Kapitel 1 - Nächtlicher Besuch | 3
Das Mädchen rieb sich die müden Augen. »Du bist nicht meine Mama.«, stellte es fest und Angst schlich in seiner Stimme mit. Seine Augen wurden noch größer, was beinahe ein Ding der Unmöglichkeit war. Zusätzlich fingen sie noch an zu glänzen. Nicht mehr lange und das Kind würde losheulen. Ardenwyn musste sich etwas überlegen und zwar schnell!
»Wo ist meine Mama?«, schluchzte das Mädchen leise und presste seinen Teddybären fest an sich. Innerlich fluchte Ardenwyn erneut. Doch dann ließ sie sich vor dem Kind auf ihre Knie fallen und bemühte sich, freundlich zu schauen. Die Kapuze und das Tuch, das ihr Gesicht zur Hälfte verdeckte, waren ihr keine Hilfe. Doch sie wagte es nicht, ihr Gesicht zu entblößen. Dass das Mädchen ihre Augen sah, war ihr schon unangenehm genug.
»Deine Mama schläft friedlich in ihrem Bett.«, verkündete Ardenwyn. Sie hatte eine angenehme Stimme, das wusste sie. Und das versuchte sie nun für sich zu nutzen. Unter allen Anstrengungen versuchte sie auch noch, ihrer Stimme einen sanften Klang zu verleihen. Ardenwyn schenkte dem Mädchen ihr schönstes Lächeln. Sogar das Tuch vor ihrem Mund konnte es nicht verbergen.
Das Kinds schien sich ein wenig zu beruhigen. Dennoch wirkte es etwas unsicher. »Und was machst du hier?«, wollte es wissen. Schnell versuchte Ardenwyn das Alter des Mädchens einzuschätzen. Es konnte nicht älter als sieben Jahre sein. Wahrscheinlich war es sogar jünger. Vielleicht fünf oder sechs?
»Kennst du die Zahnfee?«, fragte Ardenwyn das kleine Mädchen und hoffte, dass ihr Plan aufging. Tatsächlich schien das Mädchen erst einmal mitzumachen.
»Natürlich!«, meinte das Kind stolz und deutete auf einen seiner fehlenden Schneidezähne. »Erst vor ein paar Tagen hat mir die Zahnfee eine Münze unter mein Kissen gelegt!«
Ardenwyn spielte ihr Spiel weiter. Sie versuchte jedes bisschen Wärme und Freundlichkeit, das sie aufbringen konnte, in ihren Gesichtsausdruck zu packen. »Weißt du, so etwas Ähnliches wie die Zahnfee gibt es auch für Erwachsene.«, meinte Ardenwyn lächelnd. »Und das bin ich. Vorhin habe ich deiner Mutter eine Münze unter ihr Kissen gelegt. Deshalb bin ich hier.«
Sie hoffte, dass das kleine Mädchen ihr die Lüge abkaufen würde. Dieses hob allerdings seine Augenbrauen. »Du hast meiner Mama eine Münze unter das Kissen gelegt? Wofür denn?«, wollte es wissen. »Meine Mama hat ihre Zähne schon alle verloren.« Es kicherte leise.
»Anders als die Zahnfee verteile ich Münzen für Freundlichkeit.«, log Ardenwyn und versuchte dabei so aufrichtig auszusehen, wie sie konnte. »Deine Mama ist eine sehr gute Frau. Deshalb habe ich ihr eine Münze unter das Kissen gelegt.«
Dieses Mal glänzten die Augen des Mädchens vor Freude. »Meine Mama ist die beste Mama, die ich kenne!«, sagte es stolz und knuddelte seinen Teddybären. »Dann musst du aber ziemlich oft kommen, da Mama jeden Tag freundlich ist!«
Zustimmend nickte Ardenwyn. »Ich komme jeden Tag.«, behauptete sie. »Deshalb habt ihr auch so viel Geld. Weil deine Mama so freundlich ist, bekommt sie von mir so oft Geld geschenkt.« Hoffentlich wachten die Eltern jetzt nicht auf. Zumindest hatte sie es noch geschafft, die Schlafzimmertür hinter sich zu schließen. Dennoch wollte sie nichtlänger als notwendig hier bleiben. Doch das Mädchen sah nicht so aus, als würde es sie so schnell gehen lassen wollen. Zuvor hatte es noch so ausgesehen, als würde es anfangen zu weinen und nach seinen Eltern rufen. Aber nun sah es so aus, als ob das Kind noch stundenlang mit ihr reden wollte.
»Wirklich?«, fragte das Kind fasziniert. »Und ich dachte, dass Mama und Papa so viel Geld haben, weil sie so viel arbeiten!« Ardenwyn wollte schon genervt die Augen verdrehen, doch sie beherrschte sie gerade noch rechtzeitig, sodass sie ihr unechtes Lächeln aufrecht erhielt.
»Natürlich kommt das Geld auch von der Arbeit deiner Eltern.«, sagte Ardenwyn freundlich. »Aber da deine Eltern auf ihrer Arbeit auch so viel Gutes tun, bekommen sie von mir auch noch etwas Geld.«
Das Mädchen nickte wissend. »Ja, meine Eltern tun viel Gutes!«, sagte es stolz. »Immerhin arbeiten sie für den König!« Mit vor Stolz geschwellter Brust sah es Ardenwyn an, der die Beherrschung nun beinahe unmöglich schien. Ihr Lächeln begann zu verrutschen. Ihr Gesicht verdunkelte sich. Die Abscheu in ihrem Herzen wuchs. Sie hatte es doch gewusst. An eine solche Villa kamen sogar die Menschen nicht so einfach. Man musste schon in der Gunst von Avaron Schwarzwasser stehen, um so leben zu können, wie diese Familie es tat. Abgrundtiefe Verachtung erfüllte jeden Winkel von Ardenwyns Körper. Sie sah auf das kleine Mädchen herab, das stolz lächelnd vor ihr stand. Am liebsten hätte sie ihm den Teddybären entrissen und ihn vor seinen Augen in Flammen aufgehen lassen. Mit seinen blonden langen Haaren, die sein leicht rundliches Gesicht umspielten wirkte das Mädchen so unschuldig. Wie ironisch.
»Dann ist es ja kein Wunder, dass sie die Möglichkeit haben, so viel Gutes zu tun.«, würgte Ardenwyn die Worte heraus, die ihre Kehle zu verätzen schienen. »So schwer es mir auch fällt, ein so liebes Mädchen wie dich jetzt allein zu lassen; ich muss weiter. Es gibt nämlich noch ein paar andere Menschen, die ich für ihre Freundlichkeit belohnen möchte.«
Verstehend nickte das Mädchen, auch wenn es ein klein wenig traurig wirkte. »Kommst du bald wieder?«, wollte es mit belegter Stimme wissen.
Ardenwyn brachte ein Nicken zustande. »Aber natürlich. Wie ich es bereits gesagt habe: ich komme fast jede Nacht her.« Sie wandte sich zum Gehen, als eine kleine Hand ihre ergriff. Ardenwyn widerstand dem Drang, sie abzuschütteln und zwang sich, das kleine Mädchen noch einmal anzusehen.
»Kommst du mich denn auch mal besuchen, wenn ich erwachsen bin?«, wollte es wissen. Bittend sah es Ardenwyn an.
Ardenwyn kämpfte um ein Lächeln. Dies gelang ihr auch eher schlecht als recht. »Wenn du immer freundlich und gut bist, werde ich zu dir kommen und dir eine Münze unter dein Kissen legen.«, sagte sie. »Vielleicht bist du dann wach und kannst wieder mit mir reden.« Die Augen des Kindes leuchteten vor Freude auf. Ihm entging der harte Ausdruck in Ardenwyns Augen.
»Oh ja! Ich verspreche dir, dass ich immer freundlich sein werde!«,versprach es aufgeregt. »Ich werde immer Gutes tun und dann sehen wir uns wieder!« Über die Ironie in den Worten des Kindes hätte Ardenwyn beinahe freudlos aufgelacht. Dieses Kind würde genauso werden wie seine Eltern. Es war in diese Familie hinein geborenworden. Allein das besiedelte sein Schicksal. Noch mochte es unschuldig sein. Aber für wie lange?
Plötzlich schlang das Mädchen seine Arme um Ardenwyn, die sich sofort versteifte. Das verlief nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Generell verlief diese Nacht ganz anders, als sie es eigentlich geplant hatte. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Widerwillig legte sie ihre Arme um das Kind und ließ es auch sobald wie möglich wieder los. Lächelnd blickte das Kind zu ihr hinauf. »Auf Wiedersehen!«, sagte es und hüpfte gut gelaunt durch den Flur. An der Treppe blieb es noch einmal kurz stehen und wandte sich wieder Ardenwyn zu. Zum Abschied winkte es ihr noch einmal und lief dann die Treppe hinauf. Schlecht gelaunt ließ Ardenwyn ihr falsches Lächeln nun endgültig fallen und wünschte, sie hätte sich für ein anderes Haus entschieden. Aber nun war es zu spät und sie konnte es sowieso nicht mehr ändern. Immerhin waren die Eltern nicht aufgewacht und selbst wenn das Kind morgen seinen Eltern von ihrem Besuch erzählen würde: erst einmal würden wahrscheinlich nicht einmal bemerken, dass sie bestohlen worden waren. Außerdem würde man dem Gerede eines Kindes, eine Zahnfee für Erwachsene gesehen zu haben, nicht glauben. Wenigstens darüber konnte sie sich sicher sein.
Genauso leise wie sie hereingekommen war, machte Ardenwyn sich daran, das Haus zu verlassen. Hinter ihr schloss sie vorsichtig die Tür. Erneut war der Mond hinter den Wolken verschwunden, sodass Ardenwyn ungesehen mit der Dunkelheit verschmolz und verschwand.
Niemand hatte die Gestalt bemerkt, die mitten in der Nacht das Haus der Lamondts beobachtet und sich anschließend Zutritt verschafft hatten. Niemand, bis auf ein kleines Mädchen, das der festen Überzeugung war, einer guten Fee begegnet zu sein.
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