Später
"Ok. Ich schaffe das. Das wird schon." Ich rede mir in Gedanken unablässig gut zu, während ich auf die städtische Eishalle zusteuere.
Die letzten Tage waren ziemlich anstrengend, aber ich bin trotzdem stolz darauf, wie ich damit umgegangen bin. Nach meinem Tief am Freitag haben wir das Wochenende größtenteil bei mir zuhause verbracht und Filme geschaut, gekocht und uns um Max gekümmert. Mit Laura waren wir auch wie verabredet im Kino. Diese Ablenkung hat mir gutgetan, aber natürlich war davon in der nächsten Woche nicht alles plötzlich wieder gut. Ich hatte an den meisten Tagen sehr zu kämpfen, um halbwegs in die Gänge zu kommen, aber letztendlich habe ich es immer irgendwie geschafft. Stolz bin ich vor allem, weil ich es endlich geschafft habe, mir ohne schlechtes Gewissen Hilfe zu suchen, wenn ich sie gebraucht habe. Fast jeden Tag habe ich mit dir telefoniert und über meine Gedanken gesprochen, wenn es mir schlecht ging. Ich habe einmal Leute auf der Straße angesprochen, als mich eine Panikattacke überfiel. Alles in mir drängte danach, einfach so zu tun, als ob nichts wäre, aber ich habe meinen Fluchtinstinkt ignoriert und stattdessen darum gebeten, mich zu ihnen auf eine Parkbank setzten zu dürfen und mein Notfallset, das ich für solche Situationen bei mir trage, herausgeholt.
Vor allem aber habe ich mich endlich getraut, vor meinem Therapeuten auszusprechen, was ich schon lange gemerkt habe und was mir am letzten Wochenende noch einmal klarer wurde: Die Behandlung ein- bis zweimal wöchentlich bei ihm reicht nicht, damit ich wieder gesund werde. Ich wollte mir das nie eingestehen, weil ich das Gefühl hatte, schwach zu sein. Schwach und zu anspruchsvoll für jeden Arzt. Und zu dumm zum Leben. Dieselben Dinge eben, die ständig durch mein Gehirn spuken. Doch auch diese Gedanken konnte ich ignorieren und meinen ganzen Mut zusammennehmen, um nach einer stationären Aufnahme in einer psychotherapeutischen Klinik zu fragen. Wir haben lange darüber geredet und ich wurde mittlerweile auf die Wartelisten diverser Einrichtungen gesetzt. Vielleicht bekomme ich dann im Sommer die Chance auf eine umfassendere Behandlung.
Bisher habe ich nur wenigen Leuten davon erzählt, doch diejenigen, die es wissen, haben sehr verständnisvoll reagiert. Vielleicht habe ich endlich im Inneren begriffen, dass ich der einzige Mensch bin, der mich für meine Probleme hasst und verurteilt, denn ich habe fest vor, in den nächsten Tagen auch mit meinen Kollegen zu sprechen. Natürlich mache ich mich damit angreifbar, doch ich habe schlicht keine Lust mehr zu lügen.
"Alles wird gut.", rede ich mir weiter gut zu, als unser Treffpunkt schon in Sicht kommt. Mein Gehirn hat sich natürlich im Vorfeld dieser Weihnachtsfeier aufgebäumt und alles versucht, um mich davon abzubringen, an dieser Veranstaltung teilzunehmen, doch ich habe eisern an meinem Plan festgehalten. Mir fehlen zwar dank der vergangenen Tage einige Stunden Schlaf, aber daran bin ich schon gewöhnt.
Ein letztes Mal atme ich tief durch, dann begrüße ich alle, die bereits da sind. Mir wird ein dampfender Becher gereicht. "Glühwein, natürlich alkoholfrei", verkündet mein Kollege augenzwinkernd. Ich bedanke mich, trinke einen Schluck und genieße die Wärme, die sich langsam in meinem Körper ausbreitet.
Nach und nach trudeln auch die restlichen Kollegen ein und gemeinsam setzen wir uns schließlich in Richtung des Kartenverkaufs in Bewegung. Da wir insgesamt zweiundzwanzig Leute sind, erhält nur unser Chef die im Voraus bezahlte Gruppeneintrittskarte, alle anderen bekommen einen Stempel auf die Hand, auf dem das heutige Datum und die Zeit stehen, für die die Eintrittskarte gilt.
"Zweieinhalb Stunden, von 18:00 Uhr bis 20:30 Uhr.", lese ich auf meinem linken Handrücken, während wir schon Schlange stehen, um uns Schlittschuhe auszuleihen, "Na dann. Hoffentlich geht alles gut."
Zum Glück verfliegen auch die letzten Überreste meiner Grübeleien und negativen Gedanken, sobald wir das Eis betreten, denn mein Kollege stellt sich mit Kufen unter den Füßen tatsächlich so tollpatschig an, dass ich ihn die ersten Meter festhalten muss.
"Warum muss das so rutschig sein?", mault er, "Da kann man doch darauf warten, hinzufliegen und sich alle Knochen zu brechen!"
Ich muss lachen. "Das ist eine Eisfläche, darauf zu rutschen ist doch der Sinn! Und du hast bis vor Kurzem noch verkündet, du würdest über das Eis schweben wie eine Ballerina..."
"Nein, das habt ihr gesagt. Ich habe gleich gesagt, dass ich grottenschlecht im Eislaufen bin."
"Schon klar", entgegne ich immer noch lachend, "aber komm, es muss ja auch mal eine Sportart geben, die du nicht beherrschst, wo du doch sonst schon auf jedem Betriebsausflug alle abhängst. Ich erinnere nur ans Bowling letzten Sommer."
"Ok, stimmt auch wieder. Ich glaube, du kannst mich jetzt loslassen, ich stehe soweit stabil."
"Sicher?", frage ich.
"Jep."
Ich lasse also den Arm meines Kollegen los. Kurz schwankt er noch etwas, doch dann beginnt er, vorwärts zu laufen.
"Elegant.", sage ich grinsend. "Sieht aus wie ein Pinguin, kurz bevor er sich auf den Bauch wirft und über das Eis robbt."
"Sei bloß leise!", ruft mein Kollege, nun ebenfalls grinsend.
Gemütlich drehe ich mit all den anderen Leuten hier ein paar Runden über das Eis. Es fühlt sich fast an wie schweben und ich bin einfach nur froh, mich über meine Angst hinweggesetzt zu haben. Irgendwann traue ich mir sogar ein paar kleine Sprünge und eine Pirouette zu, die mir meine Freunde beigebracht haben, wenn wir früher gemeinsam Eislaufen waren. Und das waren wir oft.
"Vielleicht sollte ich das häufiger machen...", überlege ich, "Scheint mir ja ganz gut zu tun."
Irgendwann habe ich genug und halte wieder bei einer Gruppe von Kollegen an, die den Rest unseres mitgebrachten Glühweins trinken. Ich nehme auch einen Becher und bezweifle langsam, dass das Zeug wirklich alkoholfrei ist, trinke es aber trotzdem. Ich bin ja nicht die einzige, die am Ende das Abends davon betrunken sein könnte...
-------------------------------------------------------------------------------------
Als wir unsere Schlittschuhe wieder abgeben, fühle ich mich zum Glück noch soweit klar im Kopf. Mir tun nur langsam die Beine weh, denn den Rest des Abends habe ich damit zugebracht, mit den anderen herumzukurven und schließlich sogar meinem Kollegen beizubringen, wie man rückwärts Schlittschuh läuft. Zweimal ist er dabei ausgerutscht, aber zum Schluss konnte er es doch recht gut.
Nur einmal haben wir alle zusammen eine Pause gemacht, um etwas zu essen. Auch der Chef war halbwegs freundlich und so sitze ich zufrieden in der Straßenbahn, nachdem wir uns alle voneinander verabschiedet haben. Ich packe mein Handy aus und schreibe dir eine kurze Nachricht: "Feier war super, Schlittschuhlaufen ist immer noch voll mein Ding! Schlaf dann gut."
Telefoniert haben wir heute schon, bevor ich zur Feier aufgebrochen bin und für einige Zeit jemanden brauchte, der mich beruhigt. Ein paar Minuten später, kurz bevor ich aussteigen will, kommt deine Antwort:
"Freut mich, ich komme auch gerade vom Training. Bis bald!"
"Bis bald :)", schreibe ich zurück. Dann laufe ich im Licht der Straßenlaternen nach Hause.
"Hoffentlich laufen in Zukunft wieder mehr Tage so ab wie heute. Ich habe zwischendrin fast vergessen, dass ich demnächst in die Psychiatrie gehen möchte. Am besten denke ich darüber auch heute nicht weiter nach."
Schließlich ertappe ich mich dabei, wie ich an meinen Kollegen denke. Ob er wohl schon zu Hause ist? "Pass auf dich auf", hat er heute zum Abschied gesagt. Vielleicht sollte ich ihm noch einmal schreiben, sobald ich in meiner Wohnung angekommen bin...
Vermutlich schnappe ich langsam komplett über. So viele Emotionen an einem einzigen Tag, und außerdem wird er doch wohl nicht...egal.
"Bin jetzt zu Hause. :)", schicke ich ihm schließlich auf sein Smartphone und warte gespannt die Antwort ab, die wenig später eintrifft.
"Freut mich! Bin auch gleich angekommen und werde mich erst mal von den Strapazen des Abends erholen."
"Na dann, viel Spaß dabei. Wir sehen uns erholt morgen früh.", antworte ich.
"Jep, bis morgen!" Ich schaue noch eine Weile auf die Nachricht, dann lege ich mein Handy weg, strecke mich auf der Couch aus und genieße jeder Vernunft zum Trotz das leichte Kribbeln, dass sich in meiner Magengegend breitgemacht hat.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro