「18. Kapitel - Lügenwahrheiten」
Obwohl ich es niemals zugeben würde, bewunderte ich Lee insgeheim für seine Unnachgiebigkeit und Sturheit mir gegenüber. Denn obwohl es mir nur allzu deutlich an der Nasenspitze abzulesen war, wie begeistert ich war, mich mit ihm zu unterhalten und wie wenig ich im Endeffekt auch erzählen würde, blieb der chinesische Student geduldig. Sein Blick ruhte unverwandt auf mir, seitdem wir den überfüllten Vorlesungsaal hinter uns gelassen hatten und auf die Straße getreten waren.
Kalte Winterluft und Schnee schlugen uns sofort entgegen, wobei in Sekundenschnelle mein erhitztes Gemüt abzukühlen schien. Ich atmete tief durch und inhalierte somit auch ungewollt sämtliche Abgase, die die Luft verpesteten. Glücklicherweise war ich Schlimmeres gewohnt. New York war vergleichsweise noch schlechter, was Frischluft anging. Da waren die zwei Wochen bei meinem Onkel, wie die reinste Sauerstofflasche gewesen.
»Geht es wieder?«, hörte ich Lee neben mir mit so einer Sanftheit in der Stimme fragen, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Er fasste nach meinen Händen, die ich unbewusst zu Fäusten geballt hatte, um die Verkrampfung zu lösen. Er war dabei so einfühlsam und zärtlich, dass ich kurzzeitig glaubte, aus Glas zu bestehen, was diese Vorsicht gerechtfertigt hätte. Doch natürlich war dem nicht so, weshalb ich ihm meine Hände entwand, um sie peinlich berührt in meinen Hosentaschen zu vergraben.
Schließlich schenkte ich ihm ein knappes Nicken.
Tatsächlich war meine Wut an der eiskalten Luft soweit verraucht, dass ich wieder einigermaßen klar denken konnte und nicht, wie ein gefühlsgesteuertes, dummes Püppchen, einen riesigen Aufstand veranstaltete. Irgendwie war ich auch stolz auf mich, vor wenigen Minuten nicht die Beherrschung verloren zu haben, da ich normalerweise ziemlich impulsiv reagierte. Vor allem da mir Adrians Lügen verdammt zusetzten. Noch mehr als sein Verrat, der womöglich bald auffliegen würde.
Denn wie durch ein Wunder hatten mich die Menschen in meiner Umgebung noch nicht darauf angesprochen, dass mein Name exakt mit dem der weiblichen Hauptfigur in Adrians neuem Thriller übereinstimmte. Ich konnte also darauf schließen, dass meine Freunde und Familie kein Interesse an dem Werk hatten oder, dass sie noch nicht zum Lesen gekommen waren. Auf kurz oder lang, es würde nicht ewig so bleiben. Irgendwann - und sei es nur durch einen dummen Zufall - würden Sie dahinterkommen. Und darauf war ich nicht vorbereitet. Ich klammerte mich einfach an die Hoffnung, dass sie es niemals erfahren würden.
»Lass uns wieder rein gehen«, schlug Lee nach kurzem Zögern vor, in der er auf die vorbeifahrenden Autos geachtet hatte. »Du zitterst ja schon, so kalt ist dir«, fügte er schnell hinzu, da ich mich nicht vom Fleck gerührt hatte. Erst nachdem er es laut ausgesprochen hatte, bemerkte ich meine natürliche Körperreaktion auf die hier draußen herrschende Dürre und gab seinem Vorschlag schließlich nach. Gemeinsam gingen wir wieder in die Uni, wo uns sofort ein Schwall trockener Heizungsluft begrüßte. Mir wurde sofort schwindelig, mein Kopf schien förmlich zu zerspringen und ich stolperte dem Studenten mehr als unbeholfen hinterher.
»Mmm«, entfuhr es mir gequält, als ein stechender Schmerz durch mein Hirn jagte und mir förmlich die Beine wegriss. Schwankend hielt ich mich an Lee fest, der sichtlich überrascht davon war.
»Was hast du denn?«, erkundigte er sich sofort, wobei ich mit meiner Antwort wartete, bis sein Gesicht nicht länger verschwommen war.
»Hast du zufällig Aspirin dabei?«, stellte ich ihm gleich eine Gegenfrage und Kniff mir mit der freien Hand in den Nasenrücken. »Ich glaube mein Schädel explodiert gleich. Außerdem sehe ich doppelt.«
Stöhnend ließ ich mich in einen Stuhl in der Nähe fallen und schloss die Augen.
»Leider nicht. Ich bringe dich besser schnell zur Krankenstation, dort wird man dir helfen«, bemerkte Lee sofort und griff nach meiner Hand, die ich jedoch sofort zurückzog.
»Nein, nicht nötig. Ich brauche nur schnell eine Aspirin, dann geht's wieder«, wiegelte ich ab und rieb mir erneut die Schläfen. »Das kommt wahrscheinlich davon, dass ich noch nicht viel getrunken habe.« Ich öffnete die Augen und registriere Lees mahnenden Blick.
»Was hast du heute morgen gegessen?«
»Müsli.«
»Mehr nicht?«
»Ich war heute spät dran, okay!« So wie immer ... Außerdem war Kian kein guter Koch.
Er seufzte laut, schüttelte den Kopf und verschwand schnell aus meinem Sichtfeld. Bevor ich mich über scheinbares Desinteresse gegenüber meinem Leid beschweren konnte, tauchte er auch schon wieder auf und drückte mir eine Wasserflasche und ein eingeschweißtes Sandwich in die Hand.
»Hier, das dürfte helfen. Wenigstens der Schwindel dürfte sich dadurch vertreiben lassen«, erklärte er mir bestimmt, wodurch ich nicht zögerte und einen ausgiebigen Schluck Wasser zu mir nahm.
»Danke«, entgegnete ich kleinlaut, was er lediglich abwinkte.
»Dafür sind Freunde doch da. Außerdem hat es mich nur Zeit gekostet und kein Geld.« Er zwinkerte verschwörerisch, was mich tatsächlich zum Lachen brachte. Der Schmerz, der daraufhin meinen Kopf förmlich spaltete, ließ mich das jedoch sofort bereuen.
»Los, iss endlich etwas. Du hast bestimmt Hunger.«
Mein Magenknurren bestätigte ihm außerdem meinen Hunger. Gierig biss ich in die reichlich gefüllten Weißbrotscheiben und kaute zufrieden darauf herum. Für Automatenessen war es einfach köstlich. Erst nachdem ich die Hälfte gegessen hatte, stand der dunkelhaarige Mann auf.
»Warte hier auf mich. Ich hole dir Aspirin.«
Ich nickte und fragte mich, was er der Krankenschwester wohl für eine Geschichte auftischen würde, um an die Tablette zu kommen. Ich bezweifelte nämlich, dass Margret ihm einfach eine Pille in die Hand drückte und ihm noch einen schönen Tag wünschte. Ich konnte sie mir schon förmlich vorstellen. Die Hände in die beleibten Hüften gestemmt und zweifelnd eine Braue in ihrem faltigen Gesicht nach oben gezogen. Bevor die ältere Krankenschwester ein Medikament - und sei es noch so harmlos herausrückte - musste man schon förmlich kriechend und kotzend zu ihr ins Krankenzimmer marschieren. Ich zögerte nicht einen Moment ihm zuzutrauen, dass er dazu in der Lage war.
Lee nahm wirklich viel auf sich und war trotz seiner nervenden Seite ein netter junger Mann. Seiner späteren Frau würde er womöglich die Welt zu Füßen legen. Und mir würde er bestimmt eine Aspirin beschaffen können. Dafür war ich ihm wirklich sehr dankbar. Ich hoffte nur, dass ich irgendwann die Chance dazu erhalten würde, ihm etwas zurück zugeben.
Ich begann damit brav mein Sandwich aufzuessen und den Inhalt der Wasserflasche auf ein Minimum zu reduzieren. Dann lehnte ich mich auf dem erstaunlich bequemen und breiten Stuhl zurück und legte den Kopf in den Nacken.
»Puh ...«
»Willst du etwa schon wieder schlafen?!«, riss mich sofort Julians entsetzte Stimme aus meiner entspannten Position, was mich ruckartig die Augen aufschlagen ließ.
»Verdammt! Musst du so laut sein? Mir brummt der Schädel auch so schon genug. Du musst nicht noch einen Obendrauf setzten.«
Wenigstens besaß der Blondschopf die Höflichkeit beschämt und schuldbewusst dreinzublicken, bevor er sich mit einem gemurmeltem »Tschuldigung«, zu mir setzte.
»Schon gut«, entgegnete ich schnell, da ich ihm einfach nicht böse sein konnte, zumal er von meinem Leiden nichts hatte ahnen können. »Was machst du eigentlich hier? Ist die Vorlesung etwa schon vorbei?«
Er nickte zuerst, korrigierte sich dann aber und schüttelte mit dem Kopf.
»Was soll denn das heißen? Weißt du es nicht?« Julian kratzte sich am Hinterkopf und zuckte schließlich mit den Achseln.
»Mr. Silver beantwortet noch immer Fragen.«
»Und du bist gegangen, weil es dir zu langweilig wurde?«, mutmaßte ich und konnte es doch eigentlich nicht glauben. Nicht nachdem er vorhin so gebannt nach vorn gesehen hatte und förmlich an Adrians Lippen zu kleben schien.
Julian verneinte natürlich sofort und lächelte leicht hilflos. Er deutete auf die Studentenmasse die an uns vorbei lief, um den Hörsaal zu verlassen. Ich war noch verwirrter. Sah für mich so aus, als wäre die Veranstaltung jetzt beendet.
»Nein, natürlich nicht. Professor Silver beantwortet jetzt die Fragen einzeln und unter vier Augen. Also für diejenigen, die sich vorher eventuell nicht getraut haben, sie laut zu äußern.«
Ich nickte verstehend und grinste dann über beide Ohren.
»Was hast du ihn gefragt?« Der Surferboy verschluckte sich beinahe an seiner eigenen Spucke, als ich den Nagel auf den Kopf traf. Natürlich hatte er ihn schon eine Frage gestellt und war nun zufrieden gestellt, sodass er gegangen war. Na ja fürs erste jedenfalls.
»Gar nichts«, entgegnete er hastig und äußerst verräterisch.
»Du lügst. Sag schon.«
»Tue ich nicht.« Abwehrend hob er die Hände.
»Doch tust du, Julian. Sag es und wir lassen dich in Ruhe. Ich habe sowieso noch ein Hünchen mit Claire zu rupfen«, mischte sich Lee ein, der urplötzlich hinter dem Blondschopf aufgetaucht war. Triumphierend reichte er mir die Kopfschmerztablette, wobei sein Blick unverkennbar ausdrückte: »Frag lieber nicht.«
Dankend nahm ich sie an und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Hoffentlich wirkte sie schnell, auch, wenn es mir nach der Nahrungsaufnahme schon deutlich besser ging. Der Schwindel schien vorerst verschwunden.
»Ichhabeiihnnacheinemautogrammgefragt«, rasselte er so schnell herunter, das wir ihn kaum verstehen konnten.
»Rede Englisch und nicht chinesisch rückwärts. So versteht dich doch kein Mensch«, beschwerte sich Lee ausdrücklich und ließ Julian so bockig die Arme verschränken.
»Ich habe ihn nach einem Autogramm gefragt, okay? Irgendein Problem damit?« Jetzt waren wir es, die abwehrend die Hände hoben.
»Nein«, antworteten wir im Chor, obwohl mir die Vorstellung überhaupt nicht gefiel, dass Julian Adrian so verehrte. Nach außen hin ließ ich mir jedoch nichts anmerken.
»Gut. Dann wäre das ja jetzt auch geklärt. Kommen wir zu Claire. Was war da drin mit dir los?«
»Nichts«, erklärte ich schnell und sah weg, damit ich nicht länger Lees argwöhnischen Blick ausgesetzt war.
»Lüge nicht. Sag schon.« Ich schüttelte den Kopf.
»Ja, jetzt wo du es sagst, Lee. Du warst ganz schön seltsam«, mischte sich zu meinem Leidwesen auch der Surferboy ein. Innerlich schlug ich frustriert die Hände vors Gesicht. Äußerlich ... auch.
»Du weißt doch, dass du uns alles sagen kannst«, hörte ich einen der beiden sagen. Ich konnte nicht zuordnen welcher, da ich mir gerade das Gehirn zermarterte, was ich ihnen erzählen sollte. So viel war jedenfalls sicher: sie würden mich nie in Ruhe lassen, wenn ich ihnen nichts erzählen würde. »Wir sind schließlich deine Freunde. Du kannst uns vertrauen.«
»Was ist das hier? Eine Art Selbsthilfegruppe, wo jeder über seine Probleme redet?«, brauste ich auf und entschuldigte mich gleich wieder für meine zynischen Worte. Denn, wenn ich eins gelernt hatte, dann, dass Worte viel mehr weh tun konnten, als beispielsweise ein Messer zwischen den Rippen. Ich war ungerecht zu ihnen. Sie meinten es doch nur gut mit mir.
»Claire«, Julian legte mir beruhigend eine Hand auf den Unterarm, »wir verlangen nicht von dir, dass du uns jetzt sofort alles erzählst. Wir wollen dich auch nicht aushorchen. Wir sind lediglich besorgt um dich.«
Lee nickte zustimmend. »Du musst uns nicht alles erzählen und dich auch nicht vor uns rechtfertigen. Sag einfach irgendetwas - sei es ein einziges Wort oder ein Satz -, was deine miese Stimmung und dein Verhalten von vorhin erklärt. Bitte.« Mein Gedanken kreisten um die eigene Achse, während ich in ihre Gesichter sah. In die Gesichter meiner Freunde, wurde mir bewusst, was mich sofort an Gwen und Simon denken ließ. Sofort bekam ich Schuldgefühle.
Ich konnte sie nicht im Dunkeln lassen und den zwei Studenten vor mir, alles erzählen. Das wäre ungerecht gewesen. Aber ...
Ich traf eine Entscheidung.
»Mr. Silver, ist mein ehemaliger Literaturprofessor. Er ist der Grund für meinen Umzug nach London.«
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