Kapitel 1 - Nächtlicher Besuch | 1
Es war eine düstere Nacht. Nicht einmal der Mond traute sich hinter den grauen Wolken hervorzutreten und sein Licht auf die verdorbene Stadt zu werfen. Es war, als mied sogar das Licht Mortas Potera.
Lauernd kauerte eine zierliche Gestalt in der Dunkelheit. Sie verschmolz mit den Schatten. Selbst ein geschultes Auge hätte sie nicht gesehen. Still wurde die Gestalt eins mit der Nacht. Sie war ganz ruhig. Sie hatte alle Zeit der Welt. Die Nacht war lang. Es würde noch einige Stunden dauern, bis die ersten Sonnenstrahlen die Finsternis vertreiben würde.
Mit aufmerksamen Augen beobachtete sie das prächtige Gebäude vor ihr. Es war groß und um die vielen Fenster waren kunstvolle Ornamente aus dem Stein gehauen worden. Zu einer solch präzisen und sauberen Arbeit waren nur Steinteufel in der Lage. Vielleicht hatte dieses Haus auch einst einer Familie von Steinteufeln gehört. Doch das musste lange her sein. Mittlerweile lebten im Goldenen Viertel nur noch Menschen.
Ein bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Für einen Augenblick verdunkelte sich ihr Gesicht. Allerdings dauerte dies nur einen Wimpernschlag an und sie hatte sich wieder voll im Griff.
In den Fenstern brannte kein Licht. Die Bewohner schliefen. Tief und fest, wie sie hoffte. Was sie gar nicht gebrauchen konnte, waren Komplikationen. Das würde nur zu einer unnötigen Verzögerung ihres Vorhabens führen.
Noch wagte sie es jedoch nicht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Auch wenn das Haus vor ihr ruhig schien, würde sie auf den Schein nicht reinfallen. Sie wusste, dass ein Bewohner dieses Hauses noch wach war. Aber sie war geduldig. Sie würde warten, bis auch der letzte Störfaktor friedlich in seinem Bett schlief.
Wie aufs Stichwort entflammte ein kleines Licht in einem der oberen Fenster. Genau wie sie es erwartet hatte. Ein selbstgefälliges Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Nicht mehr lange. Ihre Zeit war bald gekommen.
Das Licht im Fenster hüpfte leicht auf und ab. Sie spürte seine Wärme bis hier draußen. Es war ein angenehmes Gefühl. Aufmerksam verfolgte ihr Blick das mickrige Flackern der Kerze. Etwa um diese Zeit musste die Tochter der Familie immer etwas trinken. Das war ihr bei ihren vorherigen Beobachtungen aufgefallen. Aber spätestens in einer halben Stunde würde auch das Mädchen tief und fest schlafen. Es war noch recht jung und soweit sie wusste, konnte es auch jetzt schon kaum noch die Augen aufhalten. Wenn sie Glück hatte, musste sie nur etwa zehn Minuten warten.
Kurze Zeit später erlosch das Licht im Fenster und die Gestalt bereitete sich innerlich auf ihr Vorhaben vor. Ein letztes Mal überprüfte sie, ob ihre schwarze Kapuze auch richtig saß. Schließlich sollte niemand sie später an ihren Haaren erkennen können. Zusätzlich zog sie ein dunkles Tuch über die untere Hälfte ihres Gesichts. Natürlich wusste sie, dass das vermutlich gar nicht nötig war. Allein ihre Augen hätte sie irgendwie verstecken müssen. Doch das konnte sie – zu ihrem Bedauern – leider nicht. Allerdings hätte sie im Notfall immer noch einen Trumpf im Ärmel.
Sicherheitshalber wartete sie noch ein paar Minuten, bis sie aus den schützenden Schatten der schmalen Gasse trat. Ärgerlicher Weise entschied sich der Mond nun, der Stadt sein bleiches Licht nicht mehr länger vorzuenthalten. Ein silberner Lichtstrahl erfasste die dunkel gekleidete Gestalt. Ein Beobachter hätte sie zwar nicht sofort wahrgenommen, doch auf dem zweiten Blick hätte man sie entdeckt.
Sie war von zierlicher Gestalt. Ihr Körper war schlank und weder groß noch klein. Das Mondlicht ließ ihre Haut beinahe schneeweiß erscheinen. Doch das Ungewöhnlichste an ihr waren wohl ihre Augen. In ihnen lag ein harter und unnachgiebiger Ausdruck. Doch das war es nicht. Es war ihre Farbe: die Augen waren golden.
Noch einmal sah sie sich um. Nach wie vor war sie allein. So spät in der Nacht waren sie alle in ihren Häusern und schliefen. Im Glauben, unantastbar zu sein. Aber Ardenwyn würde sie eines Besseren belehren. Für Menschen hatte sie nicht mehr viel übrig. Nicht seit damals.
Sie bewegte sich lautlos und mit solch einer Anmut, die selbst den begnadetsten Tänzer vor Neid erblassen ließe. Entschlossen ging sie zur Haustür. Im Gegensatz zum Rest des Hauses bestand diese nicht aus Stein, sondern aus einem sorgfältig bearbeiteten Holz. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie das Holz einfach angezündet und kurz gewartet, bis das Feuer es verschlungen hätte. Doch nach den Geschehnissen, die mittlerweile fast dreizehn Jahre zurück lagen, hüteten sich die Leute davor, leicht brennbare Materialien für den Hausbau zu verwenden. Dementsprechend konnte sie davon ausgehen, dass sich die Holztür nicht so einfach verbrennen ließ. Vielleicht hatten die Bewohner des Hauses sich an eine Wisperin gewandt, wie so viele andere. Zwar waren die Fähigkeiten der Wisperer ziemlich eingeschränkt, doch das sollten sie noch hinbekommen. Seit damals hatten einige Wisperer die Schattenlande verlassen und waren hier hergekommen. Immerhin gab es aufgrund des vergangenen Krieges einiges an Arbeit für sie in Espenjona.
Wahrscheinlich war es sowieso besser, die Tür nicht zu verbrennen. Ardenwyn durfte auf keinen Fall auffallen. Sie musste sich weiterhin bedeckt halten. Und eine verbrannte Tür würde einiges an Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Darauf konnte sie verzichten. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als wie jedes Mal ihren Dietrich zu benutzen. Mit geübten Handgriffen machte sie sich ans Werk. Es dauerte nicht einmal eine Minute, da verkündete ihr ein leises Klicken, dass sie es geschafft hatte. Geräuschlos öffnete Ardenwyn die Tür und trat in den dunklen Hausflur. Hinter ihr zog sie die Tür zu. Allein die Ausstattung des Flurs verriet ihr bereits die Unmengen an Geld, die den Bewohnern zur Verfügung standen. Ganz so, wie Ardenwyn es bereits erwartet hatte. Zufrieden verließ sie den Flur und bog in das erste Zimmer ab, das sie fand. Es handelte sich um das Wohnzimmer. Ardenwyn war nicht überrascht. Sie kannte den Aufbau der Villen im Goldenen Viertel. Der Aufbau unterschied sich von Haus zu Haus kaum. Sie hätte sich hier mit geschlossenen Augen zurechtfinden können.
Das Wohnzimmer war ein großer Raum, der ganz nach den Vorstellungen einer der reichsten Familie Mortas Poteras gestaltet worden war. Es gab einen großen, kunstvoll gestalteten Karmin, über dem ein großes Familiengemälde hing. Dieses zeigte vier Personen. Ardenwyn schenkte ihnen kaum Beachtung.
Das Zimmer war alles andere als überfüllt. Vor dem Karmin standen zwei Sessel und in der Mitte des Zimmers, unter dem prachtvollen Kronleuchter, war ein großer, schwerer Eichenholztisch zu sehen. Dieser stand in der Mitte von zwei eleganten Sofas, die natürlich mit dem besten Stoff aus ganz Espenjona bezogen waren. Ansonsten gab es in dem Zimmer noch zwei Schubladen, die aus dem selben Material gebaut worden waren wie der Tisch. Abgesehen von ihnen erblickte Ardenwyn ein beinahe bis zur Decke reichendes Bücherregal und eine Vitrine. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Ihr war schon fast klar gewesen, dass sie nicht lange suchen müsste. Die Leute hier gaben nur zugerne an.
Aufmerksam trat sie näher an die Vitrine heran. Hinter dem Glas erkannte Ardenwyn einige durchaus wertvolle Objekte. Ihr Blick blieb an einem goldenen Medaillon hängen, in das ein grüner Saphir eingesetzt worden war. Damit könnte Ardenwyn einiges verdienen. Jedoch war das Medaillon an sich etwas klobig und wies nach einer genaueren Betrachtung einige Kratzer auf. Sie verkniff sich ein genervtes Seufzen. Das würde der alte Wolra nutzen, um ihr wieder einmal weniger zahlen zu müssen. Sie freute sich jetzt schon auf das Verkaufsgespräch mit dem geizigen Wandler.
Ardenwyn riss ihren Blick von dem Medaillon los und schenkte den anderen Gegenständen mehr ihrer Aufmerksamkeit. Ein goldener Trinkpokal, Perlen in verschiedenen Größen und drei kleine Skulpturen aus Granat. Letztere waren das Werk eines Steinteufels. Nur diese konnten so geschickt mit Stein umgehen. Und wieder einmal bezweifelte Ardenwyn, dass die Bewohner dieses Hauses die rechtmäßigen Besitzer dieser kleinen Kunstwerke waren. Aber das war sowieso egal. Sie würde die Skulpturen nämlich mitnehmen. Im Gegensatz zu dem Medaillon waren diese in einem tadellosen Zustand.
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