Die List
»Ob wir uns kennen sollten? Lass diesen Schabernack fallen!«
»Ich meine es ernst. Ich bin nicht dein Bruder. Ich bin nicht Loki.« Forschend musterte er mein Gesicht.
»Schau her!«
Er packte mich am Oberarm. »He!« Und zog mich mit sich an eine andere Stelle der Malereien. Sie zeigte einen älteren weißbärtigen Mann, mit einem Speer in der Hand.
»Das da ist unser Vater. Odin Borson.«
»Warum ist er nicht König?«
»Er ist tot.«
»Hmhm.« Ich versuchte den eisernen Griff um meinen Arm zu lösen, wurde aber weitergezogen. Thor zeigte mir eine Frau in einem gelben langen Gewand.
»Und hier unsere Mutter Frigga.«
»Aha. Vielleicht... wenn ich sie kennenlerne?«
»Sie ist tot.«
Ich musterte die Lady, die keine Ähnlichkeit zu mir aufwies. Wieder zog er an meinem Arm.
»Das da sind die tapferen Drei. Volstagg, Fandral und Hogun. Unsere Freunde.«
»Lass mich raten... sie sind tot?« Thor drehte mich. Seine Finger fuhren durch mein langes schwarzes Haar, als ob sie etwas prüfen wollten. Ich wandte meinen Blick zu seinem Gesicht. Angst, Bangen, Hoffnung und... Liebe, all das signalisierten mir seine blauen Augen.
»Bitte sag mir, dass du erinnerst! Bitte!«
»Es tut mir leid – ich erinnere an... nichts – aber man sagte mir dein Bruder wäre ermordet worden. Ich lebe...« Er ließ meine Haare los und zog seine Hand zurück. Ich sah, wie er sie zur Faust ballte.
»Es gibt keinen endgültigen Tod bei uns. Auch nicht bei dir. Du bist mein Bruder, verstehst du? Du bist Loki, der zweite Prinz von Asgard – mein Bruder.«
Ich seufzte, lächelte milde und hielt den Kopf leicht schief, während ich seinen Blick bannte. »Wusste dein Bruder, wie sehr du ihn liebst?«
»Nein! « Es war kaum ein Flüstern. »Nein... über all die Jahrhunderte...« Plötzlich wandte er sich um und ging, ohne ein weiteres Wort. Ich sah ihm nach.
»Loh?«
Ich drehte mich halb um. »Caprice?«
»Die Tafel wird gleich eröffnet. Alle wirken sehr aufgeregt.«
Das konnte ich mir denken. Wenn sie alle dachten, ich sei ihr verstorbener und scheinbar verschollener Prinz. »Haben wir bereits einen Platz zugewiesen bekommen?«
Caprice verzog das Gesicht. »Ja – haben wir. Du sitzt auf gleicher Ebene, wie die Königin. Wir fristen unser Dasein fast am Ausgang der Tafelhalle.«
Ubila! Ich grinste ihn an, ohne darauf einzugehen. Caprice sah sich schnell in alle Richtungen um, bevor er noch einen halben Schritt näher an mich herantrat.
»Nur mal angenommen... Loh – nur so fantasiert – wenn du wirklich dieser Loki bist... dann bleibst du doch hier bei deinen Leuten.«
Ich starrte Caprice an. Er brachte mich da auf eine Idee, über die sich nachzudenken lohnte. Wenn ich es geschickt anstellte...? Wie schwer war dieser Loki zu imitieren? Ich musste nochmals durch diesen Erinnerungsweg.
»Loh! Loh – ich rede mit dir.«
Caprice flache Hand glitt vor meinem Gesicht auf und ab, so dass ich mich gezwungen sah, den Kopf zurückzunehmen. Schnell fing ich sein Handgelenk ein. »Ich sagte dir bereits - nichts hier unten erinnert mich an etwas. Keine Leute, keine Sprache, auch wenn ich zugeben muss, dass wir die gleiche Klangmelodie haben – absolut nichts. Sorge dich also nicht, dein Pilot könnte dir abhandenkommen.« Und wenn... würde ich es ihm nicht erzählen.
Caprice atmete erleichtert auf. »Dann bin ich beruhigt.«
Ich konnte seiner freundschaftlichen Geste, sich bei mir unterzuhaken, gerade noch entgehen.
»Jetzt habe ich einen Bärenhunger.« Caprice strahlte mich an. »Lass uns essen gehen. Nachher erzählst du uns in der Itzibitzi, wie es sich da oben saß – und was du vorgesetzt bekommen hast.«
Ich rollte mit den Augen. Caprice verstand es wirklich genauso nervig wie einige der Neu-Asen zu sein.
Man konnte bereits die festlich gedeckte Tafel sehen. An einem Ende davon standen einige Tische etwas erhöht – sicherlich der Platz der Königin.
»Ich geh dann mal auf die billigen Plätze. Bis später.«
Ich sah Caprice nach und wollte meinen Weg fortsetzen, als mir eine dunkelhaarige Schönheit in den Weg trat und mich mit großen Augen musterte.
»So ist es wahr. Du bist zurück.«
»Nun... ich bin nicht...«
»Dabei hoffte ich, dich für immer losgeworden zu sein.«
Ich hob die Augenbrauen und musterte sie nun meinerseits interessiert. »Dann ist nicht jeder in Neu-Asgard erpicht darauf, den getöteten Prinzen zurückzubekommen?« Sie strich sich durch ihr dunkles Haar und machte ein mürrisches Gesicht dabei.
»Mutter, Mutter – ist er das? Ja! Ich erkenne ihn. Er ist es!«
Ich blickte hinab auf einen Knaben, etwa im Alter von zehn Jahren, mit schulterlangen dunklen Haaren. Er strahlte mich an und neigte kurz sein Haupt.
»Ich bin Loki Thorson, benannt nach dir, Onkel Loki. Vater hat mir von all deinen Heldentaten berichtet. Es ist mir eine Ehre, deinen Namen zu tragen.«
Die dunkle spröde Schönheit räusperte sich. »Geh zu deinen Schwestern, Loki!«
»Aber Mutter...«
»Auf der Stelle! Du wirst noch Zeit finden, um mit deinem Onkel zu reden.«
Der Junge trollte sich in den Saal, wenn auch eher widerwillig. »Dann bist du das Weib von Thor?«
»Ich bin Sif und dann ist auch dies wahr: du hast dein Gedächtnis verloren.«
»In der Tat halten sich meine Erinnerungen sehr im Hintergrund. Ihr seid mir alle fremd, wie dieser Ort hier.« Ich machte eine allumfassende Geste. »Kann es nicht sein, dass meine Ähnlichkeit mit eurem Prinzen rein zufällig ist?«
»Du warst bisher noch nie an diesem Ort und so einen wie dich gibt es nur einmal.«
Brüsk wandte sie sich ab und ließ mich stehen. Ich lachte und betrat den Saal. Alle Köpfe schienen sich zu mir zu drehen. Einen Lidschlag lang schienen alle Unterhaltungen zu pausieren, dann setzte das Stimmengewirr umso lauter ein.
»Loki! Sieh her! Vielleicht kehrt deine Erinnerung zurück, wenn du das hier siehst.«
Entnervt drehte ich mich zu Thor, der mir seine geöffnete Hand entgegenstreckte. Auf ihr lag ein silberner Klumpen Metall. DAS sollte mich an etwas erinnern? Ich fasste danach und wollte es aus seiner Hand nehmen. Was? Wieso? Ich vermochte es nicht den Klumpen anzuheben, nahm meine zweite Hand dazu und zerrte an dem Metall. Missmutig sah ich Thors ins Gesicht. »Was soll das sein?« Er strahlte mich mit einem breiten Grinsen an.
»Ein Stück von Mjölnir. Erinnerst du? Hela hat meinen Hammer zerstört. Als ich vor ein paar Jahren wieder an diesen Ort zurückkehrte, lagen die einzelnen Teile von Mjölnir immer noch an der gleichen Stelle. Auch für sie gilt – nur wer würdig ist, kann sie heben.«
»Das Stück Metall ruft keine Erinnerung hervor, sollte ich je eine solche besessen haben.«
»Ich werde noch etwas finden, was dich erweckt. Nun komm! Leider gibt es hier kein Bilgenschwein... aber, das hast du noch nie wirklich gemocht. Dafür wachsen die Kürbisse hier besonders gut. Du wirst die Kürbismarmelade mögen.«
Er deutete auf den erhöht stehenden Tisch.
»Brunhilde wollte, dass alle an der gleichen Tafel sitzen, aber die Asen lieben die Tradition und wollten die Königsfamilie genau wie früher platzieren. Übrigens - du bist jetzt Onkel von zwei Nichten und einem Neffen. Dort drüben sind sie. Frigg und Natasha und dem Kleinen da, habe ich deinen Namen gegeben. Der Streit mit Sif war mir das wert.«
»Dein Weib mag mich nicht wirklich.«
»Nun ja... seit du ihr das Haar abgeschnitten hast, wuchs es nie mehr blond. Das trägt sie dir bis heute nach.«
»Wieso hat euer Loki das getan?« Thor lachte.
»Du bist der Gott des Schabernacks.«
Zugegeben – DAS klang nach mir. Geschrei lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die heranrennende Gruppe von Kindern. Allen voran hetzte Klein-Loki, bemüht niemanden an sich vorbei zu lassen. Ihr Ziel waren wir. Keinen Lidschlag später umringten uns wild durcheinanderrufende Kinder.
»Was ist hier los?« donnerte Thor.
Sein Sohn stellte sich breitbeinig vor mich, mit dem Rücken zu mir, die Fäuste kampfbereit erhoben. »Loki ist mein Onkel. Er gehört mir!«
Ich hob die Brauen und sah lachend auf ihn hinab. »Wie bitte?«
Thor packte seinen Sohn und schob ihn von uns weg. Seine Ansprache galt wohl allen. »Auf eure Plätze! Nach dem Mahl habt ihr alle noch Zeit mit Loki zu sprechen.«
WAS? Ich schenkte Thor einen empörten Blick. Murrend gehorchte die Asen-Brut. Thor atmete auf und wandte sich lächelnd an mich.
»Gleich wird das Mahl aufgetragen. Lass uns unsere Plätze einnehmen.«
Während wir zu unseren Plätzen gingen, ließ ich meine Blicke schweifen. Scheinbar versammelte sich das ganze Volk der Neu-Asen in dieser Halle, um zu Speisen. Einige Maiden schoben Antigrav-Platten vor sich, voll mit Speisen und Tränken. Alles wurde auf den Tischen verteilt. Blumen, blühende Zweige, ganze Früchte und Kerzen trugen zur Zierde der Tische bei. Ich entdeckte auch verschiedene Gewürze. »Speist ihr immer so?«
»Aber ja. Die Mahlzeiten dienen dem Zusammentreffen der Familien. Wir tauschen beim Essen Neuigkeiten und Notwendigkeiten aus. So wie wir heute deine Rückkehr gemeinsam feiern.«
Diesmal unterließ ich es dagegen zu sprechen. Mir gefiel dieser Usus. Hätte ich nur geahnt, was auf mich zukam, ich hätte es vorgezogen auf der Itzibitzi zu speisen.
Kaum zwei Bissen durfte ich zu mir nehmen, ohne von neugierigen Fragen gelöchert zu werden. Nachdem scheinbar alle Neu-Asen wussten, dass mir die Erinnerung fehlte, überschlugen sie sich in den Versuchen sie mir zurückzubringen. Geschichten, Fragen, Fundstücke von Asgard... so ging es während des ganzen Mahls, selbst nachdem die Tafel aufgehoben wurde, brach die Aufmerksamkeit der Neu-Asen mir gegenüber nicht ab. Krampfhaft unterdrückte ich ein Gähnen, bei meinen Versuchen alles zu behalten, was man mir zutrug.
Dazu kam das ständig jemand auf mich deutete. Das Getuschel aus allen Ecken, kaum überhörbar, konnte ich einfach nicht übergehen. Schon spielte ich mit dem Gedanken aufs Schiff zurückzugehen, als ich lautes Gelächter an den Toren der Halle vernahm. Thor neben mir stand auf.
»Ich bin gleich zurück.«
Ich nickte abwesend und beobachtete, mit gerunzelter Stirn, wie prächtig sich Caprice mit der Königin von Neu-Asgard unterhielt. Das gefiel mir nicht. Ich stand auf und wurde sofort von eifrigen Kinderhänden auf den Stuhl zurückgezogen.
»Vater versprach uns, dass du nach dem Essen uns gehörst. Erzähl uns von deinen Abenteuern!«
»Wartet!« Vorsichtig befreite ich mich von den kleinen Händen. »Gebt mir noch ein wenig Zeit. Wir treffen uns später vor der Halle bei dem großen Feuer und dort erzähle ich euch eine Geschichte.« Unter großem Gejohle stürzten die Kinder freudig davon. Tatsächlich gehörte mir ein kleiner Moment ganz allein. Ich atmete durch.
Und schon war er wieder vorbei. Thor kam auf mich zu, eine Hand hinter seinem Rücken. Nicht schon wieder! Bestimmt hatte er wieder so ein Übrigbleibsel von diesem Loki dabei, um es mir unter die Nase zu reiben, in der Hoffnung... hmmm....
Wieder schickte ich meine Blicke durch den geschmückten Saal, blieb bei der Königin von Neu-Asgard hängen, die scheinbar mit Caprice anbändelte. Nun, als Prinz schien es sich hier nicht schlecht auszuhalten.
»Hier! Sieh dir das an! Kommt er dir bekannt vor?«
Er zog seinen Armen hervor. Das Nein auf meinen Lippen verdorrte, als ich auf Thors geöffnete Handfläche und den darauf liegenden Dolch starrte. Dieser Dolch! Er sah aus wie der Zwilling meines Dolches, den ich seit dem Tag seines Erscheinens nie wieder aus der Hand gab. Schnell hob ich stoppend meine Linke und langte mit der Rechten nach dem Dolch in meiner Lederscheide. Langsam zog ich ihn heraus, sehr langsam, um nicht ein falsches Bild hervorzurufen. »Ich besitze den gleichen. Was für ein Zufall.«
Thor keuchte auf. »Nein – nein! Es sind zwei! Sie wurden für dich gemacht. Erinnerst du nicht? Wir waren mit Vater in der Schmiede...«
Jetzt oder nie wieder. Ich griff ungehindert nach dem zweiten Dolch. Auch er schmiegte sich in meine Hand. »Ja, Thor. Ich erinnere mich«, log ich und lächelte ihn an. Vielleicht fand ich hier, was ich so viele Jahrzehnte vergeblich suchte.
»Bruder!«
Ungeachtet der Tatsache, dass ich zwei Dolche in den Händen hielt, riss er mich in eine Umarmung, die mir fast die Rippen brach. Ich ächzte: »Thor! Lass mich am Leben!« Sofort nahm er den Druck weg, hielt mich jedoch weiterhin umklammert.
»Das Heil ist mir treu, die Götter mir gewogen. Du bist zurückgekommen.«
Ich spürte das Beben seiner Brust. Seine Stimme klang mühsam beherrscht. Thor kämpfte mit den Tränen. Zögernd hob ich die Hand und klopfte vorsichtig auf seinen Rücken. Er löste sich von mir, hielt mich eine Armeslänge vor sich und lachte mich mit schimmernden Augen an.
»Ich kann dir nicht sagen, wie... wie...wie froh ich bin.«
»Ich weiß.«
»Und nun geh zu den Kindern. Du hast ihnen Geschichten versprochen und sicherlich wollen sie magische Tricks von dir sehen.«
Magische Tricks? Ihr Loki war ein Magier? Das fehlte mir noch. Ich rollte die Lippen ein. Vielleicht konnte ich die Asenbrut mit meinen Abenteuern ablenken? Magische Tricks...hhhhh!
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