Morgen
fünfzehn Jahre später
Piep. Piep. Piep. Piep.
Ich öffne die Augen, schalte meinen Wecker aus und mache mit der anderen Hand gleichzeitig das kleine, rötlich leuchtende Nachtlicht neben meinem Bett an. Es ist Donnerstagmorgen, 6:00 Uhr und ich muss in zwei Stunden bei der Arbeit sein.
Wie so häufig habe ich das dringende Bedürfnis, mich sofort wieder hinzulegen und einfach weiterzuschlafen. Eben noch habe ich vom schönsten Urlaub meiner Kindheit geträumt, als ich mit acht Jahren mit meiner Familie auf Usedom war. Ich wünsche mich an diesen Ort zurück, zurück in den Moment im Wasser, als einfach die Sonne schien und alles gut war. Die Nacht war kurz und alle meine Glieder scheinen mich wieder in die Kissen zu ziehen, doch ich gebe meinem Körper nicht nach, nehme seufzend meine Brille und stehe mit einem Ruck auf.
"Den Wecker morgens nicht zu ignorieren ist die erste Konfrontationstherapie des Tages.", hat mein Therapeut vor einiger Zeit einmal gesagt. "Damit stellst du dich deinen Ängsten und versteckst dich nicht direkt vor deinen Problemen. Ein wichtiger Schritt."
"Er wäre bestimmt stolz auf mich, wenn er mich jetzt sehen könnte", denke ich leicht sarkastisch, während ich ins Badezimmer laufe. Dort angekommen schalte ich ebenfalls das Licht an und betrachte mich im Spiegel. Ich sehe nervös aus, die Haut blass und die Lippen spröde von den unzähligen Malen, die ich darauf herumgekaut habe. Kein schöner Anblick.
Leider ist es wirklich bereits eine große Leistung für mich, wenn ich es morgens halbwegs pünktlich schaffe, aus dem Bett zu kommen und arbeitsfähig im Büro zu erscheinen. Häufig funktioniert das nicht - dann ist die Furcht vor dem Tag zu groß, zu entmutigend. Entweder ich verschlafe direkt oder ich fange plötzlich so sehr an zu zittern und kämpfe mit Schwindel, dass ich mich hinsetzen muss und minutenlang nichts mehr tun kann, außer möglichst ruhig zu atmen und das Programm abzuspielen, dass ich für solche Fälle eingeübt habe. Selbst wenn ich irgendwann wieder aufstehen und weitermachen kann, bleibt die Panik trotzdem den ganzen Tag und ich bin auch auf Arbeit nie wirklich bei der Sache.
Die letzten Wochen ging es fast jeden Tag so, aber heute geht es mir körperlich recht gut. Erstaunlich. Hoffentlich bleibt das so...
Ich wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser, ziehe mich an und kämme mir die Haare. Diese einfachen Handlungen sorgen dafür, dass auch die nervigen, ewig schlecht gelaunten Stimmen in meinem Kopf langsam verstummen und mir die nächsten Stunden nicht mehr wie ein Projekt vom Kaliber einer Weltreise vorkommen.
"Na also", denke ich mir, "Geht doch. Warum nicht gleich so?"
Zurück in meinem Zimmer mache ich mein Bett, um auch die letzte Möglichkeit des Rückzugs zu eliminieren und öffne das Fenster. Die kalte Novemberluft wirbelt herein und lässt meine Gedanken immer klarer werden. Kurz bleibe ich stehen und atme tief ein und aus. Dann schließe ich das Fenster wieder und setze meinen Weg in die Küche fort.
Essen ist für mich ein einziges Dilemma. Ohne etwas im Magen kann ich darauf warten, dass mein Kreislauf nicht mehr mitspielt, aber wenn ich esse, wird mir durch die ständige Angespanntheit schnell so übel, dass ich mich übergeben muss.
Ich mache mir einen Smoothie und denke dabei an die unzähligen Male, die ich die ersten Stunden des Tages schon über der Kloschüssel verbracht habe. Flüssigkeiten funktionieren aber wesentlich besser als feste Nahrung direkt am Morgen und ich trinke langsam, während ich gedankenverloren dem Himmel dabei zusehe, wie er langsam seine Farbe von schwarz zu dunkelblau ändert.
Eine dreiviertel Stunde später bin ich bereit, das Haus zu verlassen. Ich habe Kopfhörer auf, um den Lärm der Straße ausblenden zu können und dank etwas Make-Up sehe ich mittlerweile auch nicht mehr ganz so blass aus. Noch einmal kontrolliere ich, ob ich alles für den Tag bei mir habe, dann mache ich mich auf den Weg.
In der Straßenbahn schaue ich das erste Mal heute auf mein Handy. Eine neue WhatsApp-Nachricht.
Auf dem Display prangt das Foto eines großen, schwarzen Hundes. Darunter steht: "Max wollte dir auch mal "Guten Morgen" sagen. Alles gut bei dir?"
Ich muss lächeln.
"Süß...grüß ihn schön von mir!", schreibe ich zurück, "Und mir geht's gut. Bin jetzt auf dem Weg zur Arbeit."
"Mach ich. Und super, sonst hätte ich gleich angerufen ;-) Ich muss jetzt auch raus..."
"Das schaffst du schon. Ich glaube an dich! :D", schreibe ich scherzhaft. "Du bist echt der größte Morgenmuffel, den ich kenne."
"Mein Chef glaubt bestimmt auch an mich. -.- Muss jetzt mal vorbildlich ohne Ablenkung Fahrrad fahren...bis später!"
"Bis nachher!", tippe ich, bevor ich mein Handy wieder sinken lasse.
"Zum Glück gibt es dich", denke ich, "sonst wäre ich mit meinen Gedanken sehr häufig alleine. Und würde bestimmt öfter mal tagelang irgendwo versacken."
Ich habe ein paar vertraute Personen in meinem Leben, mit denen ich reden kann, aber nur eine einzige, die ich bitten würde, in schlechten Phasen jeden Tag per Kontrollnachricht dafür zu sorgen, dass ich es morgens aus dem Haus schaffe.
Ich lehne mich zurück und atme noch einige Male tief durch. "Heute wird ein guter Tag.", nehme ich mir vor.
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