「45. Kapitel - Ungläubigkeit auf beiden Seiten」
»Mom?«, entkam es meinem Mund flüsternd, wobei sich meine Stimme seltsam fremd anhörte. Ich starrte vollkommen schockiert auf die elegante Frau, die mich vor dreiundzwanzig Jahren geboren und dann für immer verlassen hatte, um sich ein neues Leben fernab ihrer Familie aufzubauen. Sie hatte meinen Vater und mich, im Alter von sieben einfach zurückgelassen. Sie hatte uns beide im Stich gelassen. Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten.
»Claire?«, hauchte meine Mutter vorsichtig und musterte mich von oben bis unten. Ihre Stimme ähnelte meiner, wie ich mit Abscheu feststellen musste. Alles an ihr ähnelte mir. Als würde ich in einen Spiegel, zwanzig Jahre in der Zukunft sehen. »Mein Schatz, ich kann dir-«
»Nein!«, unterbrach ich sie barsch, da ich wusste, worauf das hinauslaufen würde. Mit Genugtuung, sah ich dabei zu, wie sie zusammenzuckte. »Nichts kannst du mir erklären! Dafür kommst du gottverdammte sechzehn Jahre zu spät!«
Und das alles nur, um mit ihren Scheißanwalt glücklich zu werden! Sie hatte ihre alte Familie verraten und ihre einzige Tochter verstoßen, um eine neue zu gründen. Ich hatte sie damals gebraucht, nicht jetzt erst. Doch sie hatte lieber geheiratet und einen Sohn groß gezogen, anstatt einer Tochter. Anstatt mir.
»Es tut mir leid, Claire. Ich weiß genau, wie du dich damals gefühlt hast«, beteuerte meine Mutter, was meinen Zorn nur noch verstärkte. Die ganze Sache von heute Abend wuchs mir binnen Sekunden über den Kopf und ich klammerte mich an das einzige beständige in meinem Leben: Wut.
»Einen Scheiß weißt du! Du hast keine Ahnung, wie ich mich damals gefühlt habe. Also sag mir verdammt nochmal nicht, es wäre so!« Erneut flüsterte meine Mutter irgendetwas,
doch ich beachtete sie nicht länger. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf und ich fuhr zornig zu Christian herum.
»Wie alt bist du?«, brüllte ich ihn schon fast an, wobei ein schuldbewusster Ausdruck in sein Gesicht trat. Er musste gar nicht erst antworten, ich wusste es ohnehin schon. Das ebenfalls blonde Haar, die Augen. Deshalb kommt er mir so bekannt vor.
»Fünfzehn«, antwortete er und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Es passte perfekt. Das letzte Puzzleteil schob sich an seinen Platz und vervollständigte das Bild.
Meine Mutter hatte nicht irgendeinen Anwalt geheiratet, sondern Kians Vater. Sie hatten ein gemeinsames Kind bekommen: Christian West. Mein Halbbruder, was bedeutete, dass Kian ...
»Du gottverdammtes Arschloch!«, fuhr ich den schwarzhaarigen Anwalt ungehalten an und überwand die wenigen Schritte zu ihm, sodass ich ihm den Finger vor die Brust stoßen konnte. »Du hast es gewusst! Du hast es von Anfang an gewusst und mich die ganze Zeit über belogen! Du hast mich verraten, deine Spielchen mit mir getrieben!« Ein Schluchzer entfloh meiner Kehle, doch ich klammerte mich an meine Wut. Ungewollt erinnerte ich mich an unsere erste Begegnung zurück. Er musste es bereits erkannt haben, als er mich im Spotlight das erste Mal gesehen hatte. Deshalb war er so nett zu mir gewesen. Aus diesem Grund, hatte er mir die Wohnung unbedingt verschaffen wollen. Weil er wusste, wer ich war und weil ...
»Du hast es ihr erzählt«, schloss ich und Kian schien sichtlich verwirrt. »Das Apartment. Du hast ihr verraten, dass ich mir keine eigene Wohnung leisten kann. Sie zahlt, habe ich recht? Das war ein abgekartetes Spiel. Von Anfang an. Du hast mich von Anfang an hintergangen!«
Kian wirkte wie paralysiert, er brachte keinen Ton heraus. Meine Mutter schon.
»Das ist das mindeste, was ich für dich tun konnte. Du bist meine einzige Tochter. Irgendwie musste ich dich doch unterstützen. Meine Geschenke schickst du immer ungeöffnet zurück.« Sie klang verzweifelt, doch ich ließ mich davon nicht täuschen. Immerhin hatte sie sich dieses Leben so ausgesucht.
»Ich brauche deine Hilfe aber nicht länger!«, fauchte ich und funkelte sie zornig an. »Als ich dich so sehr gebraucht habe, warst du nicht da! Ich brauchte nach dem Tod meiner Großeltern jahrelang psychologische Hilfe und Dad hat sich Ewigkeiten jede Nacht in den Schlaf geweint. Uns ging es dreckig und das ist alles deine Schuld. Das hast du uns mit deinem egoistischen Verhalten angetan! Damals habe ich dich gebraucht!«
Ich sah, wie sich die Hände der blonden Frau, am Geländer festklammerten. Ihre Knöchel traten weiß hervor und Tränen strömten ihr übers Gesicht. Doch ich war noch nicht mit ihr fertig. Drohend baute ich mich vor ihr auf.
»Claire«, mischte sich Christian ein, der womöglich Schlimmes ahnte, »tu das bitte nicht.« Ich ignorierte ihn. Er hatte ja keine Ahnung, wie es war, von seiner eigenen Mutter verstoßen zu werden. Er hatte beide Elternteile besessen. Sie hatte sich für ihn entschieden. Meine Mutter liebte ihn mehr, als mich. Und das tat verdammt weh.
»Du hast uns damals ohne ein Wort verlassen, uns unendliches Leid zugefügt und Dad das Herz gebrochen. Und das werde ich dir niemals verzeihen. Du fragst dich, warum ich deine Geschenke nicht annehmen, hier hast du deine Antwort: Dein Verhalten widert mich an und macht mich krank! Ich hasse dich abgrundtief, also lass mich verdammt nochmal in Ruhe! Ich möchte dich nie wieder sehen«, zischte ich voller Abscheu und stürmte an ihnen vorbei. Kian wollte mich zurückhalten, nachdem er sich allem Anschein nach wieder gefangen hatte, doch dieses Mal wich ich ihm aus.
»Fass mich nicht an! Fass mich verdammt nochmal nicht an!«, knurrte ich. »Du bist der Schlimmste von allen. Schlimmer als meine Mutter und um weiten schlimmer als Adrian!« Erneut wollte er nach mir greifen, doch seine Hand fasste ins Leere, was ich nutzte, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.
Im Saal hatten sich noch mehr Menschen eingefunden und es herrschte dichtes Gedränge, sodass ich unbemerkt in der Menge verschwinden konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass die Bühne mittlerweile menschenleer war. Wo ist Adrian?
Ich hielt nach ihm Ausschau, während ich mich weiter zum Lift vorschob und bemerkte ihn schließlich nur knappe zwei Meter von mir entfernt. Der junge Mann hatte mich glücklicherweise noch nicht bemerkt. Nichts lag mir ferner, als mich jetzt mit ihm und unseren Problemen auseinanderzusetzen. Ich brauchte Abstand von allen, Zeit zum Nachdenken und vielleicht den ein oder anderen Drink, sonst würde ich explodieren. Aber, was sicher war: ich musste jetzt allein sein.
Nur noch weniger Meter trennten mich vom Fahrstuhl, doch dort war freies Terain. Kian würde mich sehen und Adrian müsste nur den Kopf drehen, um mich zu entdecken. Im Geiste ging ich meine Optionen durch. Meinen Mantel konnte ich vergessen. Noch stand der Schriftsteller mit dem Rücken zu mir, doch das würde sich unweigerlich ändern, wenn ...
»Claire! Warte!« Kians Stimme glich einem Peitschenschlag in der alles verzehrenden Stille. Adrians Kopf schnellte ruckartig zu mir herum, wobei er sich gleichzeitig in Bewegung setzte. Ich rannte die letzten Meter, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Beide Männer riefen nach mir. Die Türen des Aufzugs öffneten sich zu meiner Erlösung schon, bevor ich ihn überhaupt erst erreicht hatte. Ein kräftiger Mann stieg aus und ich hechtete hinein. Er musterte mich irritiert.
Schnell schätzt ich die Lage ab, während ich panisch auf den Knopf mit der Null hämmerte. Mein Herz schlug wie verrückt. Sie würden mich erreichen, bevor sich die Türen schlossen, vorrausgesetzt ...
»Halten Sie bitte die Männer auf«, flehte ich den Mann an, der gerade erst ausgestiegen war und zeigte in die Richtung, wo Adrian zu Kian stieß. Sie waren nur noch wenige Schritte entfernt. »Sie wollen mich einfach nicht gehen lassen«, schluchzte ich verzweifelt und traf damit wohl einen Nerv. Der Mann stellte sich den Beiden in den Weg, sodass sich die Türen endlich schließen konnten. Er erkaufte mir somit wertvolle Sekunden.
»Gehen Sie gefälligst zur Seite, sie ist meine Freundin!«, blaffte Adrian wütend und wollte sich an ihm vorbei schieben. Es gelang ihm nicht.
»Na klar. Glaubt man sofort.«
Kian hatte mehr Glück. Er schlüpfte in einem guten Augenblick vorbei, doch bevor er seine Hand in den Spalt der Türen schieben konnte, schlossen sie sich ganz.
»Es tut mir leid«, hauchte ich und lehnte den Kopf gegen das kühle Metall. Ein gedämpfter Fluch erklang von der anderen Seite, bevor jemand heftig auf die Tür einhieb. Ich wusste nicht, welcher der beiden es war. Dann atmete ich erleichtert auf, während sich der Lift in Bewegung setzte und mich nach unten brachte. Doch sicher war ich noch lange nicht. Sie würden mir folgen. Beide. Seite an Seite. Feuer und Eis, zu einem tödlichen Sturm vereint.
Während ich versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen, ging ich im Kopf schnell Adrians und Kians Möglichkeiten durch. Sie konnten die Treppen nehmen, doch das würde Ewigkeiten dauern. Also entschieden sie sich zweifelsfrei ebenfalls für den Aufzug.
Außerdem hatte Adrian vermutlich schon Miss Harrington am Ohr und befahl ihr, mich abzufangen. Sie konnte ebenfalls bereits vor dem Gebäude warten, immerhin wusste ich nicht, ob Adrian schon mit mir hatte gehen wollen. Scheiße! Ich versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. In Sekundenschnelle überlegte ich mir einen Plan.
Als der Aufzug im Erdgeschoss hielt, drückte ich die Knöpfe für jede Etage, was ihnen zusätzlich Zeit kosten würde, vorrausgesetzt sie kannten den Geheimtrick nicht, mit dem sich das umgehen ließ. Dann ging ich zu dem Mann am Empfang, der die eintreffenden Gäste kontrollierte und erkundigte mich freundlich nach einem Hinterausgang. Zwanzig Dollar halfen seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Ich trat durch die verrostete Hintertür hinaus auf die Straße und setzte mich schnurstracks in Bewegung. Dabei blickte ich stetig nach unten und blieb auf möglichst belebten Straßen, die ich jedoch oft wechselte. Bei jedem Auto, das vorbei fuhr, hielt ich die Luft an. Ich fühlte mich wie eine Verbrecherin, nur, dass ich mich nicht vor der Polizei versteckte, sondern vor meinem Freund und meinem ... Stiefbruder.
Dieser letzter Gedanke brachte meine Mauer aus glühendem Zorn zum Einsturz. Tränen kämpften sich an die Oberfläche, die ich vorher hatte zurückhalten können und beraubten mich der Sicht. Ziellos irrte ich umher und wusste nicht, was ich jetzt tun oder wohin ich gehen sollte. Ich schluchzte und fühlte mich innerlich so verletzt und betrogen. Gerade der Mann, von dem ich gedacht hatte, er würde mich niemals belügen, hatte es getan. Von Anfang an hatte er gewusst, wer ich und wer meine Mutter war. Von Anfang an. Und trotzdem hatte er geschwiegen. Vermutlich war diese Verbindung auch der ausschlaggebende Punkt, weshalb er sich überhaupt mit mir hatte anfreunden wollen. Aus Mitleid mit der verstoßenen Tochter.
Ich schrak so heftig zusammen, dass ich ins Stolpern geriet und fast Bekanntschaft mit dem Asphalt gemacht hätte, als mein Handy klingelte. Vermutlich rief Adrian an, um mich anzubrüllen, warum ich einfach verschwunden war. Oder er wollte mich abholen und mich mit Kian an einen Tisch zwingen. Es bestand kein Zweifel, dass Kian ihm mittlerweile alles über meinen Wutausbruch erzählt hatte. Vermutlich wusste er jetzt ebenfalls alles. Doch ich hatte jetzt einfach keine Kraft mehr mich mit ihm auseinanderzusetzen. Mit keinem von beiden.
Ich hatte gerade erlebt, wie sich alles, was ich geglaubt hatte zu wissen, in Staub verwandelt hatte. Ich hatte meine Mutter verwünscht, Kian beschimpft und rasende Eifersucht auf Christian verspürt. Es fühlte sich so an, als habe er mir meine Mutter genommen, obwohl ihm keine Schuld traf. Nicht er hatte sie mir genommen, sie war freiwillig gegangen. Ich kam mir wie der schrecklichste Mensch auf der Welt vor. Niemand sollte seine eigene Mutter zum Weinen bringen.
Blind tastete ich nach meinem Handy, dass einfach nicht aufhören wollte zu klingeln. Ohne auf das Display zu sehen, nahm ich den Anruf entgegen. Es war Adrian.
»Claire, wo steckst-«
»Ich kann nicht mehr«, schluchzte ich in das Gerät und unterbrach ihn somit. »Ich kann einfach nicht mehr. Das ist zu viel.«
»Was soll das heißen? Was hast du vor?!«, fuhr mich die Stimme panisch an, was meinen Tränenfluss nur noch verschlimmerte. Ich schluckte und hielt an, um mich an ein Gebäude zu lehnen, aus Angst, meine Beine würden unter mir nachgeben. Dabei sah ich in den Nachthimmel. Es begann zu schneien, doch ich spürte keine Kälte.
»Ich ... ich muss jetzt Schluss machen. Mach dir keine Sorgen ... ich. Warte nicht auf mich.«
»Fuck! Claire, warte-« Ich beendete das Gespräch und schaltete mein Handy aus.
Dann wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und blickte mich aufmerksam um. Ich erkannte die Gegend. Früher war ich hier oft mit Gwen und Simon hergegangen. Der Mann eine Querstraße weiter, machte das beste Eis von ganz New York. Doch Eis war jetzt das Letzte, was ich wollte. Automatisch steuerte ich auf die kleine Bar zu, von der ich wusste, dass dort niemals viel Betrieb herrschte. Zeit herauszufinden, was man für dreißig Dollar alles bekam.
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