hafen. Mit Körben vollgepackten Frauen schlängelten sich ohne innezuhalten an ihnen vorbei, jeweils einer unter jedem Arm. Einige Mutige trugen sogar welche auf ihren Köpfen.
Die Räder von hölzernen Karren ratterten über das graue Kopfsteinpflaster der Straßen. Wurden entweder von Männern geschoben oder von gemütlich voran zuckelnden Eseln gezogen. Vom Meer her wehte eine sanfte Brise, die die bunten Fähnchen, die über ihren Köpfen hingen, zum Wehen brachten.
Lachend wuselten Kinder zwischen den vier Reisenden hindurch, kreischten aufgeregt, als einer von ihnen es schaffte, die orangene Katze zu berühren, die vor ihnen die Flucht ergriff.
Eine ältere Frau goss in einem der oberen Stockwerke eines Hauses aus Weiß und Blau verschiedenfarbige Blumen auf ihrer Fensterbank und schaute den Kindern amüsiert hinterher.
Schon bald ließen die vier die Gassen hinter sich und erreichten den Hafen. Wie am Tag zuvor hatten die Händler ihre Stände bereits aufgebaut und boten die unterschiedlichsten Waren an. Die bunten Stofftücher über ihren Ständen, die sie vermutlich vor der Sonne schützen sollten, bäumten sich im Wind auf, ehe sie wieder niedersanken und das Spiel von vorne begannen.
Hier war der Wind deutlich stärker, was aufgrund des offenen Meeres vor ihnen kein Wunder war. Erneut kam Ardenwyn nicht umhin, Fort Aequoria zu bewundern. Ein Hauch von Wehmut ergriff sie, als sie daran dachte, die Stadt schon bald wieder hinter sich zu lassen.
»Frischer Fisch!«, rief ein Mann mit stark geröteter Haut und einem einfachen, sehr mitgenommen aussehenden Leinenhemd. »Der beste Fisch in ganz Espenjona! Greift zu!«
»Pah, von wegen!«, schnaubte Zirkon leise. »Dann hat er noch nie bei der Fischkralle gekauft.«
»Wieso auch? Er bestitzt ein eigenes Fischgeschäft?«, bemerkte Ardenwyn beiläufig, die viel zu beschäftigt war, um wirklich gemein zu dem Steinteufel zu sein. Ihre Augen huschten über das Treiben. Männer und Frauen jeden Alters begutachteten die Auslagen der Stände, hier und da wurde lautstark gehandelt.
»Eine Frechheit!«, rief ein Mann und raufte sich aufgebracht die Haare, als der Händler seinen Preis nannte.
»Qualität hat ihren Preis, mein Herr.« Ausladend deutete dieser auf seine Waren, bei denen es sich um wirklich schöne Stoffe handelte. Teils nur als Stoffbahnen, teils bereits zu Kleidung und diversen anderen Waren verarbeitet.
Ardenwyns Blick fiel auf einen Stand, dessen Waren der Diebin vollkommen unbekannt waren. Schmale Metallröhren waren zusammengebunden worden. Manche von ihnen waren mit Fäden verziert, auf die Perlen aufgefädelt worden waren. Andere wiederum mit Federn oder Stofffetzen. Sobald wieder der Wind vom Meer her wehte, schwangen die Metallstäbe und ein wohlklingendes Geräusch kam auf.
Die Diebin bemerkte gar nicht, dass sie unwillkürlich stehengeblieben war und die fremden Gegenstände anstarrte. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Wozu war es gut?
»Ah, Sie haben ein gutes Auge, junge Dame!«, sagte die alte Dame mit einem sanften Lächeln. Ihr langes weißes Haar hatte sie mit einem rosafarbenen Tuch zurückgebunden. »Diese Windspiele sind ganz wundervoll, nicht wahr? Ihre Klänge unterscheiden sich, je nach ihrer Beschaffenheit und Form. Und schön anzusehen sind sie auch.«
Windspiele. Erneut brachte der Wind sie zum Klingen. Manche von ihnen gaben einen glockenhellen Ton von sich, andere wiederum antworteten deutlich tiefer. Ardenwyn begriff schnell, dass ihr Zweck dekorativer Natur war und sie keinem praktischen Nutzen boten. Dennoch hatte sie Gefallen an ihnen gefunden.
Im Labyrinth hatte es nur wenig Zeit für schöne Dinge gefunden. Windspiele hätten dort nicht hingepasst, da das vorhandene Geld eher für lebensnotwendige Dinge ausgegeben wurde. Das hier war nur eine schöne Spielerei. Die Vorstellung, dass die Bewohner des Labyrinths bunte Blumen auf ihre Fensterbänke stellten und zierliche Windspiele vor ihre Türen hängten, war so absurd, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte.
»Hey, Arda!« Zirkon hatte bemerkt, dass sie nicht mehr bei ihnen war. Ein Stück entfernt stand er wie ein Fels im Meer. Unbewegt, während die Leute an ihm vorbeiglitten wie das Wasser. »Wir sind nicht zum Einkaufen hier, und jetzt komm endlich!« Die Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Blick finster, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ah, der junge Mann hat keinen Sinn für die kleinen Freuden des Lebens, wie ich sehe«, seufzte die alte Händlerin, ehe sie wieder zu der Diebin sah. »Vielleicht finden Sie an einem anderen Tag die Zeit, sich die Windspiele anzusehen.«
»Ja. Vielleicht«, gab Ardenwyn mit belegter Stimme zurück. In Gedanken war sie in einer Stadt aus Schein und Trug. Mit Gängen aus Unrat und Blut.
Schnell wandte sie sich von der Frau ab und näherte sich Zirkon mit schnellen Schritten. Wobei sie längst nicht so gut voran kam, wie sie wollte. Immer wieder traten ihr Menschen in den Weg, sodass sie entweder ausweichen oder warten musste. Ihr entging nicht, dass dies hier die perfekte Gelegenheit für einen Taschendiebstahl gewesen wäre. Nicht einmal in der Marktstraße Mortas Poteras wäre es ihr so leicht gemacht worden.
Hier gab es deutlich weniger positionierte Wachen, die das Geschehen überblickten, und wenn, dann schauten sie mehr gelangweilt als aufmerksam umher. Das Treiben hier war so dicht, dass ein Diebstahl nicht einmal aufgefallen wäre, würden die Wachen aktiv danach suchen.
Sie näherte sich dem Stand, an dem in der Nacht des Straßenfests die Leute losgelöst im Schein der in den Himmel steigenden Laternen getanzt hatten. Der Anblick hatte sich Ardenwyn ins Gedächtnis gebrannt. Hatte ihrem versteinerten Herzen Sehnsucht und Trauer beschert, die den kleinen Funken der aufkommenden Hoffnung verdeckten.
Blaue Wellen spülten weiße Gischt an den goldenen Sandstrand. Dann erblickte die Feuertänzerin den steinernen Steg, an dem mehrere Boote – große wie kleine – vor Anker lagen. Im weiten Blau des Meeres waren ebenfalls einige Boote unterwegs. Erbaut aus Holz und doch sah jedes anders aus. Manche von ihnen waren bemalt wie das Meer, über das sie fuhren. Andere wiederum zeigten ferne Orte, die Ardenwyn nur aus Erzählungen kannte. Ein großes, exotisch aussehendes Schiff war in den Farben der Wüste bemalt worden. Palmen zierten eine kleine, idyllisch aussehende Oase. Ähnlich wie die, die der Weltenwandler als Kulisse für die Akrobaten geschaffen hatte.
Die Form des Schiffes war niedriger als die der anderen, deutlich flacher und auch der Mast wirkte schmaler. Die Segel waren in einem hellen orange gehalten und dreieckig. Außerdem gab es auch Sonnensegel, die die Besatzung vor der Sonne schützten.
»Wunderschön, nicht?«, flüsterte Wisteria neben ihr. »Die Wüste von Kahn muss genauso schön sein, wie sie unbarmherzig ist.«
»Ist das unser Schiff?«, wollte Zirkon wissen. Er sah nicht so beeindruckt aus wie die Giftmischerin.
»Ich wüsste nicht, wie Kiawwah uns auf ein solches Schiff bekommen haben soll«, gab Ardenwyn zu Bedenken. Ein geschwungener Schriftzug wies das Schiff als die »Wüstenblume« aus. Sanft schaukelte es mit den Wellen.
Plötzlich erschien die Besatzung, die wohl aus dem Inneren des Schiffes auftauchte. Die meisten von ihnen trugen unbekannte Kleidung. Die Stoffe waren farbenfroh, dünn und luftig. Während manche von ihnen ungewohnt viel Haut zeigten, waren andere hochgeschossen und gab nicht viel frei. Geschäftig trug die Besatzung Fässer aus dem Bauch der Wüstenblume zu der Planke. Vorsichtig rollten sie die Fässer hinunter auf den Steg.
»Nein, das wird nicht unser Schiff sein. Es sieht so aus, als würden sie gerade angekommen sein. Sonst würden sie nicht entladen. Wir aber werden ein Schiff haben, das abfahrbereit ist.« Ardenwyn löste ihren Blick von der eindrucksvollen Wüstenblume. Es lagen noch einige schöne Schiffe vor Anker, doch keines von ihnen versprühte den selben Charme wie das Schiff aus der Wüste von Kahn.
Wellen krachten gegen den steinernen Steg, Möwen zogen ihre Runden und das Wasser schwappte gegen die Schiffswände. Planken knarzten, Rufe schallten, der Wind heulte.
»Ahoi! Seid ihr unsere Gäste von der Fischkralle?« Eine kratzige Stimme riss ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die vier drehten sich um und Ardenwyn erblickte einen bärtigen Mann in einem langen blauen Mantel mit schwarzen Verzierungen. Der Stoff wirkte vom Salzwind und dem Wetter, dem er ausgesetzt sein musste, bereits rau und abgetragen. Die Farben waren bereits blass und auch der Mann selbst machte einen etwas rauen Eindruck. Sein Bart wirkte wild und sein dunkles Haar, das von weißen Strähnen durchzogen wurde, ungezähmt. Seine schweren Stiefel hatten bereits bessere Tage gesehen.
»Sehr wohl.« Diascur trat vor und deutete eine Verbeugung an. »Meine Freunde und ich suchen eine Mitfahrgelegenheit nach Capri. Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Innerlich schlug Ardenwyn sich unter der Wortwahl des Prinzen gegen die Stirn. Auffälliger konnte er nicht sein, oder?
Kurz blinzelte der Seemann irritiert und starrte Diascur an, ehe er ein tiefes, bellendes Lachen ausstieß, das den Steg zum Vibrieren bringen schien. Lachfältchen verdrängten die Härte aus seinem Gesicht und ließen es freundlicher erscheinen. Amüsiert klopfte er sich einmal mit der Faust auf die Brust.
»Du gefällst mir, Bursche!« Er trat auf den Erben der Schattenlande zu und klopfte ihm einmal fest und wohlwollend auf die Schulter. Dann schweifte sein Blick über die übrigen Reisenden, die er über das Meer führen sollte. »Schön, schön. Leute mit gewissen Qualitäten, he?«
Er grinste breit, als er Wisteria und Zirkon musterte. Bei Ardenwyns goldenen Augen blieb er kurz mit einem Stirnrunzeln hängen, ehe er sich wieder Diascur zuwandte. »Dann stellte ich euch mal unsere gute alte Wassertänzerin vor. Die Gute hat zwar schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, schneidet das Wasser aber noch immer wie am ersten Tag!«
Als der Seemann den Namen des Schiffes nannte, zuckte Ardenwyns Blick sofort zu ihm. Wassertänzerin? War nur ihr die Ähnlichkeit zu einem gewissen ermordeten Volk aufgefallen oder interpretierte sie zu viel in die Worte des alten Mannes hinein? Forschend musterte sie ihn. Ihm entging das nicht und er schenkte ihr ein breites Grinsen.
»Na dann, meine Hübsche. Bereit, die Wassertänzerin kennenzulernen, unser altes Mädchen?« Gut gelaunt schritt er voran. Die Gruppe aus der Fischkralle folgte ihm hastig, hatte der Mann doch ein flottes Tempo.
Sie alle betrachteten die Schiffe, denen sie sich näherten. Das schöne, schlank geschnittene Schiff mit der fein geschnitzten Figur am Bug, das kleine Blaue, das auf hoher See bestimmt mit den Wellen zu verschmelzen schien. Doch an ihnen allen führte der Seemann sie vorbei. Bis sie schließlich am Ende des Stegs angelangt waren.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst!« Fassungslos starrte Zirkon das letzte verbliebene Schiff an. Fehlte bloß noch, dass ihm die Kinnlade hinunterfiel. Unglauben machte sich in seinen Augen breit, als er sich zu dem Mann wandte, der voller Stolz zu dem Schiff sah, das sie nach Capri bringen würde.
»Das Ding ist niemals im Leben wassertauglich!« Der Steinteufel wich einen Schritt zurück. »Niemals im Leben bekommt ihr mich dazu, da einzusteigen!« Er lachte mit einem Hauch Verzweiflung auf. »Das kann doch nur ein Witz sein!« Zögerlich sah er zu dem Mann, der noch immer zufrieden lächelte. »Oder?«, hakte Zirkon etwas leiser nach.
»Ach, ich gebe zu, unser altes Mädchen sieht ein wenig mitgenommen aus. Aber ich versichere dir, kein Schiff wird dich sicherer an dein Ziel bringen. Die Gute und ich, wir haben schon einiges durchgestanden.« Lachend klopfte er mit der Faust gegen das einst dunkle Holz des Schiffes, das nun aber ziemlich blass wirkte.
Auch Ardenwyn begann, Bedenken zu haben. Sie mochte eine Menge Kraft haben. Doch sie war eine Feuertänzerin. Sollte das Schiff kentern, brachte ihr ihr Feuer auch nichts mehr. Hilflos wäre sie den Launen und der Macht des Meeres ausgeliefert.
Das Boot vor ihnen war mittelgroß. Kleiner als die prachtvolle Wüstenblume, die ganz vorne ankerte. Und auch deutlich älter und weniger eindrucksvoll. Das Boot wirkte alt. Sehr alt. Die Farbe längst verblichen. Ohne jede Verzierungen und Malereien. Im Gegensatz zu den ganzen anderen Schiffen war dieses geradezu farblos und trist.
Ein Blick auf den Mast genügte und ließ sie fürchten, dass er bei der kleinsten Windböe umkippen würde. Das Segel, das bestimmt einmal blütenweiß gewesen war, war nun von gräulicher Farbe und wirkte abgewetzt. Anders als die anderen Boote bot dieses keinerlei Komfort und wirkte mehr pragmatisch.
Zweifelnd zog die letzte Feuertänzerin ihre Augenbraue in die Höhe. Jetzt erschien ihr der Weg über das Meer wie eine überaus schlechte Idee. Was hatte sich Kiawwah nur dabei gedacht, sie auf der Wassertänzerin unterzubringen? Oder aber war sie nur die letzte Wahl gewesen?
»Hm, sie ist keine Schönheit mehr, aber wie sagt man? Wahre Schönheit kommt von innen?« Der Bärtige sah zu seinen Gästen. Sein Grinsen hob seine Mundwinkel, ehe er entschuldigend die Schultern zuckte und laut auflachte. »Na, innen ist sie auch nicht der Wahnsinn, aber um nichts in der Welt würde ich mich von ihr trennen! - Oh, ihr werdet die Hängematten lieben! Da erreichen euch immerhin die Ratten nicht!«
Er lachte noch immer, als Ardenwyn verstohlen zu dem Prinzen der Schattenlande sah. Doch keinerlei Reaktion war auf seinem Gesicht zu erkennen. Er stellte seine gelassene Maske nach wie vor tadellos zur Schau. Dafür sah man Zirkon umso mehr das Entsetzen an. Die Augen des Steinteufels waren groß, sein Gesicht sah aus, als wäre er einem Geist über dem Weg gelaufen. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und er konnte seinen Blick nicht von der Wassertänzerin lösen.
Auch Wisteria waren Zweifel anzusehen, selbst wenn sie sich deutlich besser im Griff hatte, als ihr Kollege. Sie bemühte sich trotzdem um ein Lächeln. »Sie haben ein sehr eindrucksvolles Schiff.«
»Nich wahr?« Der Seemann schenkte ihr ein stolzes Lächeln. Dann klopfte er zweimal feste auf das Holz des Bootes und rief: »Hey, Planke raus und Anker lichten! Lasst euren Kapitän und seine Gäste an Bord!« Dumpfe Schritte ertönten und ein dürrer Mann erschien über der Reling. Seine Augen blickten müde auf sie hinab, als er ihnen hastig die Planke herunterließ.
Der Bärtige breite einladend die Arme vor ihnen aus und schenkte jedem von ihnen ein breites Grinsen. »Willkommen am Bord der Wassertänzerin! Dem Boot, das jeden Winden trotz und jedem Sturm ins Gesicht lacht! - Und das ist zum Teil natürlich auch dem besten Kapitän in ganz Espenjona zu verdanken: Rufus Grämling! Stets zu Diensten!« Er vollführte eine übertrieben tiefe Verbeugung, ehe er beiseite trat. »Immer an Bord, meine Freunde! Wenn wir die Anker lichten, wollt ihr doch auf der richtigen Seite der Planke stehen!«
»Kommt drauf an, was er alsdie 'richtige Seite der Planke' sieht«, murmelte Zirkon und schluckte, bevor ersich einen Ruck gab und als erster die vertrauensvoll knarzende Wassertänzerinbetrat.
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