Abend
Erleichtert steige ich aus der wie üblich viel zu vollen Straßenbahn und atme die kalte Herbstluft ein. Mittlerweile dämmert es schon wieder, dabei ist es gerade mal 17:00 Uhr.
"Typisch kalte Jahreszeit...", denke ich mir und belade mich an der Haltestelle stehend mit meinen Taschen. Nach der Arbeit war ich noch im Supermarkt und habe mich mit Lebensmitteln für die nächsten Tage versorgt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Essen wiegen kann, sobald man es zu Fuß von A nach B transportieren muss, aber ich besitze kein Auto und zum Radfahren ist es mir eindeutig zu kalt.
Schnaufend setze ich mich schließlich in Bewegung und freue mich trotz des Gewichtes der Speisen auf mein Abendessen. Es gibt nur Brot und Salat, aber ich habe seit dem Mittagessen nur einen Kaffee getrunken und bin dementsprechend hungrig.
Vor dem Essen habe ich allerdings noch ein Telefonat mit meinem Therapeuten vor mir. Eigentlich hätte ich in drei Tagen wieder einen Termin bei ihm, aber den muss ich absagen, weil ich mich mit einer guten Freundin treffe. Wir haben uns vorhin spontan für einen Kinofilm verabredet, den wir unbedingt sehen wollen, der aber nicht mehr lange läuft. Wir sind froh, endlich einmal beide die Zeit dafür zu finden und es sollte kein Problem sein, dafür einmal nicht in die Praxis zu gehen.
"Im Gegenteil, er wird sich freuen", überlege ich, als mein Haus bereits in Sichtweite ist, "Ich soll doch so viel wie möglich unter Leute gehen." Zum Glück weiß meine Freundin von meiner Angsterkrankung, sodass ich auch nicht ständig aufpassen muss, mir ja nichts anmerken zu lassen, falls mich etwas stresst. Es war zwar nicht leicht, ihr davon zu erzählen, doch es hat sich definitiv gelohnt.
Netterweise hält mir einer meiner Nachbarn die Haustür auf, sodass ich meine Taschen nur einmal abstellen muss, als ich meine Wohnung aufschließe. Ich stelle die Einkäufe in die Küche und meinen Bürorucksack neben die Garderobe. Dann setze ich mich auf die Couch und nehme mir erst einmal ein paar Minuten, um an mein Handy zu gehen - das tue ich tagsüber relativ selten. Ich habe neue Nachrichten von meinen Eltern und von ein paar Freunden, die ich beantworte, bevor ich ein paar Mails lese und schließlich die Nummer der Praxis wähle.
Ich habe telefonieren früher gehasst, auch das ist Teil meines Problems, aber dank meiner Therapie ist es mir mittlerweile nicht mehr wirklich unangenehm. Ich weiß nicht, wie oft ich zu Beginn meiner Behandlung mit meinem Therapeuten dasaß, um Anrufe zu tätigen, anstatt immer nur Mails zu schreiben - eine Angewohnheit, die mich vor allem im Büro eingeschränkt hat. Sobald das Telefon klingelte, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen und konnte vor Angst oft kaum noch sprechen. Daraufhin haben wir eine Art Konfrontationstherapie angefangen, bei der ich in seiner Gegenwart jede Woche mehrere Telefonate führen musste, während er mir davor und währenddessen half, nicht in haltloser Panik zu versinken. Seitdem muss ich auch ihn immer anrufen, wenn ich etwas klären möchte - Nachrichten oder Mails werden nicht mehr beantwortet. Anfangs fand ich das regelrecht grausam, aber letztendlich hat es mir geholfen.
Wie zu erwarten war, ist mein Therapeut begeistert, als ich ihm von meinem geplanten Treffen erzähle. Er wünscht mir viel Spaß und sagt, ich solle beim nächsten Termin berichten, wie es mir dabei ging. Ich mache mir Essen und beschließe währenddessen, direkt noch jemanden anzurufen. Heute ging es mir zwar wirklich gut, aber ich weiß aus Erfahrung, dass die Probleme an solchen Tagen oft abends wiederkommen, wenn es ruhig um mich herum wird.
Ich wähle in meinen Kontakten denjenigen aus, der einen großen, schwarzen Hund als Profilbild hat, und muss nicht lange warten, bis jemand am anderen Ende der Leitung abhebt.
"Hallo?", höre ich deine Stimme.
"Guten Abend", antworte ich grinsend, "Haben Sie eventuell Interesse daran, sich ein wenig mit mir zu unterhalten? Ich hätte interessante Themen zu besprechen."
"Aber gerne doch!", antwortest du im selben, ironischen Ton, "Stören Sie sich nur nicht daran, wenn es zwischendurch etwas lauter werden sollte, ich führe gerade meinen Hund aus. Aber ich habe Zeit für Sie."
Nach einer kurzen Pause lachen wir beide los und als wir uns schließlich wieder beruhigt haben, fügst du hinzu: "Was hast du denn so zu berichten?"
"Ich war bis eben draußen und musste kein einziges Mal irgendwohin flüchten, um mich mitten in einer Panikattacke wieder zu beruhigen. Und ich habe für die Weihnachtsfeier in zwei Wochen zugesagt und treffe mich in drei Tagen mit Laura. Wir gehen ins Kino." Genüsslich beiße ich von meinem Brot ab.
"Super! Und du rufst mich gerade an, das heißt, deine Telefonphobie ist auch nicht spontan zurückgekehrt?"
"Nein.", sage ich, "Die ist hoffentlich für alle Zeiten vertrieben."
"Hervorragend.", antwortest du. Dann höre ich dich "Max! Bei Fuß!" in eine andere Richtung rufen.
"Hört er mal wieder nicht auf dich?", frage ich amüsiert.
"Nein. Sobald wir durch den Park laufen, findet Max wirklich alles interessanter als mich. Und jetzt muss ich ihn anleinen, denn wir sind kurz vor der Straße."
Ich höre es kurz rascheln und dann ein leises, klickendes Geräusch. Schließlich atmest du hörbar aus. "Ich glaube, mit diesem Hund habe ich noch einen Haufen Arbeit vor mir."
"Jap. Aber ich kann dir in den nächsten Tagen wieder helfen kommen."
Leider kann ich in meiner Wohnung keinen eigenen Hund halten, aber meine Familie besitzt Hunde, seit ich ein Kind bin, weshalb ich einen recht guten Draht zu diesen Tieren habe und regelmäßig die Hunde von Freunden versorge, wenn ein Hundesitter gefragt ist. Du hast Max vor einigen Wochen aus dem Tierheim adoptiert und eigentlich hört er recht gut - wenn er will. Wenn er gerade etwas anderes im Sinn hat, dann sind ihm die Kommandos von Menschen herzlich egal. Ihn unter Kontrolle zu bekommen und an die Leine zu nehmen, ist häufig anstrengend und dauert lange. Ich habe mich auf Anhieb gut mit dem schwarzen Rüden verstanden und deshalb versprochen, bei der Erziehung mitzuhelfen.
"Cool. Du kannst am Wochenende gerne bei mir vorbeikommen.", sagst du.
"Mach ich", antworte ich, "Willst du am Sonntag übrigens mit ins Kino kommen? Wir schauen Star Wars."
"Mal sehen. Vielleicht muss ich auch noch was für die Arbeit erledigen, aber sonst gerne." Wieder entsteht eine kurze Pause. Dann seufzt du: "Mein Chef macht es mir im Moment echt nicht leicht."
"Lässt er dich schon wieder alle Arbeiten erledigen, für die sich sonst keiner gefunden hat?"
"Nein, er verteilt dieses Mal an alle gleich viel Arbeit. Vieles davon ist sowas von unnötig, aber da lässt er nicht mit sich reden. Und manches davon erledige ich dann zuhause, damit ich unter der Woche früher Feierabend machen kann."
"Hm, das ist verständlich. Zum Glück nervt mein Chef aktuell nicht so."
"Sei froh", entgegnest du, "Aber hoffentlich kriegt sich das bald wieder ein."
"Ja. Hat es bisher doch immer." Ich lächele. "Danke für die Nachricht heute morgen übrigens. Hat mir wirklich die Laune gerettet."
"Kein Thema, morgen bekommst du wieder eine. Aber ich muss jetzt auflegen, wir sind fast wieder zuhause. Ich brauche beide Hände, um die Tür zu öffnen und gleichzeitig zu verhindern, das Max Blödsinn anstellt."
"Dann bis morgen!", sage ich.
"Arrivederci.", kommt es von dir zurück. Dann legst du auf.
Ich drehe meine Anlage auf und genieße den Rest meines Abendessens, während Nirvana durch die Wohnung schallt. "Anscheinend ist meine schlechte Phase der letzten Tage halbwegs überwunden.", denke ich mir erleichtert.
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