「30. Kapitel - Keine Verpflichtungen mehr」
Meine verbliebene Woche an der Uni verging wie im Flug und kaum das ich mich versah, hatte ich auch meine letzte Prüfung hinter mich gebracht. Ich war offiziell frei. Ich hatte meinen Abschluss in der Tasche. Beinahe. Nächste Woche würde die offizielle Zeugnisvergabe und Abschlussfeier stattfinden und danach würde ich wieder zurück nach New York fliegen. Nach Hause.
Doch ich würde einen Teil in London zurücklassen. Drei Monate lang war es mein Zuhause gewesen. Zweieinhalb hatte ich mit Kian gemeinsam in seiner Wohnung verbracht. Gerade einmal zwei Wochen mit Adrian in seinem Hotelzimmer. Doch gerade in dieser kurzen Zeit, war mir bewusst geworden, was ich eigentlich wollte. Wem ich fest an meiner Seite wissen wollte. Wem ich brauchte, damit ich mich nicht selbst verlor.
Doch ich machte mir nichts vor. Ich hatte Kian ebenfalls ins Herz geschlossen und ich konnte es einfach nicht ertragen, ihn so verletzt zu haben.
Vergangene Woche hatte er auf meine unzähligen Nachrichten reagiert und mir zurückgeschrieben. Tränen hatten in meinen Augen gestanden und mein Herz hatte gekrampft, als ich die wenigen Worte entziffert hatte. Sie waren kurz und rational gewesen und offenbarten mir nicht die geringste Gefühlsregung von ihm.
Kian West
15.00 Uhr. Kingston erwartet dich.
Und so war ich mit Adrian zu Kians Wohnung gefahren, wo Kingston tatsächlich auf mich wartete. Ich hatte Adrian gebeten im Wagen auf mich zu warten, was er überraschenderweise sofort akzeptiert hatte, während ich dem dunkelhäutigen in die obere Etage gefolgt war, um mir das wichtigste meiner Sachen zusammenzuklauben.
Das Wohnzimmer war leer, als ich es betrat, wobei ich mich fühlte, wie ein Fremdkörper. Ich gehörte hier nicht hin. Nicht mehr. Nicht nachdem, was passiert war.
»Ist Kian da?«, hatte ich trotzdem die entscheidende Frage gestellt, die ich mir in Gedanken schon selbst beantwortet hatte. Doch ich musste sie ihm einfach stellen.
Ich blickte zu Kingston, der seine Sonnenbrille abgenommen hatte und mich mitfühlend ansah. Eine Reaktion, die ich nie von ihm erwartet hätte.
»Nein, Miss White.«
»Natürlich nicht«, hauchte ich beklommen und zog eine Reisetasche aus meinem Schrank hervor, die ich auf das Bett stellte. Ich wollte es nicht, als mein Bett bezeichnen. Das erschien mir falsch. Alles hier gehörte Kian. Nichts mir. Nicht einmal die Tasche.
»Wie geht es ihm?«, hörte ich mich selbst fragen, während ich wahllos Unterwäsche in meine Tasche stopfte.
»Er erzählt mir nicht viel von sich, Miss«, erklärte der Chauffeur zögerlich und beobachtete meine Reaktion darauf.
»Oh. Verstehe«, antwortete ich schlicht und schlurfte zum Schrank, um mir ein paar schlichte T-Shirts und Jeans zu greifen. Nichts auffälliges. Nichts, was zu teuer gewesen war. Das Nötigste.
»Es geht ihm gut«, versicherte er mir daraufhin und sah dabei zu, wie ich meine Unterlagen für die Uni in die Tasche stopfte. Sie zerknitterten dabei, doch das kümmerte mich nicht. Ich sah Kingston an. Lange. Bis er aufhörte mich anzulügen. »Mr. West wirkte in den letzten Tagen sehr zerknirscht. Es geht ihm den Umständen entsprechend.« Damit konnte ich leben. Er verschwieg mir zwar immer noch das gesamte Ausmaß der Umstände, doch er war der Wahrheit bereits um einiges Näher gekommen. Es geht ihn also beschissen, schlussfolgerte ich, sprach es aber nicht laut aus.
Stattdessen zog ich die Tasche zu und warf sie mir über die Schulter. Sie war nicht schwer. Den Großteil der Sachen hatte ich hier gelassen. Weil mir nicht wohl dabei gewesen wäre, alles einzupacken. Es hätte sich sonst so angefühlt, als würde ich ihn verlassen und einen Schlussstrich ziehen. Ihn Zurücklassen. Einsam und verletzt. Und alles was ihm bleiben würde, wäre ein kahles Zimmer und seine Erinnerungen, die langsam verblassen würden, bis er mich schließlich vergessen hätte.
»Haben Sie alles, was Sie brauchen?« Kingstons Stimme klang weit entfernt, während ich auf das schlichte Armband blickte, dass gemeinsam mit einer Nachricht auf meinem Nachttisch lag. Wie ferngesteuert nahm ich es an mich und las die kleine Notiz, die in einer ordentlichen Handschrift verfasst war.
Du bist mir wie Sand durch die Finger geglitten. Das Armband konnte ich festhalten. Behalte es trotzdem.
Kian
Wie in Trance legte ich es mir um mein rechtes Handgelenk und schwor gleichzeitig es nie wieder abzunehmen. Ihm zuliebe.
»Ja«, meinte ich schließlich und verließ mit Kingston die Wohnung. An der Tür hielt ich inne und ließ meinen Blick noch ein letztes Mal schweifen. Ich sah mich mit Kian auf der Couch sitzen. Aneinandergeschmiegt und fröhlich. Ich sah uns am Küchentisch frühstücken. Wie jeden Morgen. Und schlussendlich sah ich, wie er mich anschrie, ich solle verschwinden. Sah sein verletztes und wütendes Gesicht und schaffte es nur schwer eine Träne zurückzuhalten. Doch ich blieb stark.
Am Hauseingang hielt ich ebenfalls noch einmal inne und drehte mich zu Kingston um, um mich bei ihm zu bedanken. Vor allem dafür, dass er mir die Nummer der Kanzlei gegeben hatte, damit ich Kian anrufen konnte.
»Bitte sehr, Miss White.«
»Passen Sie bitte auf Kian auf«, bat ich ihn in einer Kurzschlussreaktion, als sich mein Mund mal wieder verselbstständigte. Der Chauffeur lächelte beklommen.
»Das werde ich, Miss.«
»Danke«, flüsterte ich und spürte seine Anwesenheit noch bevor Adrian mir einen Arm um die Schultern legte und mich an sich zog.
»Geben Sie bitte gut auf sie acht«, hörte ich Kingston zu meiner Verwunderung ernst sagen, woraufhin mich Adrian nur noch näher an sich zog.
»Ich werde Claire mit allem was ich habe beschützen. Für immer.« Mein Herz schlug wild in meiner Brust, als er das sagte, während der dunkelhäutige Mann zufriedengestellt schien und mit einem Nicken wieder im Haus verschwand. Hand in Hand gingen Adrian und ich zurück zu seinem Wagen, wobei mich das seltsame Gefühl beschlich, dass ich Kian mit dieser kleinen Geste noch mehr verletzte.
Meine Erinnerung an diesen Nachmittag platzte wie eine Seifenblase, als Taciana die Tür zur Umkleide aufstieß und mich wieder an meine Arbeit erinnerte. »Wenn du nicht sofort kommst, schleife ich dich eigenhändig hier raus. Du warst übrigens schon wieder zu spät. Und das an deinem letzten Arbeitstag.« Ja, aber dieses Mal, ist Adrian der Schuldtragende.
»Wird nicht wieder vorkommen«, versprach ich lächelnd, was die Chefkellnerin lediglich die Augen verdrehen ließ. »Ich wüsste auch nicht, wie das wieder vorkommen sollte. Und jetzt los.«
Beschwichtigend hob ich die Hände und huschte dann flink an ihr vorbei, um mir weiteren Ärger zu ersparen.
Mürrisch folgte mir Taciana und bog dann zu ihrem Bereich ab. Erleichtert atmete ich auf und richtete noch einmal meine Haare. Taciana hatte Recht, ich würde nie wieder zu spät kommen, da ich hier nicht länger arbeiten würde. Irgendwie fühlte ich mich beklommen, bei dem Gedanken sie nie wieder zu sehen. Wir hatten uns immer gut verstanden.
Ich nickte Daniel lächelnd zu, der mich nur flüchtig betrachtete, bevor ich die ersten Teller holte und zu besagtem Tisch brachte. Bildete ich mir das ein oder waren heute alle meine Kollegen schlecht gelaunt? Jedenfalls brummte mich der Küchenchef noch öfter an als gewöhnlich und Daniel wich permanent meinen Blicken aus. Seufzend begann ich damit den verlassenen Tisch abzudecken und wieder neu einzudecken. Dabei blickte ich immer wieder zu meinen Kollegen, die mich nicht im Entferntesten beachteten. Ob sie wütend waren, weil ich ging? Ich wurde von meinen Gedanken abgelenkt, als mir ein vertrauter Geruch in die Nase stieg.
Zimt. Eindeutig. Es roch nach Zimt. Kians Parfüm.
Ich erstarrte mitten in der Bewegung und blickte mich forschend um. Doch ich konnte ihn nirgendwo ausmachen. Kein schwarzer Haarschopf. Ich sah lediglich, wie ein älteres Pärchen ihren Tisch verließ. Jetzt reiß dich zusammen! Du drehst ja noch durch.
Enttäuscht begann ich damit Gläser und Besteck auf dem Tisch zu drapieren, wobei mir erneut der Geruch nach Zimt in die Nase stieg.
»Kian«, flüsterte ich leise und betrachtete, das schlichte Armband am meinem Handgelenk. Das Einzige was mir von ihm geblieben war.
»Claire«, wie ein Lufthauch hing mein Name in der Luft, wobei ich mich langsam zu seinem Ursprung umdrehte. Und da stand er. In der Tür zum Restaurant. Eine Hand lag noch an der Klinke und er wirkte so verloren, wie ich mich innerlich fühlte.
Langsam kam er auf mich zu, wobei er mich unentwegt ansah. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals und ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Mein Kopf war wie leergefegt und ich blickte ihn einfach nur an. Blickte in seine nüchternen, blauen Augen, die unendliche Trauer beherbergten.
»Tut mir leid«, flüsterte der junge Anwalt schlicht und strich mir mit kühlen Fingern über die Wange.
Der Schmerz der dabei in seinem Augen aufflammte, ließ mich betreten den Blick senken. Es war der gleiche Schmerz, der mich ebenfalls für lange Zeit bestimmt hatte.
»Mir auch«, hauchte ich und biss mir dann auf die Unterlippe. »Kian, ich ...«
»Nein«, entgegnete der schwarzhaarige Mann leise, aber bestimmt. »Sag nichts.« Und ich sagte nichts. Ich blickte ihn lediglich an, versuchte mir die Konturen seines Gesichts genauestens einzuprägen, falls es das letzte Mal war, dass ich ihn sah. Irgendwie fühlte es sich nach Abschied für mich an. Mir blieb nur unbekannt, wie lange dieser Abschied andauern sollte. Ob es einer für immer war.
»Auf Wiedersehen«, meinte er in genau diesem Moment und ich lehnte mich zu ihm vor, damit ich ihn auf die Wange küssen konnte. Er wehrte sich nicht und ich hoffte, ihn so meine Gefühle mitteilen zu können. Noch kurz sah ich ihn an, dann ließ ich ihn gehen, denn ich wusste, Kian würde nicht untergehen. Er würde irgendwann glücklich werden.
»Tschüss«, hauchte ich beklommen und sah dem jungen Mann nach, bis er vollkommen aus meinem Blickfeld verschwunden war.
Dann machte ich mich wieder an die Arbeit. Dabei war ich um einiges ruhiger und konzentrierte, als vorher. Kians kurzer Besuch hatte mir gut getan. Ihn wieder zu sehen und dass er aus freien Stücken zu mir gekommen war, bedeutete viel.
Nach Ladenschluss, packte mich Taciana am Arm und schleifte mich ohne ein Wort hinter sich her. Was hab ich jetzt wieder angestellt? Fuck, ob es um Kian ging? Hatte sie mich mit ihm gesehen und gemerkt, dass ich kurzzeitig die Gäste vernachlässigt hatte? Während sie mich weiter in Richtung Küche zog, versuchte ich mir bereits eine passende Ausrede zurechtzulegen. Die war jedoch unnötig, als das Licht anging.
»Überraschung!«, hörte ich meine Kollegen gut gelaunt rufen, während ich zunächst erschrocken und danach überglücklich war. Ich fiel erst Taciana um den Hals und danach Daniel, mit denen ich die meiste Zeit hier verbracht hatte. Sie waren mir ebenfalls ans Herz gewachsen.
»Ich werde dich vermissen«, murmelte Taciana, während Daniel nur zustimmend nicken konnte.
»Ich werde euch auch vermissen. Jeden einzelnen von euch«, entgegnete ich wahrheitsgemäß und machte große Augen, als unser Küchenchef tatsächlich eine riesige Torte mit unzähligen Kerzen präsentierte.
»Kuchenzeit!«, hörte ich Taciana schreien, die mich lachend nach vorn schubste, als wären wir gerade einmal zehn Jahre alt. »Los auspusten!«
»Aber, ich habe doch gar nicht Geburtstag«, kicherte ich und blickte in die vielen strahlenden Gesichter um mich herum. Ich fühlte mich geehrt, dass sie mich so verabschiedeten, wurde aber auch gleichzeitig rot, da ich verlegen war.
»Auspusten!«, riefen sie jetzt im Chor, was mich kapitulieren ließ. Mit geröteten Wange neigte ich mich über die prächtige Torte, die in Geschwungenen Buchstaben meinen Namen verewigt bekommen hatte.
»Okay, ich puste ja schon.« Erst nach dem dritten Versuch hatte ich alle Kerzen gelöscht, was mit euphorischen Gejubel kommentiert wurde.
»Und jetzt wird gefeiert! Die Nacht gehört uns!«, brüllte Taciana gut gelaunt, was meine Kollegen laut auflachen ließ, bevor ich mich von Sekt, Kuchen und freundlichen Kollegen umgeben wiederfand. So viel war sicher, diese Nacht würde lang werden.
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