Fernweh
Nur ganz langsam stieg die junge Frau die Hügel herab und betrachtete den riesigen See. Die Küste war menschenleer, bestimmt aufgrund des schrecklichen Wetters. Das Einzige was man hörte, war das Kreischen einer Möwe, die einige Meter neben ihr landete. Für einen Moment hielt sie in ihrer Bewegung inne und sah zu ihr. Dunkle Augen trafen ihren Blick. Zwei Gestalten, die um diese Zeit nicht an diesem Ort sein sollten. Sie beide passten nicht hierher. Dann sah sie zurück. Bedacht setzte sie einen Fuß nach dem anderen den Hügel herab und versank in dem nassen Gras. Ihre nackten Füße betraten die nassen Steine von Dores Beach. Es schien sie nicht zu stören, wie spitz sie waren. Im Gegenteil, sie schien das Gefühl sogar zu genießen. Die Euphorie in ihrem Gesicht war unverkennbar. Die Möwe, die mittlerweile über dem See flog, kreischte. In den Ohren der Frau klang es wie ein Lockruf. Heimkehr. Der See war ruhig geworden, als spürte er ihre Anwesenheit. Nur der Wind zischte um ihre Ohren und der Regen prasselte auf sie herab. Die Frau lief den Gewässern mutig entgegen.
Der Regen verstärkte sich noch mehr. Erbarmungslos prasselte er auf die Erde, doch die junge Frau schien es nicht zu stören. Sie war schon ganz durchnässt und ihre Haare hingen ihr im Gesicht, doch auch dagegen tat sie nichts. Trotz des glitschigen Bodens unter ihr hatte sie einen festen Gang und rutschte nicht einmal aus. Loch Ness lag ungewöhnlich still vor ihr, als sie mit den Füßen im Wasser stand. Das Wasser an diesem Tag war eisig und ihre Füße wurden langsam blau. Doch sie wich nicht davor zurück. Viel zu gern hatte sie dieses Gefühl. Das Rauschen des Windes wurde lauter und der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Sie stand einige Minuten ausgeharrt da und betrachtete die Oberfläche des Sees. Dunkles eisiges Gewässer lag vor ihr. Sie beobachtete ein paar kleine Fische, die mehrere Meter vor ihr zurück in die Tiefen tauchten und vor dem Regen zu fliehen schienen.
Von Weitem wirkte die Frau wie ein Schatten. Das weiße Kleid, das sie trug, war knielang und durchnässt. Es wehte um ihre zierliche Gestalt, wie in einem Traum. Ihre hüftlangen Haare klebten an ihr wie eine zweite Haut und ließen sich von Zeit zu Zeit vom Wind mittragen, tanzten in den Lüften und kamen wieder zurück. In ihren Augen konnte man ein leichtes Funkeln erkennen. Sie erinnerten an den Ozean. Unglaubliche Weiten spiegelten sich in ihnen wieder und ein geheimnisvolles Funkeln, als gäbe es dort draußen etwas, von dem nur sie wusste. Die Frau hob wieder den Blick zum Himmel und sah der Möwe entgegen. Sie schwebte nun über einer Stelle des Sees und verharrte an jenem Ort. Ein leichtes Lächeln bildete sich in dem Gesicht der Frau. Sie verharrte in ihrer Position.Wäre sie die Einzige an dem weiten Strand gewesen, wäre sie vermutlich gar nicht aufgefallen. Niemandem wäre aufgefallen, dass sie eben dort stand.
Doch der junge Mann, der an dem Hang saß, beobachtete sie schon eine Weile. Sein Haar war zerzaust und das helle T-Shirt durchnässt, doch auch er kümmerte sich nicht darum. Aufmerksam sah er zu ihr herunter und betrachtete jeden ihrer Schritte genau. Dies war viel zu faszinierend, um wegzusehen. Egal, wie oft er sie schon gesehen hatte, jedes mal fesselte ihn es von neuem. Er lehnte sich auf seinen Armen zurück und zupfte einen Grashalm, der neben ihm wuchs. Langsam zerpflückte er diesen, doch hörte dabei nicht auf, die Frau zu betrachten. Seine Beine hatte er angewinkelt und die bloßen Füße im Gras vergaben. Ihm war nicht kalt, trotz des eisigen Wetters. Er genoss die Kälte, genau, wie sie es tat. Noch immer hatte sie sich nicht gerührt.
Nur langsam hob sie ihren Arm und deutete auf die Stelle des Gewässers, über dem die Möwe schwebte. Der See wurde stürmisch. Diesmal wich der Wind auch nicht vor ihm zurück. Er zischte über die Oberfläche von Loch Ness und der See bildete große Wellen, die auf die Frau zurollten. In diesem Augenblick erhob sich von der Stelle, auf die die Frau gezeigt hatte, etwas aus dem Wasser. Ein unerkennbares Wesen streckte den langen Hals aus dem See und blickte der Frau entgegen. Sie ließ den Arm sinken und Vorfreude machte sich in ihr breit. Der Mann erhob sich aus seiner Position und kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, was vor sich ging. Die Naturgewalten schienen sich verselbstständigt zu haben und verwandelten den Wind in einen Sturm. Die Steine des Strandes hoben vom Boden ab und flogen unkontrolliert umher. Die Wellen erhoben sich zu einer beachtlichen Höhe und der Mann schloss für einen Moment die Augen, um den Wind in seinem Gesicht zu spüren. Er zog an ihm, doch sein Stand war fest und sicher.
In gleichmäßigen Bewegungen kam das Wesen auf die Frau zu. Das Lächeln der Frau war noch breiter geworden, als sie sich ins Wasser gleiten ließ und auf das Wesen zu schwamm. Sie verspürte keine Angst vor der See. Jedes Mal, wenn sie ins Meer glitt, war es, als würde sie nach Hause gehen. Ein befreiendes Gefühl tobte in ihr und ihr Herz machte einen Sprung, als sie das Wasser fast schon freudig empfing. Die Fische schwammen mit ihr und die Strömung trieb sie immer mehr in die Richtung des außergewöhnlichen Wesens. Binnen Sekunden erreichte sie es und streichelte ihm leicht den langen Hals.
„Hallo, Nessie.",
flüsterte sie leicht und zog sich, bedacht darauf, ihr nicht wehzutun, an Nessies Hals nach oben, auf den gigantischen Rücken des Wesens. Gräuliche Flossen tanzten mit den Wellen und das kahlköpfige Tier, das an einen Dinosaurier erinnerte, schien beinahe breit zu lächeln. Die Menschen sprachen von einem Mythos, wenn sie von Nessie erzählten. Doch das Wesen war so viel mehr als das. Einen langen Schwanz zog sie hinter sich her und war somit bestimmt zwanzig Meter lang. Nessie bewegte sich behutsam, darauf bedacht, der Frau nichts zu tun.
Der Mann sah dem Wesen dabei zu, wie es mit der Frau auf dem Rücken über den See schwamm. Ihn beruhigte der Anblick und in seinem Augenwinkel löste sich eine einzelne Träne. Die Sehnsucht, die an ihm zog. Die Zeit war gekommen. Noch immer hatte sich das Gewässer nicht beruhigt, doch die Frau hielt sich auf dem Rücken des Tieres. Sie erhob sich und balancierte über den Rücken, als ob sie es jeden Tag tun würde. Immer mehr Runden drehte das gigantische Wesen und sah dabei immer wieder zur Küste, als würde es etwas befürchten. Als wäre es verängstigt, jemand könnte es sehen. Es stürmte am Ufer und der Wind brachte eine eiserne Kälte mit sich. Der Regen peitschte einem ins Gesicht. Die Frau wusste, dass all diese Vorkehrungen wichtig waren, damit kein Mensch Nessie je wieder zu Gesicht bekam. Es wäre viel zu gefährlich für sie. Die Menschen hatten sie schon oft zufällig entdeckt, das konnte sie nicht wieder riskieren. Doch sie konnte niemandem am Ufer erkennen.
Einige Minuten später ließ sich die Frau langsam von dem Rücken des Tieres gleiten. Wenn ihre gemeinsame Zeit doch nie enden würde. Sie tauchte märchenhaft in das Wasser ein und schwamm zurück zum Strand. Sie hatten nicht viel Zeit, dass wussten sie beide. Das Tier und die bildschöne Frau. Als sie wieder sicheren Boden unter ihren Füßen spürte, stieg sie aus dem Meer und sah zurück auf die See. Nun beruhigte sich das Wetter wieder etwas. Noch immer schwamm Nessie an der Oberfläche und sah zum Strand, der Frau entgegen. Wieder trafen sich ihre Blicke.
„Ich komme wieder.",
flüsterte sie beinahe unhörbar, doch sie wusste, dass Nessie sie verstanden hatte. Noch einen Moment beobachteten sie sich gegenseitig. Das sagenumwobene Wesen von Loch Ness und die geheimnisvolle Frau. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. So unheimlich die See auch war, wenn sie Nessie besuchte, sie war ihr Zuhause. Abschied davon zu nehmen zog an ihrem Herzen. Sie wusste, dass jedes Mal das letzte Mal gewesen sein konnte. Zu viel Risiko verbanden diese Treffen. Sie sah wieder zurück zu der Kreatur, die ihr Zuhause war. Unscheinbar trieb sie auf dem Wasser. Wieso wollten sie ihr etwas zuleide tun? Wie konnten sie nur ihrem einzigen Zuhause schaden wollen? Die Frau streckte ihre Arme nach dem Regen aus und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, während sie nach oben sah. Die einzelnen Tropfen vermischten sich mit ihren Tränen. Sie mochte den Regen, doch viele verstanden es nicht. Für sie war dies eine Rettung, denn sonst hätte sie keine Chance, Nessie zu treffen, ohne ungebetene Besucher dabei zu haben.
Die Frau sah noch einmal zu dem Seeungeheuer, das es eigentlich gar nicht war. Die Möwe kreiste wieder über ihrem Kopf und kreischte laut. Nessie reckte ihren Hals noch ein wenig mehr und sah zu der Küste. Erst, als die Frau erkannte, dass sie mit ihrem Kopf auf etwas hinter ihr deutete, sah sie sich um. In diesem Moment erkannte sie den Mann, der auf den Hügeln saß und sie noch immer ansah. Die Frau fluchte leise. Hatte er sie fotografiert? Wie vielen Menschen würde er davon erzählen? Nessie musste verschwinden. Als sie sich zu ihr umdrehte, flog die Möwe zurück zum Ufer. Sie kreischte laut und flog an der Frau vorbei, den Hügel nach oben und landete auf einem Baum in der Nähe des Mannes.
Der Mann traf wieder auf den Blick der Frau. Ihr Gesichtsausdruck schien beinahe wütend. Auch etwas Angst spiegelte sich in jenem wieder. Er sah sich um und versuchte auszumachen, ob noch jemand in ihrer Nähe war. Doch er konnte niemanden erkennen. Er sah die Möwe an, die neben ihm im Baum saß und ihn ansah, als würde sie ihn schon seit vielen Jahren kennen. Er lächelte leicht und streckte den Arm nach ihr aus. Erwartungsvoll sah er die Möwe an, bis sie ihre starken Flügel erhob und zu ihm flog. Er ließ sie auf seinem Arm landen und streichelte vorsichtig über das nasse Gefieder. Eine weitere Böe wehte über die Küste und der Mann drehte sich mit ihr, lachte sogar, als würde sie mit ihm spielen. Dann drehte er sich wieder zu der Frau, dessen Gesichtsausdruck sich noch nicht verändert hatte. Sie blickte von ihm fort, auf den See, wo noch immer Nessie trieb.
Leise flüsterte er dem Wind entgegen:
„Es ist Zeit, heimzukehren, Izumi."
Als die Frau sich nach seinen Worten umdrehte, war er plötzlich verschwunden. Auch auf dem See war nichts mehr von Nessie zu sehen. Die Möwe flog bereits in die Lüfte und verschwand zwischen den Bäumen. Augenblicklich beruhigte sich das Meer, die Wolken zogen vorbei und die Sonne schien über die Küste. Alles hatte sich innerhalb eines Momentes beruhigt. Der Regen stoppte und nichts wies mehr darauf hin, was sich vor einem Augenblick hier zugetragen hatte. Die Bäume hörten auf, sich im Wind zu wiegen und die Frau verließ den Strand nur langsam. Sie sah noch einmal über den See, den Strand und die weiten Wiesen vor sich. Alles war ruhig, der Mann war nicht mehr zu sehen.
Ihr Instinkt lockte sie dazu, den Worten seiner zu folgen. Sie sah noch für einen Moment über den See, dann spürte sie das Wasser unter ihren Füßen, die piksenden Steine unter den Zehen und die Kälte an ihren Waden. Wie oft hatte sie sich gewünscht, zu ihr zu kommen. Sie atmete einmal tief durch. Dies war ihre Chance. Wer auch immer dieser Mann gewesen war, er hatte sie heim gerufen. Ihre Haare wehten im Küstenwind und ihr Kleid tanzte mit ihm.
Es ist Zeit, heimzukehren.
Sie nickte. Vorsichtig stieg sie weiter ins Wasser. Nun gab es kein Zurück mehr. Bis zu ihren Schultern lief sie in den See und sah noch einmal zurück, um sich zu verabschieden. Dann tauchte sie unter und ward nicht mehr gesehen.
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