Kapitel 10 - Ein ungewolltes Bündnis | 1
Ardenwyn hasste es, auf andere Leute vertrauen zu müssen. So war es nicht verwunderlich, dass sie in dieser Nacht kaum Ruhe fand.
Durch das dichte Blätterdach blitzte hier und dort der dunkle Nachthimmel und gab den Blick auf zahllose funkelnde Sterne frei. Bis auf das Rauschen der Blätter im Wind und der Tiere der Nacht, war es beinahe unheimlich still. Die Diebin war es gewohnt, dass man dem Lärm selbst in der Dunkelheit nicht entkam. Geistloses Gebrabbel, brüllende Betrunkene, das Flehen Verzweifelter. Das Labyrinth stand niemals still. War niemals leise. Nun konnte die Feuertänzerin hier abseits der Stadt, in der Ruhe des Waldes, nicht schlafen. Die Gedanken, die ihr ohne Pause durch den Kopf schossen, trugen nicht gerade dazu bei, dass sie endlich ins Land der Träume driftete.
Ihr fielen so viele Gründe ein, die alles zunichtemachen könnten und das allein, weil sie sich jetzt mit drei weiteren Personen herumschlagen musste. Allein das Wissen, dass es bloß für begrenzte Zeit war, konnte sie etwas trösten. Sobald sie wieder vollkommen fit sein würde (was ehrlich gesagt nicht lange dauern würde, immerhin war sie eine Feuertänzerin) und sobald ihre Entführer in ihrer Aufmerksamkeit nachlässig werden würden, wäre sie schneller weg, als diese begreifen konnten, was geschehen war.
Vielleicht hatte es sogar einen kleinen Vorteil für sie, ab jetzt in einer Gruppe zu reisen: Die Wachen aus Mortas Potera suchten nach einer einzelnen Person auf der Flucht. Und der Mann im Mantel, den sie bestohlen hatte, hatte ihr Gesicht nicht gesehen. Ebenso wenig ihr kupfernes Haar. Sie suchten nach einem Schatten.
»Kannst du auch nicht schlafen?« Freundlich lächelte Wisteria ihr zu. Das Feuer war bereits heruntergebrannt, war bloß noch eine schwache Glut, die ebenso bald erlöschen würde. Ardenwyn und die drei anderen hatten ihr Lager um das Feuer herum aufgeschlagen. Hätte Zirkon ihr Nachtlager nicht mithilfe einer undurchdringlichen Mauer aus Stein geschützt, hätte sie in Betracht gezogen, jetzt schon heimlich zu verschwinden.
Die Diebin schwieg, starrte in die Dunkelheit und wünschte sich fort. Wisterias Stimme klang betrübt, als sie wieder das Wort ergriff. »Ich weiß, dass du hier nicht sein möchtest. Und es tut mir leid, dass es so kommen musste. Aber bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass wir wirklich keine bösen Absichten haben. Wir wollen den falschen König stürzen. Du möchtest ihn doch auch nicht länger auf dem Thron sitzen sehen, der eigentlich König Arylon und seiner Familie zusteht.«
»König Arylon ist tot. Genau wie seine Familie.« So sehr sie auch den Schmerz in ihrer Stimme verbergen wollte, sie konnte nicht. Und so beließ Ardenwyn es dabei.
Die Giftmischerin schluckte hörbar. »Ich weiß. Aber irgendwen muss es noch geben. Ich möchte einfach nicht glauben, dass sie alle ausgelöscht worden sind. Irgendwo da draußen, muss es noch jemanden geben.« Die Hoffnung, die in ihren Worten mitschwang, fühlten sich in Ardenwyns Brust an wie Messerstiche. Gequält presste sie die Lippen aufeinander und wandte sich der Dunkelheit zu, von der erlöschenden Glut weg.
»Es gibt niemanden mehr.« Und wie wollten sie dann entscheiden, wen sie auf den Thron setzten? Wenn weder Wisteria noch Zirkon Espenjonas Thron für sich beanspruchen würde, müssten sie ihn an einen Fremden übergeben. Und dann bestand die Chance, das ganze Land einem zweiten Avaron Schwarzwasser auszuliefern.
»Gib die Hoffnung nicht auf, Arda«, sagte Wisteria sanft, doch Ardenwyn schwieg. Die Hoffnung war zusammen mit ihren Eltern in den Feuern von Mortas Potera gestorben.
»Dann zeig mal her!«, forderte Zirkon sie am Morgen auf. Die Neugier stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit leuchtenden Augen sah er sie an und erinnerte sie in diesem Augenblick an ein kleines Kind, dessen Eltern ihm ein Geschenk versprochen hatten. Wäre Ardenwyn eine andere gewesen, hätte sie das vielleicht süß gefunden. Nun aber war sie bloß genervt. Beinahe war sie versucht, ihm zu sagen, dass er ihr Diebesgut erst nach dem Frühstück zu sehen bekommen würde, aber sie beließ es dabei. So ungern sie das zugab, sie befand sich jetzt nicht wirklich in der Position, um irgendetwas zu bestimmen.
Also hielt sie ihren Zorn zurück und ihre Hand glitt in ihre Hosentasche. Drei Augenpaare folgten dieser Bewegung. Die Spannung in der Luft war beinahe greifbar. Schnell ertasteten ihre Finger den weichen Beutel und vorsichtig zog sie ihn heraus. Kaum merklich beugte Zirkon sich vor, während Diascur sich keine einzige Regung ansehen ließ. Durch und durch ein Adeliger.
Dann streckte die Diebin ihre Hand aus und öffnete die Finger. Der Beutel in ihrer Hand kam zum Vorschein. Niemand wagte, etwas zu sagen. Nicht einmal der Steinteufel. Mit geübten Bewegungen öffnete Ardenwyn den Beutel und zog eine der dreizehn Perlen ins Licht. Beim Kontakt mit der Sonne funkelte die rote Perle golden.
Diascur war der Erste, der begriff. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht und kaum merklich weiteten sich seine Augen. »Die Perlen von Kahn!«, hauchte er und Ardenwyn sah ihm an, dass er mit einem Mal verstand, in was für einer Katastrophe sie sich alle wiedergefunden hätte, hätten diese Perlen den falschen König erreicht, wäre die Diebin nicht zuvorgekommen. Haarscharf waren sie an einer Welt bestehend aus Chaos entkommen. Aber es hätte auch ganz anders ausgehen können. Diascur begriff, was für ein Glück es gewesen war, dass die Diebin zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen war und sich ausgerechnet dafür entschieden hatte, die richtige Person zu bestehlen. Fast war es schon zu viel Glück.
»Die Perlen von was?« Ungläubig drehte Ardenwyn sich zu dem Steinteufel um. Wie konnte er das nicht wissen?
»Ich habe gedacht, das wäre nur eine Legende«, flüsterte Wisteria. Dann wandte sie sich an Zirkon und erklärte kurz: »Die dreizehn Perlen von Kahn repräsentieren die dreizehn Wesen, die ursprünglich in Espenjona gelebt haben und verleiht dem Träger einer Perle die jeweilige Kraft.«
Zirkon überlegte. »Wenn ich mir also diese rote Perle da nehme, dann was?«
»Das ist die Feuerperle.« Ardenwyns Stimme klang belegt. »Wenn du sie nimmst, hast du die Macht über das Feuer. Wie die Feuertänzer.«
Seine Augen wurden groß. »Wow.« Er pfiff. »Dann ist es ja wirklich gut, dass Avaron die nicht in die Finger bekommen hat.«
»Du ahnst vermutlich nicht einmal, wie gut das ist«, brummte die Diebin düster. Die Welt würde nur noch aus Schutt und Asche bestehen, besäße Avaron die Perlen von Kahn.
»Aber wie funktioniert das?«, wollte der Steinteufel wissen. »Muss ich die Perle dann berühren, damit ich Zugriff auf ihre Kräfte habe oder reicht es, wenn ich sie in meiner Jackentasche aufbewahre?« Dann schüttelte er seinen Kopf. »Nein, wäre es so, hätte Arda jetzt die Macht aller dreizehn Perlen gehabt.«
»Dieses Wissen ist lange verloren gegangen.«, erhob nun auch der Prinz der Schattenlande das Wort. »Das Einzige, das wir wissen ist, dass dem Besitzer unglaubliche Kräfte zur Verfügung stehen. Aber ich bezweifle, dass es genügt, die Perlen nur bei sich zu tragen. Doch wir brauchen uns nicht darum zu sorgen. Avaron ist nicht in den Besitz der Perlen von Kahn gelangt. Unsere Aufgabe ist es, dass das so bleibt. Und ich wage zu behaupten, dass allein das uns genügend beschäftigen wird.«
»Man wird uns jagen!«, begriff nun auch die junge Giftmischerin und Angst funkelte in ihren grünen Augen.
»Nein.« Ardenwyn schüttelte den Kopf. »Man wird mich jagen.« Sie hatte die Perlen gestohlen. Sie hatte man gesehen. Solange niemand erfuhr, dass es Arda Elster gewesen war, war sie jedoch in Sicherheit. Nur bezweifelte der pessimistische Teil in ihr, dass sie so viel Glück hatte. Ihr Glück hatte sie sehr wahrscheinlich bereits aufgebraucht.
Die Augen des Steinteufels verdunkelten sich. »Oh, also laufen wir jetzt mit einer wandelnden Zielscheibe herum?« Ardenwyn verkniff sich einen giftigen Kommentar. Von nun an würde sie sich mit dem Steinteufel und seinen Freunden abfinden müssen. Genauso wie mit ihren Worten. Doch sie hatte gewusst, dass man sie hier nicht haben wollte. Sie war nur wegen der Perlen hier. Aber sie würde mit all dem umgehen können. Sie hatte schon deutlich Schlimmeres durchgestanden.
»Hat man dein Gesicht gesehen?«, wollte der Schattenfürst sachlich wissen.
»Ja«, antwortete die Diebin trocken. »Aber ich bezweifle, dass man sich großartig an mein Gesicht erinnert.«
»Du hast wohl vergessen, dass du goldene Augen hast. Das ist alles andere als gewöhnlich!«, hielt der Steinteufel aufgewühlt dagegen.
Unbeeindruckt zog die Feuertänzerin eine Augenbraue in die Höhe. »Du erinnerst dich also an jedes Gesicht, das dir auf dem Marktplatz begegnet? Du erinnerst dich also noch an das Gesicht der Verkäufer, die du nur ein einziges Mal für eine einzige Minute gesehen hast, während du in Eile warst?«
Die Wut grub tiefe Furchen in Zirkons Stirn und er presste die Lippen fest aufeinander. Seine Augen blitzten ihr missbilligend entgegen. Obwohl er schwieg, kannte die junge Frau seine Antwort. Ein zufriedenes Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln.
»Ganz gleich, ob man dein Gesicht gesehen hat oder nicht: Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Diascur ruhig. »Bitte verwahre die Perlen weiterhin.« Oh, das würde sie auch tun, wenn er von ihr verlangen würde, sie ihm auszuhändigen! Und das wussten sie beide. Also legte Ardenwyn die Feuerperle zurück in den Beutel, den sie wiederum sorgsam in ihrer Hosentasche verstaute.
»Da du eine Diebin bist, hoffe ich, dass du nicht auf Taschendiebe hereinfällst!«, brummte Zirkon. Für wen hielt er sie? Ihre Tage als blutige Anfängerin lagen weit zurück! Eine von Honras ersten Lektionen war außerdem: Eine Diebin lässt sich nicht bestehlen. Und das hatte sie verinnerlicht.
»Verweilen wir nicht länger in diesem Wald«, entschied der Schattenfürst. »Ich gehe doch sehr davon aus, dass die Wachen die Umgebung um Mortas Potera herum gründlich durchsuchen wird. Suchen wir ein Gasthaus auf.«
Ardenwyn runzelte die Stirn. »Ein Gasthaus?« Sie hatte erwartet, von nun an immer unter den Sternen zu schlafen. Immerhin wollten sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Gasthäuser platzten vor lauter Gästen aus allen Nähten.
»Du weißt schon: Ein Haus, in dem du gegen Geld für eine bestimmte Zeit ein Zimmer bekommst und Essen erhältst. Aber kleiner Tipp von mir: Meist ist dieses Essen nicht genießbar!«, spottete der Steinteufel. Ardenwyn reagierte auf seinen Spott, indem sie ihn ignorierte.
»Zirkon!«, rief Wisteria empört und sah ihr Gegenüber fassungslos an. »Benimm dich. So bist du doch sonst nicht!« Er zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. Na, das konnte noch etwas werden.
»Wir werden ein Gasthaus aufsuchen«, fuhr Diascur ungerührt fort, »da dies der perfekte Ort ist, um an Informationen zu gelangen und potenzielle Verbündete zu suchen.«
»Informationen? Worüber?« Misstrauisch beäugte sie den Adeligen.
»Wir müssen unseren Feind kennen, um ihn schlagen zu können.«
Düster lachte Ardenwyn aus. »Ich brauche ihn nicht zu kennen, um ihm mein Messer ins Herz zu stoßen! Und glaubt Ihr etwa, dass ein Assassine viel Wert darauf legt, sein Opfer kennenzulernen, bevor er es ins Jenseits schickt?« Sie behielt für sich, dass Assassinen ihre Opfer zunächst studierten, sich ihre Angewohnheiten und Tagesabläufe einprägten. Aber die Geschichte ihres Opfers interessierte sie nicht. Wen interessierte es, ob Avaron schon immer ein böser und hasserfüllter Mensch oder ob er einst ein lieber kleiner Junge gewesen war? Das Hier und Jetzt zählte.
Diascur blieb geduldig. »Um Avaron Schwarzwasser vom Thron zu stürzen, ist es von Vorteil, ihn zuvor zu kennen. Ein Mann, den du kennst, kann dich in seinen Handlungen nicht überraschen. Und dass er gerissen sowie nicht zu unterschätzen ist, zeigt spätestens die Ermordung von König Arylon und dass er es zustande gebracht hat, das ganze Land innerhalb kürzester Zeit zu unterwerfen.«
In Ardenwyns Augen glühten die Sonnen und das aufkommende Brennen verriet ihr, dass die Tränen nahe waren. Doch sie schluckte sie hinunter, konzentrierte sich ganz allein auf den Schattenfürsten vor ihr. Wie von allein ballten sich ihre Hände zu Fäusten und sie wünschte, irgendwo drauf einschlagen zu können.
»Avaron ist nicht gerissen. Und er ist bloß ein einzelner, mickriger Mensch. Er ist grausam und hasserfüllt. Er lässt alles vernichten, das ihm im Weg steht. Das ist alles, was ich über ihn zu wissen brauche und alles, was es über ihn zu wissen gibt. Steht ihm jemand im Weg, tötet er ihn. Dafür ist keine Gerissenheit notwendig. Sein ganzes Wesen basiert allein auf Grausamkeit.« Ihre Worte waren leise und getränkt von Schmerz und jahrelanger unterdrückter Wut.
»Da sprechen die Gefühle aus dir«, erwiderte Diascur ruhig. »Schiebe sie beiseite und siehe klar, denn sie verschleiern deine Sicht, trüben dein Urteilsvermögen.« Am liebsten hätte die junge Feuertänzerin geschrien. Nicht nur wegen seiner Entgegnung, sondern auch wegen seiner Worte. Genau so hätten sie auch von Honra kommen können und die Erinnerung an ihn schmerzte beinahe genauso sehr, wie ihr Hass auf den falschen König.
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