Kapitel 32
[Gebrochene Spiegel]
~Selbst das stärkste Glas, bricht unter genügend Druck~
Icarus stellte sich mit einem Glas in der Hand zu den anderen und sah hinauf zu dem Redepotest, auf dem Charon stand, bereit seine Rede zu halten. Der Grund weshalb er diese Gala überhaupt in Gang gebracht hatte.
Sie waren noch immer im Krieg und mussten die Untätigkeit der Arena nutzen, die dank dem Ausbruch der roten Hand erfolgt war und der neuen Ordnung somit eine Chance gaben, sich auf das letzte Gefecht vorzubereiten.
Sie hatten nun alles, was sie brauchten.
Das Gesicht der neuen Ordnung: Seoras Caibre.
Das Gehirn: Casmiel Tripe.
Die Fäuste: Icarus Tripe.
Und das Herz: Juno Lovett.
Es war perfekt. Alles lief nach Plan und auch wenn Icarus in der Vergangenheit nicht wirklich gut auf Perfektion zu sprechen gewesen war, gefiel es ihr in diesem Moment.
Sie war nun keine Gefangene der Arena mehr. Sie war nicht mehr auf sich allein gestellt.
Sie war bei Charon, ihrem Onkel, der es immer irgendwie schaffte, die Perfektion zu erreichen, auch wenn jeder ihr gesagt hatte, das Perfektion nur eine Illusion war.
Doch Icarus verstand es nun endlich.
Nur weil etwas nicht Vollkommen war, bedeutete es nicht, das man die Perfektion nicht schon erreicht hatte.
Wäre Kalea hier, dann wäre Icarus wunschlos glücklich. Erst dann wäre alles so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber man konnte niemals vollkommen glücklich sein, da man sonst wieder alles verlieren musste. Wenn man wollte, dass eine Sache funktionierte, musste man auf etwas anderes verzichten und genau das tat Icarus, indem sie auf Kalea verzichtete.
Ein Preis, von dem sie hoffte, das er es wert war.
Er hatte noch immer Zweifel, ob es die richtige Wahl war, seine Liebe loszulassen nur um anderen ein schönes Leben zu schenken, aber er durfte nicht an sich selbst denken. Dort draußen waren Kinder mit besonderen Kräften.
Kinder, die Großes schaffen können.
Kinder, die die Welt verändern werden und die Zukunft prägen.
Nur weil sie keines dieser Kinder war, bedeutete es nicht, dass sie keine schöne Zukunft verdient hatten. Eine Zukunft, die Icarus nie hatte, weil sie es scheinbar niemals wert gewesen war, für sue zu kämpfen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht.
Aber das war okay. Icarus würde nicht zulassen, dass ein anderes Kind dieselben Dinge erleben musste, die sie erlebt hatte.
„Wie schön, dass wir uns hier versammeln konnten, um uns den Sieg zu sichern," begann Charon seine Rede mit einem charmanten Lächeln im Gesicht. Die Menschen waren verstummt, alle Augen und Ohren waren auf ihn gerichtet und auch Icarus lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Mann.
„Es ist nicht leicht, sich in dieser schweren Zeit sicher zu fühlen. Krieg, Tod, Verlust. All diese Dinge verfolgen uns im Moment und es scheint kein Entrinnen zu geben. Und es ist wahr. Wir können dem Krieg nicht entkommen. Er ist ein Teil dieses Lebens, ob wir es wollen oder nicht. Genauso wie die Geburt, gehört der Tod zu diesem ewigen Kreislauf, den wir seit Generationen durchleben. Aber das ist gut so. Denn wir Menschen wissen, wie wir uns verbessern, um solche Dinge schneller in den Griff zu bekommen."
Er legte eine Kunstpause ein und schien frei zu sprechen. Er hatte keine Zettel in den Händen, nichts auf seine Hand geschrieben und seine Augen dauernd auf die Leute vor sich gerichtet, die ihn mit selbstsicheren Gesichtern beobachteten.
Manche schienen ihn zu analysieren, versuchten hinter dieses perfekte Bild zu gelangen und eine Lüge zwischen all den Worten, die über seine Lippen flossen, zu finden. Doch es war vergebens. Denn Charon war besser, als all diese Nebendarsteller, die zu seinem Kampf nur Stimmen holen sollte.
Icarus wusste inzwischen, dass Charon Tripe ein verschlossenes Buch war, das man nicht einfach öffnen und lesen konnte. Es war versiegelt, zu schön, um das Siegel zu brechen und zu stark.
Schön, wie der Einband eines Buches und doch so aufschlussreich, wie die Wörter dahinter, obwohl man noch nicht einmal eine einzige Seite aufgeschlagen hatte.
„Wir entwickeln uns. Es ist unmöglich, die Evolution zu stoppen, auch wenn manche Menschen denken, sie wären mächtig genug, um dagegen anzukämpfen. Sie müssen schnell feststellen, dass dies nur Wunschdenken ist. Man kann die Natur nicht bezwingen und es ist auch nicht möglich. Wenn man Angst, vor der Veränderung hat, kann man sich nicht bessern. Wenn man nicht an sich selbst und der Umwelt arbeitet, wird man niemals erfahren, welche Perfektion wir Menschen erreichen können. Genau deshalb will ich, Charon Tripe, etwas ändern. Die Arena ist der Grund, weshalb die Evolution stehen geblieben ist. Sie haben einen Stein in dieses Zahnrad gerammt und wir werden dabei helfen, alles wieder in Gang zu bringen"
Durch seine ausschweifende Gestik zeigte er noch einmal bildlich, was er von sich gab und Icarus konnte sich nicht helfen, als sein Blick auf dem Mann stehen blieb. Es war unmöglich, ihm nicht all seine Aufmerksamkeit zu schenken.
„Viele halten Phoenixe für Gefahren. Diese neuen Mächte machen ihnen Angst. Doch es gibt keinen Grund dafür. Phoenixe sind Menschen, wie ich oder du," auch wenn er niemanden spezifisch meinte, fühlte sich Icarus direkt angesprochen.
„In uns allen fließt dasselbe Blut. Wir alle haben dieselben Gedanken und Einfälle, doch anstatt uns zusammenzutun, eine Union zu bilden und somit eine bessere Welt zu erschaffen, stellen wir uns gegen diese neue Generation und versuchen sie auszulöschen. Nur wegen unserer Angst, vor dem Unbekannten, schließen wir uns selbst ein und verhindern damit unsere eigene Entwicklung ins Bessere. Wir dürfen Neues nicht fürchten, wir müssen es akzeptieren und es nutzen. Die Phoenixe sind mächtig. Sie könnten unser Leben vereinfachen und das nur, weil ihr Genmaterial eine zusätzliche Komponente enthält, die ihnen Kräfte außerhalb unserer Vorstellungskraft schenkt! Mein Sohn, Casmiel, ist im Alleingang aus der Arena, einem Hochsicherheitsgefängnis für Menschen mit Kräften, entkommen. Und das nicht nur einmal. Er hat die Mauern drei Mal bezwungen und der Welt somit gezeigt, wie viel wir noch nicht wissen!"
Casmiel war bei seiner Erwähnung neben seinen Vater getreten und sah nun auf die Leute hinab.
Er sah die begeisterten und inspirierten Blicke der Menschen, die im Bann seines Vaters standen und zu ihm hinaufsahen, als wäre er der Messias, ein Gott. Sie sahen ihn an, wie man Casmiel angesehen hatte, wenn er seine Pläne und somit seine Genialität zur Schau gestellt hatte.
Alles nur Masken.
Casmiel war nicht genial, er war nicht intelligent oder besonders weise. Er war nur gezwungen gewesen, zu überleben. Wenn Menschen um ihr Leben kämpften, zeigten sie plötzlich die stärksten Waffen, die in ihnen schon lange schlummerten, sich aber nie gezeigt hatten.
Und Casmiel hatte gelernt, was er tun musste, um sich sein Leben zu sichern.
Er musste allen etwas vorspielen. Sei es eine simple Emotion, ein einfaches Lächeln, oder herausragende Genialität. Ob eine falsche Träne, oder ein kalter Blick.
Irgendwann war es keine Herausforderung mehr, sein Leben als eine Lüge zu leben.
Alles war gut gewesen. Er hatte überlebt.
Glücklich sein hatte schon lange nicht mehr zu den Dingen gezählt, die er erhofft hatte. Cas war schon mit einem ruhigen Tag zufrieden, an dem er nicht um sein oder das Leben anderer fürchten musste. Sein Niveau war wirklich auf das Minimum gesunken, doch er hatte sich nie darüber beschwert.
Doch dann war Theseus in sein Leben getreten.
Er konnte den Mann nicht lieben, wie er es verdiente. Er konnte seine Gefühle zwar manipulieren, doch sein Wissen nicht einfach löschen.
Theseus war plötzlich da gewesen, hatte ihn fast schon hasserfüllt angesehen, weil er nicht der perfekte Prinz in strahlender Rüstung gewesen war, den Theseus erhofft hatte.
Und obwohl Casmiel Theseus nie wirklich als etwas besonderes gesehen hatte, war er jetzt einer der Gründe, weshalb Casmiel noch immer nicht aufgab.
Er hatte genügend Gründe. Sein Leben war nicht besonders schön gewesen. Er sprang von einem Desaster zum nächsten und sie ließen ihn niemals alleine.
Aber wenn Casmiel bei Theseus gewesen war, hatte er Ruhe verspürt.
Sei es mitten in einem Kampf oder am Rande eines Sees.
Jede Situation, in der Theseus ihm nahe gewesen war, hatte sich in Casmiels Gedächtnis eingebrannt, wie die Nummer, die auf seinem Nacken stand.
Doch jetzt fühlte er sich ihm ferner als je zuvor.
Er wollte so vieles loswerden.
Sich entschuldigen, sich erklären, sich...
Er wollte einfach nur seine Nähe spüren, seine schwirrenden Gedanken ignorieren können und endlich wieder Ruhe empfangen. Er wollte nur wieder ein ehrliches Lächeln auf seinen Lippen tragen.
Casmiel Tripe bereute vieles in seinem Leben, aber am meisten bereute er es, Theseus verlassen zu haben.
Manchmal waren Seelenverwandte nicht in einer romantischen Beziehung bestimmt.
Manchmal waren sie Geschwister, Freunde, Rivalen. Seelenverwandte konnte vieles sein, auch wenn sie oft als eine Romanze dargestellt werden.
Theseus und Casmiel sind seelenverwandt. Sie besitzen eine Seele, die sich geteilt hat und verschiedene Körper einnahm. Sie sind nur vollkommen, wenn sie zusammen sind und werden sich niemals ganz fühlen, sollten sie einander nicht nahestehen.
Casmiel selbst hat eine Klippe zwischen ihre Seelen gerissen und somit die leere in seinem Herzen vergrößert.
Vielleicht war er nicht in der Lage zu lieben, doch sehr wohl in der Lage zu fühlen.
„Eigentlich ist es wirklich schade" meldete sich eine Stimme scheinbar neben ihm und Casmiel schien zu erfrieren. Er hatte diese Stimme so lange nicht mehr gehört.
„Ich wette, wäre das hier ein Buch, hättet ihr viele Shipper."
Dolores. Ihre kleine Gestalt stand neben ihm und beobachtete seinen Vater, der noch immer seine Rede schwang. Cas hatte nicht einmal bemerkt, dass er weiter redete und den Leuten seine Pläne erzählte.
„Glaubst du, wir werden geshippt? Ich hoffe nicht. Ich meine, ja, wir hatten mal was. Aber damals waren wir dreizehn und ich lebendig, wenn ich mal anmerken darf" redete das Mädchen weiter, als wäre sie nicht lange Zeit verschwunden gewesen.
„Ich denken nicht, dass wir Ship-Material wären. Du siehst schließlich noch immer aus wie dreizehn und ich bin inzwischen älter geworden" antwortete Casmiel in seinen Gedanken.
Er wusste inzwischen, wie er überspielen konnte, dass er Dolores vor sich sah und mit ihr sprach. Schließlich wollte er nicht als wahnsinnig gelten, das schaffte er schon ohne mit einer Halluzination zu sprechen.
„Guter Punkt, Cassy. Guter Punkt. Aber vergessen wir das. Ich habe noch wichtige Dinge hier zu erledigen und mein Terminkalender ist sowieso schon voll" meinte Dolores nur mit falscher Ernsthaftigkeit und Casmiel konnte sich gerade noch so davon abhalten, amüsiert zu schnauben.
„Dolores. Du bist tot. Dein Terminkalender ist schon lange leer" erinnerte er die Halluzination nur an ihren weniger angenehmen Status und Dolores zuckte nur gleichgültig mit den schmalen Schultern.
„Das mag vielleicht sein, aber das bedeutet nicht, dass ich dir den ganzen Tag helfen muss, nicht den Verstand zu verlieren. Jedenfalls nicht mehr, als du ihn sowieso schon verloren hast" erwiderte sie nur schnippisch, doch kein Biss lag in ihrer melodischen Stimme, die Casmiel so vermisst hatte.
„Du wolltest etwas wichtiges besprechen, Dolores?" fragte Casmiel sie nur belustigt. Es war seltsam, wieder in seinem Kopf zu sein und mit einer Einbildung zu sprechen.
Seit Eirenes Tod hatte er sie nicht mehr gesehen oder gehört. Er hatte gedacht, alle hätten ihn alleine gelassen, sogar Dolores, die ihn schon vor Jahren verlassen hatte.
„Jup. Cassy, mein Lieber. Was machst du eigentlich?" fragte Dolores nur kopfschüttelnd und die Stimmung, die zuvor noch leicht und fröhlich gewesen war, wurde nun schwer und träge. Die plötzliche Veränderung drückte auch Casmiel zu Boden und kurz verlor er sein typisches, charmantes Lächeln, das er während der gesamten Rede nicht einmal abgesetzt hatte.
„Ich- ich weiß nicht, was du meinst, Dolores" antwortete er nur ernst und kurz. Er versuchte sich selbst davon zu überzeugen, musste jedoch schwer bei den Worten schlucken.
„Cas. Hör auf, dich selbst anzulügen. Wir beide wissen, dass du nicht noch mehr Lügen in deinem Leben gebrauchen kannst" erwiderte Dolores nur -war das Enttäuschung in ihrer Stimme?- und beschämt sah Casmiel zu Boden.
Er hörte nun wie die Leute klatschten und sein Vater die Rede beendet hatte.
Ohne weitere Umwege verließ er die Veranstaltung erneut und zog sich kurz zurück, mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen und der Entschuldigung, er würde sich schnell frisch machen.
Er ging nicht, ohne sich zuvor zu seinem Vater zu drehen und seine Bestätigung einzuholen, die er durch ein leichtes Nicken erhielt.
Dann ging er mit ruhigen Schritten aus dem großen Saal und in sein privates Zimmer, dass noch immer so aussah, wie vor 15 Jahren, als er es zum letzten Mal gesehen hatte.
Als hätte er gewusst, dass er zurückkommen würde.
„Dolores?" fragte Casmiel nur leise. Dieses Mal waren es nicht nur seine Gedanken, er sprach tatsächlich. Es war ihm egal, wie seltsam es war, alleine in einem Raum zu stehen und mit der Luft zu sprechen, er hatte Dolores so vermisst. Ihre non-existente Wärme, die ihre bloße Anwesenheit in seinem Herz auslöste, nur weil er sich verstanden fühlte.
Und zugleich fühlte es sich seltsam an. Er fragte sich, ob er endlich den Verstand verloren hatte, da er noch immer, nach all den Jahren eine Halluzination als seine einzige Stütze im Leben sah, aber er ließ diese Gedanken genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen waren.
„Bin ich-" er schluchzte und bemerkte die Tränen, die sich ihren Weg über seine Wangen bahnten.
„Bin ich kaputt?" fragte er sie nur und seine Maske brach, Risse bildeten sich auf dem perfekten Porzellan und zogen tiefe Furchen in sein Gesicht. Das Lächeln war von seinen Lippen gewischt worden, als er den Saal verlassen hatte. Seine Augen hatten ihr falsches Leuchten verloren und waren nun wieder stählern und leer, als würde etwas in ihnen fehlen.
„Vielleicht" war Dolores einfache Antwort und er konnte schwören, er konnte ihre Hände auf seinen Wangen fühlen, als sie sein Gesicht nahm um ihn besser betrachten zu können.
Ein sanftes Lächeln zierte ihre schmalen Lippen, ihre dunkelbraunen Augen waren so warm, so wohltuend. Wie die heiße Schokolade, die sie manchmal getrunken hatten, als Cas noch den Widerstand angeführt hatte und seine schlaflosen Nächte am Lagerfeuer verbracht hatte.
„Aber kein Mensch, kein Lebewesen ist ganz. Niemand ist vollkommen. Wir alle sind nur zerbrochenes Glas, irgendwie zusammengepfercht um einen funktionierenden Menschen zu erstellen, dessen Aufgabe es ist, seine fehlenden Teile zu finden. Niemand bleibt unberührt von den Händen der Welt, die dich zerreißen und niemand wird jemals ganz sein" erklärte sie ihm leicht, als würde sie ihm nur heiter von ihrem Tag erzählen, wie sie es früher immer getan hatte.
Früher, als sie noch lebendig gewesen war, das Licht in seiner dunklen Welt und seine Flucht aus den Zwängen seines Vaters. Damals, als er so alleine gewesen war, bis sie in sein Leben getrampelt war und ihm gezeigt hatte, wie Leben eigentlich sein sollte.
Damals, als all seine Probleme in diesen Momenten fern geblieben waren.
„Jeder Mensch ist gebrochen, Casmiel. Manche sind nur besser darin es zu verstecken" wisperte sie sanft, bevor Casmiel auf seine Knie fiel und sich selbst umarmte. Die Tränen flossen nun unaufhaltsam und er konnte das Schluchzen nicht unterdrücken.
Normalerweise war er besser darin, seine gebrochene Seite zu verstecken.
Aber selbst die schärfsten Splitter werden mit der Zeit stumpf.
Selbst das stärkste Glas, bricht unter genügend Druck.
Selbst Casmiel Tripe ist nicht vollkommen.
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