Arie
Mir schwirrte der Kopf. Ich war diesen Avengers ob jung oder alt, so dankbar. Endlich, endlich war Thor auf und davon, um seinen Pflichten als Chef der Avenger nachzukommen, nachdem er mich die ganze Zeit in Beschlag nahm und ich mir Stapelweise Papiere von Norwegens Regierung ansehen musste, um sie mit ihm durchzugehen. Ich bettete mein Gesicht in meine Hände und seufzte. Ich nahm den Kopf erst hoch, als Sigyns Hand sich auf meine Schulter legte.
»Erschöpft?«
»In der Tat. Ich habe nicht mit einem Sprung ins kalte Wasser gerechnet, als Thor mich fragte, ob ich sein Berater sein wolle.«
»Hier! Trink das!«
Ich nahm den dampfenden Becher in Empfang und hob fragend die Braue.
»Dein Lieblingstee, ein bisschen abgeändert, da ich Midgard-Kräuter verwenden musste.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Lieblingstee...
Sigyn lächelte. »Ach Loki. Du weißt es doch inzwischen auch. Du BIST Loki – doch dein Gedächtnis will nicht zurückkehren. Mir musst du nichts vorspielen. Doch sag mir, warum du Thor und den anderen den Glauben lässt, du würdest dich erinnern?«
Ich nahm einen Schluck von meinem Lieblingstee. In der Tat fand ich ihn sehr annehmbar. »Mehrere Gründe, Sigyn. Zum einen finde ich es wirklich lästig, dass ständig versucht wird, mir meine Erinnerung zurückzubringen... vor allem Thor entwickelt geradezu eine Manie...«
Sigyn lachte. »Es hätte mich gewundert, wäre es anders – doch werde ich das Gefühl nicht los, dass du Thor nur als Vorwand benutzt.«
Ich rollte die Lippen ein und nahm schnell noch einen Schluck. »Ja.«
Sigyn nahm mir die Tasse aus der Hand, kam hinter mich und nahm meinen Kopf, um ihn zärtlich an ihren Bauch zu drücken. »Ich kenne doch meinen Hallodri. Was also bedrückt dich, dass du dich weigerst?«
»Wie kommst du darauf, dass ich mich weigere?«
»Weil deine Natur der Schabernack ist und deine Erinnerung diesem widerspricht.«
Ich nickte. »Ich hatte Erinnerungsfetzen, Sigyn und keine davon war schön. Nicht einmal die mit meinem Vater.«
»Du hast dich an Laufey erinnert?«
»Wenn er alt und grauhaarig ist und mich mit zur Jagd schleifte...«
»Odin.«
»Oh!... Ich habe... zwei Väter?«
»Kann man so sagen – ja. Das wissen aber nur sehr wenige. Es liegt daran, dass du kein Ase bist.«
Was? Ich starrte Sigyn an.
»Du bist von Geburt an ein Thurse und...«
»Sprich nicht weiter, Sigyn. Ich will es nicht hören. Du hast Recht. Ich will mich nicht erinnern. Es müssen schreckliche Dinge passiert sein. Ihr lebt auf Midgard... heißt das, das Asgard vernichtet wurde?«
Sigyn seufzte. »Komm! Wir gehen zum Weg der Erinnerung. Ich werde dir Erklärungen geben, die du dringend benötigst. Wie ist es mit deiner Magie? Bereit sie einzusetzen?«
»Meine Magie? Sicherlich – Feuer und Eis gehorchen mir einigermaßen.«
Sigyn begann zu lachen. »Loki! Du bist der fähigste Magier, den wir kennen! Was redest du von Feuer und Eis? Dir gehorchen alle Elemente, wenn du es wünschst.«
Ich lächelte. »War sie so schlecht, dass ich sie ebenfalls vergessen will?«
»Genug!« Sigyn griff nach meiner Hand und zog mich vom Stuhl hoch
Kurz darauf betraten wir den Weg der Erinnerung und Sigyn konnte es nicht lassen, mir alle Bilder und Gegenstände zu erklären. Wahrlich! Mich interessierte in diesem Gang nur Sigyn, die mich mit Feuereifer von einem Bild zum nächsten zog. Immerhin erfuhr ich Asgards kompletten Werde- und Niedergang. Wir begegneten auf unseren Weg durch den Gang nur wenigen Asen, die sich nach uns umdrehten und danach zueinander gewandt tuschelten.
»Wird das nie aufhören?«
»Doch, bald schon. Dass du unversehrt zurückgekommen bist ist so ein Labsal für unsere geschundenen Seelen.«
Wir standen uns gegenüber. Ich mit hochgezogenen Brauen, Sigyn mit einem wunderbaren Lächeln auf den Lippen. Es war so einfach, die Umgebung auszublenden und nur noch Sigyn zu sehen. Ein Schritt, ein Heben der Hand, schon berührte ich ihren Arm und zog sie an mich. Ihre Hand an meinem Nacken, der sanfte Druck, der mich veranlasste den Kopf zu senken. Ihre Lippen auf den meinigen, versprachen eine lang vermisste Heilseligkeit. Ich zog ihren Körper noch näher an mich.
»Ähem-hm! Verzeiht, dass ich euch unterbreche.«
Thor! Sigyn und ich sahen uns in die Augen. Ich verdrehte die Augen und Sigyn verzog ihren Mund zu einem Grinsen, bevor wir unsere Lippen lösten.
»Lass uns reden.« Sigyn nickte mir zu, warf Loki einen reizenden Blick zu und ließ uns alleine.
»Mein Bruder wünscht eine Unterredung? Geht es um Staatsgeschäfte?«
»Nun... nein. Heute Abend wollen die Spielleute unbedingt das Theaterstück aufführen und du sollst Ehrengast sein.«
Ich erinnerte an Sigyns Worte – ein Drama, das nicht gut für mich ausginge. »Und?«
»Nachdem Asgard zerstört wurde, boten die Midgarder uns hier eine Bleibe. Wir kämpften gegen Thanos und ich war voller Wut, weil er dich... du weißt schon. Ich wollte keinen leichten Tod für ihn, sondern ihm beim Sterben in die Augen sehen. So traf meine Axt nicht seinen Kopf, was sich als großer Fehler erwies.«
»Was soll das werden? Eine Beichte? Das ist alles Vergangenheit. Wieso...«
»Warte! Ich will dir nur sagen, dass ich mich danach... nun ja... ein wenig hängen ließ. Den Endkampf haben wir dann schließlich gewonnen und ich brauchte dringend eine Veränderung. So ließ ich mein Volk zurück. Es war nicht leicht für die Asen ihren Prinzen zu verlieren, nachdem sie schon alles andere verloren. Sie schrieben ein Theaterstück und erzählten eine Geschichte, wie sie...«
Thor seufzte. Ich verstand nicht, was er mir sagen wollte, aber es schien ihm schwer zu fallen.
»Als ich zurückkam, spielten sie mir ihr Stück vor und ich brachte es nicht übers Herz... «
Er pustete geräuschvoll die Luft aus.
»Also... wenn du es dir ansiehst... wundere dich nicht.«
Wie sollte ich! »Keine Sorge. Ich sehe es mir einfach an.« Thor schien erleichtert.
***
Wir näherten uns dem Gebäude, in dem das Schauspiel stattfinden sollte. Vor dem Eingang wimmelte es von Neu-Asen. Als wir erschienen, wurde uns respektvoll Platz gemacht. Manche verneigten sich.
»Wie nennt sich das Stück?«
»Thor und Loki Odinsons, die Erretter.«
Mein zweifelnder Blick traf ihn und Thor lachte,
»Es handelt von uns – was hast du erwartet?«
Klein-Loki begann an meiner Hand zu ziehen.
»Darf ich Loki zu seinem Platz bringen – biiiiitteeee Vater, biiiitte!«
»Zu meinem Platz? Sitzen wir nicht alle zusammen?«
»Nein, dieses Mal nicht. Dir gehört eine Loge ganz allein. Ich... werde mir das Stück nicht ansehen.«
»Vater – darf ich jetzt? Darf ich?« Klein Loki stampfte mit dem Fuß auf, um Aufmerksamkeit zu erhalten.
Wir sahen beide zu ihm hinab. »Ich war noch nie in diesem Theater – bestimmt verlaufe ich mich...«
Klein-Lokis Augen wurden groß und seine Stimme eindringlich: »Hörst du, Vater, biiiitte.«
Thor seufzte. »Von mir aus.« Sofort lief Klein-Loki los. Es gab einen Ruck in meiner Schulter und ich setzte mich in Bewegung.
»Ich hole dich nach der Vorstellung ab!« rief mir Thor hinterher. Ich hob verstehend die Hand, mehr Spielraum bekam ich von meinem Platzanweiser nicht.
Wir erreichten das Innere des Theaters. Ein eigentümlicher Geruch hing in der Luft.
»Wir gehen nach oben«, erklärte Klein-Loki, ohne meine Hand loszulassen.
Ein wunderbarer Balkon erwartete mich. Schwere Leder- und Brokatvorhänge schirmten die Longe nach allen Seiten, außer zur Bühne, ab. Klein-Loki ließ mich los und ich nahm Platz, beugte mich etwas über die Balustrade, um nach dem Orchester zu sehen, da schräge Töne meine Ohren erreichten. Ein geordnetes Durcheinander... es spielte sich ein. Die Bühne zeigte sich noch verdeckt, durch die langen dunklen Stoffbahnen.
»Loki?«
Ich setzte mich wieder richtig und schenkte Klein-Loki meine Aufmerksamkeit. »Loki?« Wir grinsten uns an.
»Darf ich hierbleiben?«
»Du hast es noch nicht gesehen?«
»Vater erlaubt es mir nicht.«
»Oh...in diesem Falle, such dir einen der verbliebenen Stühle aus.«
»Danke! Ich verspreche auch leise zu sein.«
Gedämpfter Stimmenklang kam bei uns oben an. Ich betrachtete staunend die erwartungsvollen Besucher. Ordner, gewandet in den Farben Rot und Grün wiesen Plätze aus.
Von der ärmlichen Gewandung der Neu-Asen war nichts zu sehen. Schillernde und prachtvolle Roben wurden zur Schau getragen. Die Damen trugen Frisuren, in denen Juwelen funkelten. Die Gewandungen der Männer von goldenen Fäden durchzogen.
»...und du kannst dir nicht vorstellen, was wir alles eintauschen konnten. Ein paar Alte haben ihre ganzen Wertsachen in einem Beutel bei sich getragen und die Bewohner Norwegens haben für uns gespendet und...«
Das Licht ging aus.
»...Brunnhilde hat bezahlte Führungen durch Neu-Asgard...«
»Loki?«
»Ja?«
»Du wolltest still sein.«
»Verzeih mir!« Er zog den Kopf ein, rückte seinen Stuhl näher an die Balustrade und lehnte seine Arme darauf, um die Bühne sehen zu können.
Für kurze Zeit verstummte das Orchester. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Sigyn sprach davon, dass es nicht gut um mich stand in diesem Schauspiel, Thor sprach davon, dass es nicht ganz seinen Erwartungen entsprach... wollte ich wirklich wissen, was mit mir in meiner Leere passierte?
Ich hörte, wie sich die schweren Stoffbahnen bewegten. Die Bühne wurde eröffnet. Das Orchester begann wieder zu spielen. Ein Chor sang... und er sang meine alte Sprache. Ich hielt die Augen geschlossen, gab mich der Musik und dem Gesang hin. Der Anfang hatte doch schon etwas...
Die Geschichte spielte von Thor und Lady Jane, einer Midgarderin, die den Äther der Dunkelelfen aufnahm. Malekith wollte ihn zurück und führte die Dunkelelfen in den Krieg gegen Asgard. Odin und sein Heer stellten sich ihnen entgegen.
Ich riskierte einen Blick auf den singenden Darsteller des Allvaters. Eine donnernde Stimme besaß er auf jeden Fall. Grinsend schloss ich die Augen. Lauschte dem empörten Chor, als Friggas Sopran durch eines Dunkelelfen Dolch erstarb.
Meine Neugierde ließ mich nach vorne beugen, als ich Lokis Tenor vernahm – der in Asgards Kerker saß? Dafür bauten sie extra die Bühne um. Thor kam hinzu. Sie stritten. Loki zerstörte eindrucksvoll Bettstatt und Tisch, bevor ihn Thor aus dem Kerker befreite. Wieso saß ich ihm Kerker?
Thor jammerte um seine Liebe – diese Lady Jane. Sicherlich überlebte sie dieses Schauspiel ebenfalls nicht, denn immerhin nannte Thor nun Sif sein Weib. Jeder beendete Akt wurde von rauschendem Beifall begleitet. Ich erwischte mich dabei, dass ich ebenfalls klatschte und stellte es schnell ein. Neben mir kicherte Klein-Loki. Ein düsterer Blick, mit zusammengezogenen Brauen, ließ ihn schnell verstummen und wieder nach unten sehen.
Irgendwann, zwischen meinem unrühmlichen Ende als Allvater Odin und der Zerstörung Mjölnirs durch Helas Hand, spürte ich den Blick. Ich hörte Helas Arie und versuchte denjenigen zu finden, der mich statt der Bühne ins Visier nahm. Doch lenkte mich das Geschehen auf der Bühne immer wieder ab. So ließ ich es schlussendlich bleiben und konzentrierte mich auf das Schauspiel.
Der letzte Akt traf mich wie ein Stich mitten ins Herz, obwohl ich den Trick erkennen konnte. Die riesige, violette, übergestülpte Kunsthand. Den Schauspieler auf zwei dunklen Kisten stehend, um die richtige Größe zu bekommen, damit er seinen kleineren Angreifer am Halse packen konnte, welcher ebenfalls auf eine Kiste sprang, damit er nicht wirklich stranguliert wurde. Wirklich ideenreich!
Einige Schritte von dem Drama entfernt lag der in Stahlketten gelegte Thor-Darsteller und schrie... schrie um seines Bruders Leben... Sein Bruder, der mit einem Bein auf der Kiste stand und mit dem anderen zappelte, als würde er tatsächlich im Würgegriff hängen. Er keuchte, seine Hände um das Handgelenk des Riesen verkrampft.
»Du wirst – niemals – ein Gott – sein!«
Thor schrie... die violette Hand schloss sich, der andere zappelte, Thor schrie... und dann gab es ein fürchterliches Knacken, das das Theater erfüllte... Ich spürte den Druck unter dem Kiefer und griff an meinen Hals, während sich mein Mund automatisch öffnete, um nach Luft zu ringen. ...und Thor schrie noch mehr...
NEIN!
Thor schrie nicht!
Bis ich das Bewusstsein verlor, trug er einen Maulkorb... Er konnte nicht schreien. Gefangen in Unmengen aus Stahl, gebannt von der Macht des Thanos, unfähig sich zu rühren, konnte er nur entsetzt starren und vor Machtlosigkeit zittern... Während mir die Luft knapp wurde, meine Augen immens zu schmerzen begannen, meine Gedärme sich entleerten. Während mein Thursenkörper an die Oberfläche wollte und der brechende Knochen das letzte war, was ich hörte. Thor schrie nicht.
Ich keuchte, bewegte meine verkrampften Finger und streckte meinen Rücken durch. Auf der Bühne warf Thor seine Ketten ab und sprang auf. Er rief nach sturma-brekan (Sturmbrecher). Eine gewaltige Axt wurde mit einem Seil von oben nach unten gelassen. Thor löste das Seil, packte sturma-brekan und stürzte sich auf den Thanosdarsteller. Die Musik schwoll zu einem ohrenbetäubenden Spektakel an, als Thor Thanos erschlug.
Das monomentale Aufspielen des Orchesters nahm ich nur noch am Rande wahr. Ich krümmte mich zusammen, als die Erinnerung wie eine Flutwelle über mir zusammenschlug. Hier konnte ich nicht mehr bleiben. Ich begann Magie zu weben... und teleportierte.
***
Ich stand an den Klippen und starrte ins Meer unter mir. Wind kam auf und begann an meinen Haaren zu zerren. Über mir verdunkelte sich der Himmel. Wie aus dem Nichts ballten sich dunkle Wolken zusammen, bis sie nur noch eine einzige schwarze Masse zu sein schienen. Mit dem Grollen aus dem Himmel wurde das Meer stürmischer. Die Wellen schlugen gegen den Felsen mit einer Macht, dass die Gischt mein Gesicht erreichte. In der Ferne erkannte ich einen Blitz, der ins Meer schlug und die Wolken um sich herum erleuchtete.
Ich lächelte als ich die schweren Schritte hinter mir vernahm. Große, schwere Tropfen trafen mich, wurden mehr und gleichmäßiger. Es regnete kühl und stark, wie die Gestalt die hinter mir zu Stehen kam.
»Ich habe dich beobachtet. Du hast mich angelogen.«
Ich leckte das Nass von meinen Lippen, schloss die Augen und lauschte mit all meinen Sinnen. Der Donner schmerzte mein Gehör und der Blitz näherte sich. Seine Energie leuchtete durch meine Lider.
Längst peitschte das Meer die Klippen, klang das Meeresrauschen, wie ein Versuch den stürmischen Regen zu überdröhnen. Über mir der Donner, vor mir der Blitz und hinter mir... mein Bruder. »Tu ich das nicht meist... Thor?«
Misstrauisch trat Thor neben mich, heftete seinen Blick kurz auf mein Gesicht, bevor er in die Tiefe blickte. So standen wir schweigend, bis sich der Regen zügelte und zu einem gleichmäßigen Nieseln wurde. Die stürmische See beruhigte sich. »Wir sehen aus wie gerupfte Raben«, stellte ich fest.
»Wir sollten zurückgehen.« Thor sah wieder zu mir. Er lächelte. »Nach Hause.«
Ehe ich mich versah schlug er mir auf die Schulter und ich gab einen ächzenden Ton von mir. »Das – Thor, das habe ich nicht vermisst.«
Thor lachte aus vollem Halse. »Und das, Loki – das glaube ich dir.«
Ich grinste... und wir gingen zusammen zurück...
...dabei legte ich brüderlich meinen Arm um seine Schultern und raunte in sein Ohr: »Thor! Wir sollten noch einmal über deine Königsbürde sprechen...«
Empörung und Entsetzen begleiteten meinen Namen: »LOKI!«
Ich lachte und konnte es kaum erwarten zurückzukommen...
...nach Hause – endlich!
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro