16 - ... welche scheiterten
Generell war ich ein Mensch, der nicht zu den Schreckhaftesten auf der Welt gehörte. Es war schon sehr schwierig, mich überhaupt irgendwie zum Erschrecken zu bringen.
Ich weiß noch ganz genau, wie sich Leronel in unserer Kindheit daran die Zähne bei mir ausgebissen hatte, weil es ihm bis auf nur wenige Male kaum gelang, mich irgendwie zusammenzucken zu lassen.
Jedoch zählte diese Situation, in der mir im Dunkeln eine Hand auf die Schulter gelegt wird und ich mich vorher noch vergewissert hatte, allein zu sein, mit zu den schreckhaftesten Momenten in meinem Leben.
Ich zuckte deutlich, fast schon schmerzhaft zusammen, mein Herz machte einen gewaltigen Sprung und mein Puls schoss von Null auf nichts in die Höhe.
Da mich derjenige, der hinter mir stand, ohnehin schon sehr unsanft zurückgezogen hatte, stolperte ich nun vor lauter geladenem Adrenalin rückwärts nach hinten und konnte gerade noch so mit einem ruderndem Arm mein Gleichgewicht halten.
Allerdings schaltete sich mein Hirn im selben Moment auf einen Angriffsmodus um, nachdem es den ersten Schock überstanden hatte. Ich fackelte nicht lange herum, sondern griff nach einem Brett, das locker neben mir angelehnt war und drehte mich zusammen mit dem Ding in Richtung des Unbekannten.
Ich holte blindlings mit dem Brett aus, um es dem Unbekannten zielsicher vor dem Kopf zu schlagen, da wurde mein Arm abgefangen und Finger drückten gezielt auf einen Punkt meiner Hand, worauf ich unwillentlich meine zugegeben sehr unhandliche Waffe fallen lassen musste.
Als ich meinem Angreifer den Arm entziehen wollte, ließ er es ohne Weiteres zu, worauf ich nun endlich mal den Blick hob - und beinahe zum zweiten Mal erschreckt zusammenzuckte.
Seine platinblonden welligen Haare glänzten hell im Licht des Mondes und seine türkisen Augen bohrten sich wie zwei scharf geschliffene Edelsteine fest in meine.
Mein Herz sackte mir in die Hose.
Ausgerechnet auch noch einer von ihnen.
Obwohl mich alles in meinem Körper dazu zwang, nicht nur einen Schritt von ihm zurückzutreten, weil mich seine raubtierhafte Präsenz dazu zwang, stämmte ich meine Füße fest in den Boden und wartete mit wild klopfendem Herzen darauf, was nun geschehen würde.
Auris sagte erstmal nichts.
Stillschweigend musterte er mich ausdruckslos von oben bis unten, blieb etwas länger bei dem Anblick meiner Hose verweilen, ehe er herunter auf das Brett schaute, das in den weißen Schnee gefallen ist.
Der Frost auf dem Holz blitzte auf, als würde mich dieser lächerliche Waffe auch noch verhöhnen wollen.
Verdammt, hätte ich doch nur meine Dolche wieder.
Mit erhobener Augenbraue griff er nach dem kurzen Brett und drehte es im Licht des Mondes hin und her.
Während er das tat, konnte auch ich ihn ungehindert beäugen.
Er trug in etwa die gleichen schwarzen Lederstiefel wie ich, eine ähnliche Hose und einen dunklen, ebenfalls ledernden, ziemlich schmucklosen Brustpanzer. Darunter musste er einen Pullover tragen, denn lange schwarze und äußerst enge Ärmel bedeckten seine Arme. Die Muskeln seines rechten Armes, in der Hand er das Brett hielt, spannten sich unter dem Stoff an und gaben einen angedeuteten Anblick von dem, was sich dort an weitere trainierte Muskelmasse unter dem Pullover befinden musste.
Auf seinem Rücken befanden sich zwei weggesteckte Schwerter, dessen Griffe hinter seinen breiten Schultern herausguckten.
Anscheinend ist auch er unterwegs gewesen - oder noch auf dem Weg. Denn bei unserer ersten Begegnung hatte er lediglich ein Hemd und eine Hose getragen.
Meine Augen glitten wieder hoch zu seinem Gesicht.
Seine Augen wanderten von dem Brett in seiner Hand weg und stoppten bei mir. Seine Lippen begannen sich zu zerteilen, als er zum Sprechen ansetzte. "Wie es scheint... hat mein Bruder es großzügig versäumt, Euch über die Regeln aufzuklären, wenn Ihr euch zum Bleiben entscheidet."
Regeln?
"Regeln?", schoss es sofort unweigerlich aus mir heraus. "Wenn ich mich recht erinnere, dann wurde dieses Wort nichtmal erwähnt."
"Was um alles in der Welt macht sie hier?"
Ich wirbelte herum.
Hinter der angelehnten Tür schob sich eine große Gestalt aus dem dunklen Inneren des Gebäudes - und als diese hochgewachsene Gestalt in das Mondlicht trat, hätte ich am liebsten erneut laut und sehr genervt aufgestöhnt.
Niemand anderes als Junis höchstpersönlich baute sich vor mir auf und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er war ähnlich eingekleidet wie Auris - offensichtlich waren sie beide zusammen unterwegs.
Warum mussten mich meine Füße auch unbedingt hierher tragen? Der Burghof ist riesig und ausgerechnet an diesem kleinen Fleck musste ich diese beiden antreffen. Wahrscheinlich dachten sie auch genau das gleiche wie ich.
"Ovaris hat es anscheinend versäumt unserem Gast ein paar Regeln zu erläutern", erklärte Auris seinem Bruder. Er hielt noch immer mein Brett fest. In seinen großen Händen wirkte das Holz mickrig, ja beinahe schon lächerlich.
"Wahrscheinlich ist er nicht davon ausgegangen, dass sie ausgerechnet nachts auf Erkundungstour geht." Junis umrundete mich langsam, dabei betrachtete er mich von Kopf bis Fuß. "Und das dann auch noch in diesem Aufzug."
Ein angenehmes tiefes Auflachen aus Auris' Richtung durchschnitt die Stille. "Ich bitte dich. Es ist ihr doch schon an der Nasenspitze anzusehen, dass ihr sicher nur Dummheiten durch den Kopf gehen."
"Tut mir leid, dass ich nicht zu euren langweiligen Gästen zähle", mischte ich mich erbost mit ein. "Ich habe mich lediglich umgesehen und hier ein Geräusch gehört - daher wollte ich nachschauen." Natürlich war es eine Lüge - aber ich würde ganz sicher nicht mit der Wahrheit herausrücken.
Junis' amüsierte Miene wandelte sich blitzschnell zu einer steinharten Fassade um, seinen Augen nun genauso stechend wie die von Auris. "Soll ich Euch nun auch noch darüber aufklären, was die Aufgaben einer Prinzessin und die Aufgaben unserer Wächter sind? Von irgendwelchen Auffälligkeiten habt ihr Euch erst recht fernzuhalten!"
Ich presste meine Lippen zu einer schmalen Linie aufeinander. "Das ist immer noch meine Entscheidung."
Junis schnaubte - sein Blick blieb an dem Brett in Auris' Händen hängen. Seine Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit. "Nicht im Ernst", murmelte er und entzog seinem Bruder dieses Ding, der ihm es nur allzu gerne überließ. "Mit dem Ding war sie auch noch unterwegs?"
"Seh ich etwa so aus, als würde ich mit der Zaunlatte umherrennen?" Auris zog vielsagend eine Braue in die Höhe. „Soweit ich weiß, habe ich das nicht nötig."
"Tja ich eben schon", fuhr ich Auris gereizt an.
"Danke für diese Neuigkeit", antwortete er von oben herab.
"Mit einer Zaunlatte umherrennen und es nötig haben oder nicht - am Ende zählt, dass Ihr mit einem verdammten Brett auf unserer Festung mitten in der Nacht umherspaziert." Junis erhitzter Tonfall ließ mir das Blut in meinen Adern gefrieren.
Verdammt, ich hätte meinen kleinen Spaziergang wirklich besser überdenken sollen - aber wer ging schon davon aus, dass zwei der drei Könige sich nachts in der gruseligsten Ecke aufhielten?
Ich stämmte meine Hände in meine Seiten. "Und nun? Werde ich für die Nacht in den Kerker geschmissen oder darf morgen kein Frühstück essen?" Am liebsten hätte ich mir gleich danach wieder auf die Zunge gebissen. Das hier vor mir waren die Herrscher von dem Land, in dem ich mich nunmal ebfand - da durfte ich nicht einfach frech werden. Wo war nur meine Selbstbeherrschung?
Während Junis aussah, als würde er das, was ich gesagt habe, gern gleich in die Tat umsetzen wollen, lächelte Auris zu meiner Überraschung still in sich hinein.
Es war ein komplett umgekehrtes Bild als im Thronsaal bei unserer ersten Begegnung, als Junis Auris vor mir ausbremsen musste.
Seltsam.
Das Krächzen eines Rabens war von weiter weg zu hören und der Wind brachte die Äste des riesigen Nadelbaumes direkt neben uns zum rauschen. Ansonsten war es so still, wie ich es auch noch nie in meinem Königreich in der friedlichsten Nacht vernommen hatte. Bei uns Zuhause wirkte alls so viel lebendiger - hier war die Natur vereist.
Anscheinend so vereist wie ihre Herrscher.
Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte Junis zum Sprechen an, jetzt wirkte er deutlich ruhiger als noch vorhin. Sein Tonfall war abgekühlt, klang beinahe schon so, als würde ihn das, was ihn eben noch aufgeregt hatte nicht mehr interessieren. "Nun... erstmal dürft Ihr wieder zurück auf Euer Zimmer, alles Weitere wird morgen besprochen."
"Ihr meint die Regeln?", konnte ich es nicht unterlassen spitz nachzufragen.
Das stille Lächeln auf Auris' Lippen vertiefte sich. Es war immer noch kein freundliches Lächeln. Eher ein zutiefst Belustigtes. Ein Lächeln, mit dem man ein bockiges Kind betrachten würde und nur darauf wartete, dass es sich endlich wieder einbekam.
Nun diesen Gefallen werde ich ihm sicher nicht tun.
Erzürnt funkelte ich Auris an.
Dieser wandte nach einigen Sekunden ungerührt den Blick ab, nahm sich das Brett von Junis und stellte es wieder demonstrativ an der Hauswand ab.
"Ich meine, Ihr solltet besser die nächsten Tage keine Langeweile haben. Sonst müssen wir noch einen Wächter vor Eurer Zimmertür abstellen", erwiderte Junis.
Auris lachte erneut. "Ich denke, Isolde reicht aus."
"Wer ist das denn jetzt?", schaltete ich mich genervt ein.
"Werdet Ihr morgen am Frühstückstisch sehen", antwortete mir Junis und machte dann eine wedelnde Handbewegung. "Und nun geht zurück auf Euer Zimmer und legt Euch hin. Ich bin mir sicher, dass Ihr auch ohne einen Babysitter zurückfindet."
"Wer weiß das schon", gab ich zickig zurück.
Junis' Augen wurden schmal. "Gut okay - ich glaube, ich ändere meine Meinung. Eine Begleitung wäre doch angebracht."
Als hätte jemand nur auf das Stichwort gewartet, hörte ich Schritte hinter mir, worauf ich mich blitzschnell in die Richtung drehte.
Es war niemand anderes als Sir Gilian.
Der Wächter mit den kurzgeschoren braunen Haaren und den eingemeißelten ebenmäßigen Gesichtszügen schenkte mir ein verhaltenes Lächeln, während er mit einem Arm in die Richtung der Hauptfestung deutete. "Nach Euch."
Ich fühlte mich wie bei einem Deja-vu.
Es war noch gar nicht so lange her - da hatte er mich in dem gleichen Tonfall und mit dem gleichen Lächeln in die Festung hineingebeten, als Leronel und ich hier angekommen waren.
Wäre ich doch bloß nie auf dieser Reise mitgekommen.
Ohne die beiden Könige noch eines Blickes zu würdigen, marschierte ich mit erhobenen Haupt widerstrebend und zähneknirschend an dem Wächter vorbei, ohne auf ihn zu warten.
Nach einigen Sekunden schritt der großgewachsene Mann aber gleich wieder neben mir her, die Hand an seinem Schwert. "Eure Hoheit... Ihr habt ein ganz schönes Tempo drauf."
"Mhm", machte ich nur missmutig und ging stur weiter durch die dunklen Schatten der Gebäude hindurch. Ich wusste, ich konnte meinen Ärger und Frust und nicht an ihn auslassen, aber irgendwer musste gerade der Puffer sein, damit ich nicht durchdrehte. "Wisst Ihr Sir Gilian, Ihr müsst mich nicht begleiten. Ich finde den Weg auch allein zurück."
"Dem bin ich mir zu einhundert Prozent bewusst."
Überrascht von seiner Antwort hielt ich inne und blieb stehen, um dann den Kopf in den Nacken zu legen und zu ihm hochschauen zu können. "Und warum folgt Ihr mir dann noch?"
"Ganz einfach." Der Wächter redete jedoch nicht weiter, sondern warf einen Blick über seine Schulter.
Ich folgte seinem Blick - und sah, wie Junis und Auris sich noch kein Bisschen von ihrem Fleck gerührt hatten. Sie standen beide dort im Halbdunkeln, ihre schwarzen Umhänge, die die trainierten Schultern betonten, wehten leicht im nächsten Windhauch und bauschten sich wie zarte nachtschwarze Flügel hinter ihren Rücken auf. Ihre Blicke hatten sie fest auf uns gerichtet - nein, nicht auf uns.
Auf mich.
Während sich nun Junis langsam abwandte, harrte Auris wie ein starker Fels in der Brandung aus und beobachtete mich lediglich weiterhin aufmerksam.
Ich konnte sein Misstrauen bis zu mir spüren, so groß war es.
"Niemand traut Euch hier - und Ihr solltet Euch hüten, auch nur eine Sekunde jemanden von uns zu vertrauen."
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