Teil 2 - Part 4
Meine Augen waren offen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wann ich sie geöffnet habe, aber als ich langsam etwas aus meiner Umgebung wahrnahm, war alles nur schemenhaft, leicht verschwommen. Alles war still, selbst als die Tür mit Schwung gegen die Wand knallte.
Wo war der Ton? Ich dachte nicht lange darüber nach. Meine Gedanken waren zäh und träge. Es war einfacher gar nicht zu denken. Es schien alles so weit entfernt, wie in einem Traum, aus dem ich jederzeit aufwachen konnte.
Die Person, die eintrat, war groß. Vermutlich ein Mann. Wahrscheinlich sogar der Mann. Der Mann, der meine Eltern umgebracht hatte. Der Mann, der mich entführt hatte. Warum fühlte ich dabei nichts? Denken war anstrengend und ermüdend.
Er stand dort in der Tür und ich konnte ihn kaum erkennen. Ich reagierte nicht, blieb einfach liegen. Er schien etwas zu sagen. Sein Mund bewegte sich. Wahrscheinlich schrie er eher. Aber ich war noch immer gefangen in dieser wunderbaren Welt ohne Ton. Ich fragte mich, ob in seinen Augen noch immer der Zorn zu sehen war, aber ich konnte sie nicht erkennen. Er war zu verschwommen. Aber eigentlich interessierte es mich auch nicht. Deshalb blieb ich einfach nur stumm liegen und starrte ihn an. Reglos.
Wenn ich genauer darauf achtete, spürte ich auch den Boden kaum. Ich fühlte mich leicht, fast als würde ich schweben. Ich sah, wie durch einen Schleier, was alles nur noch unwirklicher machte.
Wenn es wirklich ein Traum wäre, wäre es ein guter Traum, oder ein Alptraum? Die Hände des Mannes bewegten sich, während er sprach. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Die Tür schmiss er hinter sich zu. Was hatte er wohl gewollt?
Wahrscheinlich das gleiche, wie die letzten Male.
Auf einmal ging die Tür wieder auf, doch ich blieb ruhig liegen. Wenn man alles verschwommen und ohne Ton betrachtete, wirkte es nicht mehr furchteinflößend. Vielleicht lag das aber auch an meinen Gedanken, die nur langsam durch mein Gehirn flossen.
Ich bemerkte am Rande, dass er dieses mal etwas in der Hand hielt. Es war schwarz und irgendwie komisch geformt. Unnatürlich.
Er kam auf mich zu und riss mich am Kragen nach oben. Die Veränderung von Boden zu Luft spürte ich kaum. Lediglich ein kleiner Druck an meiner Seite war verschwunden.
Ob ich wohl schlief? Alles lief so langsam ab.
Sein Mund bewegte sich wieder. Ich spürte etwas nasses auf meiner Wange. Doch ich konnte ihn noch immer nicht hören.
Was sagte er wohl? Ob es wichtig war?
Er fuchtelte wie wild mit der Hand, in der er den schwarzen Gegenstand hielt, aber ich reagierte nicht. Schließlich zog er mich hinter sich her in den anliegenden Raum. Zum ersten mal konnte ich einen Blick hinter meine Zellentür werfen. Aber der Raum interessierte mich nicht wirklich. Ich konnte ihn sowieso kaum erkennen. Ich sah viel braun, etwas, dass vermutlich ein Sofa und ein Tisch waren und das war es auch schon. Mehr Einzelheiten konnte ich nicht erkennen. Und es interessierte mich auch nicht. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie sich die Lippen des Mannes wieder bewegten. Dann schleuderte er mich von sich. Ich stieß gegen die Wand und blieb liegen. Ich wollte mich nicht bewegen. Es war so viel einfacher, einfach nur liegenzubleiben. Es war doch sowieso ein Traum. Da lohnte es sich auch nicht, etwas zu tun. Außerdem war mein Körper so schwer.
Ab diesem Moment habe ich damals wirklich gedacht, ich würde träumen. Die Realität hat sich so schwammig angefühlt, was an der fehlenden Nahrung lag. Es konnte einfach nicht echt sein.
Wenn ich gewusst hätte, was er da in der Hand hielt – was dieses schwarze, seltsam geformte Teil war –, hätte ich mich schon lange weinend an die Wand gepresst.
Immerhin hielt er eine Pistole in der Hand, mit der er immer wieder auf mich zielte, während er schrie und tobte. Ich weiß bis heute nicht, warum er mich nicht schon lange erschossen hat. Es war eindeutig, dass ich nicht mehr in der Lage war, ihm zu antworten.
Aber ich will mich auf keinen Fall beschweren, denn das verschaffte Tobias und der Polizei die Zeit, die sie dringend brauchten. Denn noch immer liefen sie im Wald herum, ohne die Hütte in Sicht.
Nach einigem auf und ab kam der Mann wieder auf mich zu, hob mich am Kragen hoch und schrie mich erneut an. Er war außer sich vor Wut, da bin ich mir ziemlich sicher. Allerdings konnte ich das damals nicht so gut beurteilen. Ich achtete nämlich gar nicht mehr auf ihn. Mein Blick war schon länger auf einen beliebigen Punkt an der Wand hinter ihm gerichtet. Das Geschehen rauschte einfach an mir vorbei. Ohne Geräusche war das einfach. Es war so still und angenehm. Nachdem ich nach mehreren Minuten noch immer nicht reagiert hatte, zeigte er mir das schwarze Ding noch einmal genauer. Er hielt es so nah vor mein Gesicht, dass ich es sogar scharf sehen konnte.
Ich erkannte die Form, wusste was es war, was es anrichten konnte und doch realisierte ich es nicht. Ich erkannte es und gleichzeitig auch nicht. Denn ich reagierte nicht darauf, obwohl es direkt vor mir war.
Auf einen Schlag flog die Haustür auf. Ich bekam gerade so mit, dass ein Haufen Polizisten in die Hütte stürmte, jeder die eigene Pistole auf den Mann gerichtet.
Vermutlich gab es jetzt einige Dinge, die der Mann hätte tun können. Schlauere Dinge, als das, was er tatsächlich tat. Er hätte mich als Geisel nehmen können, er hätte mich als Schild nehmen können, er hätte wild um sich schießen können. Ich weiß es nicht. Aber er befand sich in genau derselben Situation, wie Tobias und ich uns in der Nacht damals befanden. Unter Stress, unsicher, was gerade geschehen war. Er dachte nicht nach. Er ließ mich einfach nur fallen und zielte auf den ersten Polizisten, als ein Schuss ertönte. Das Geräusch kam laut und schmerzhaft zu mir zurück. Es kam mir vor, als hätte jemand den Lautstärkeregler zu weit aufgedreht. Ich lag still und reglos am Boden, während der Mann hinter den Tisch hastete. Schüsse ertönten, die Männer riefen sich gegenseitig Befehle zu. Es war ein einziges Durcheinander.
Und obwohl es unglaublich laut war und ich wieder alles hörte, kam es mir noch immer nicht real vor. Ich meine, in einem Traum kann so ziemlich alles passieren, oder?
Am Rande bekam ich mit, dass zwei weitere Leute den Raum betraten. Die schemenhaften Figuren hatten nebeneinander einen ziemlichen Höhenunterschied. Es war beinahe komisch mit anzusehen. Die beiden Figuren waren Tobias und Robin. Sie hielten sich bedacht hinter den schießenden Polizisten in Sicherheit, die immer näher an den Tisch mit dem Mann dahinter rückten. Sobald ich außerhalb der Gefahrenlinie waren, eilten sie zu mir. Besorgt brachten sie mich weiter weg von dem Geschehen, warfen sich unruhige Blicke zu.
„Geht es dir gut, Lily?", fragte Tobias ängstlich. Seine Stimme zitterte. Das hatte ich vorher noch nie erlebt. Er musste in dem Moment wirklich große Angst um mich haben. Aber ich antwortete ihm nicht. Ich bewegte mich nicht. Mein Kopf war leer. Aber ich mochte diesen Traum nicht. Mir gefiel nicht, dass Tobias traurig war. Dass er Angst hatte. Träume sollten doch glücklich sein! Trotzdem sah ich ihn einfach nur an. Eigentlich noch nicht einmal das. Ich sah durch ihn hindurch. Starrte auf einen Punkt, den nur ich sehen konnte. Ich konnte im Hintergrund hören, wie die Polizisten den Mann dazu aufforderten, sich zu ergeben. Tobias und Robin achteten nicht darauf.
„Wir sollten sie hier wegbringen. Ein Arzt wird uns mehr dazu sagen können", schlug Robin vor. Er sah kurz zu dem Mann, der an allem Schuld war. Der Mann, der unsere Eltern getötet hatte. Der mich entführt hatte. Der unser beider Leben zerstört hatte. Und der Mann, der ... .
Vorsichtig hob mich Robin hoch, sorgsam, damit ich mir nicht noch zusätzliche Verletzungen zuzog. Langsam ging er zur Tür, den Mann genau beobachtend. Auch Tobias ließ ihn nicht aus den Augen. Dann hallte erneut ein Schuss. Ich weiß noch, wie sich meine Augen weiteten, als mein Blick auf den Mann fiel. Er stand hinter dem Tisch, die Pistole genau auf uns gerichtet. Und dann sah ich Tobias. Er stand vor mir, die Arme ausgebreitet. Sein Rücken sah noch nie so zerbrechlich aus. Oder so schmal. Selbst von hier, sah er verloren aus. Verloren zwischen dieser Welt und einer anderen.
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