Kapitel 27
[Psychologie für Anfänger]
~Besser gesagt: Aspen ist nicht ganz so okay~
Noch nie war Liope Casmiel ähnlicher gewesen.
Ein wirklich seltsamer Fakt, da er gerade einen Weg suchte, wie er Casmiel am besten umbringen und zuvor noch traumatisieren könnte, bevor er sterben würde, weil er Aspen angegriffen hatte.
Dunkle Augenringe waren unter seinen überwiegend orangen Augen zu finden, seine schwarzen Locken standen wild zu allen Seiten ab und er hatte tagelang nicht mehr geduscht oder sich in irgendeiner Weise gewaschen.
Er schlief nur, wenn es absolut von Nöten war und hatte sich in seinen Korb zurückgezogen, der sich in ein Lager von Ideen und kreativen Plänen verwandelt hatte. Pläne, um Casmiel Tripe zu zerstören.
Er ignorierte die Weissagung, in der er als wichtiger Punkt erwähnt wurde. Er ignorierte Theseus' Versuche ihn zu beruhigen und von seinem Ziel abzubringen und er ignorierte Aspen, die ihm sagte, das er das alles nicht tun müsse. Aber seine Rage war einfach zu groß.
Nur wegen Casmiel Tripe hatte sich seine Schwester verändert. Ihr Lächeln war zu einem seltenen Anblick geworden und ihre Augen hatten einen Großteil ihres alten Leuchtens verloren. Das einst so intensive grasgrün war verblasst, das feuerartige Orange nur mehr ein mildes braun und violette Ringe hatten sich unter ihnen gebildet. Liope konnte manchmal ihre Schreie hören, wenn sie mitten in der Nacht wegen eines Alptraumes aufwachte und er fühlte sich schrecklich, weil er wusste, das seine Anwesenheit sie nur verunsichern würde.
Aspen fühlte sich sowieso schon schwach und nutzlos, weil sie diesen Tag nicht loslassen konnte.
Die Geschwister hatten schon so viel erlebt, doch ein solch ernsthaftes Trauma hatten sie von keiner ihrer Missionen zurückgenommen.
Auch Liope wachte meist schweißgebadet auf. Getrocknete Tränen schmückten seine Wangen, wenn er aufschreckte und sich gezwungen fühlte, nach Aspen zu sehen, da er sie schon wieder blutüberströmt gesehen hatte. Dieses Mal war ihr Herzschlag jedoch nicht mehr aktiv gewesen, ihre Brust hatte sich nicht mehr gehoben und das Blut, das ihren Körper geschmückt hatte, war von ihren eigenen Wunden gewesen.
Liope war kein Experte, was Traumen anging. Schließlich hatte er keines (eine Lüge), sondern gab es anderen, indem er ihre Familien tötete, Häuser anzündete oder andere Dinge tat, die zum Job eines Assassinen eben gehörten. Aber Milany hatte, bevor er durch den Frost sein gewöhnliches Leben aufgeben musste, Psychologie studieren wollen (eine neue Information, die Liope nie erfragt hatte) und kannte dadurch die Anzeichen eines schweren Traumas, möglicherweise sogar etwas noch schlimmeren, doch Milany wollte sich dazu nicht weiter äußern.
Sobald er sie Liope nebenbei erklärt hatte, waren auch ihm die Zeichen aufgefallen, die Aspen nun vorwies. Und es gefiel Liope nicht.
Casmiel musste büßen für das, was er seiner kleinen Schwester angetan hatte. Niemand durfte sie in eine solch lebensbedrohliche Situation bringen außer er selbst, auch kein Mensch, der als Legende bekannt war. Titel waren ihm egal. Er wollte Rache.
Liope hatte sich verändert. Das hatte Aspen bemerkt, obwohl sie gerade nicht sie selbst war.
Er wirkte viel erwachsener als zuvor, fast schon verantwortungsbewusst. Zwar hatte er sich zurückgezogen um seine dämlichen Rachegelüste zu planen, aber er baute keine dummen Streiche ein, wie einen Glückskeks auf die Leiterin der Arena zu werfen. Im Gegenteil. Er lehnte solche Kleinigkeiten ab und konzentrierte sich vollkommen auf sein Ziel.
Theseus hatte zuerst noch versucht, ihn irgendwie wieder zu integrieren und mit ihm zusammenzuarbeiten, doch er hatte abgelehnt mit dem Einwand, das Theseus es sowieso niemals schaffen würde, Casmiel zu töten.
Theseus hatte seit diesem Tag nicht mehr mit Liope gesprochen.
Auch Aspen verlor langsam den Draht zu Theseus. Etwas stand zwischen ihnen. Etwas, das sie nicht verstand. Aber sie bemerkte seine Blicke, in denen immer ein dezenter Anteil an Schuld schwebte, als würde er gerne mit ihr sprechen, sich aber nicht dazu überwinden können.
Asperia vermisste ihn sehr. Er war in ihrer Reichweite und doch so weit entfernt. Was auch immer zwischen ihnen stand, ließ die Luft dicker werden, sobald sie zusammen in einem Raum waren. Die Blicke huschten zwischen ihnen hin und her, Liope starrte Theseus erwartungsvoll an und stellte sich manchmal unbewusst vor Aspen, als müsste er sie vor ihrem besten Freund beschützen.
Naja, Ex-Besten-Freund, wenn Aspen die Zeichen richtig las. Vielleicht hatte Theseus endlich bemerkt, dass sie ein Monster war und sie nur Pech und Unglück über den Widerstand brachte.
Vielleicht war ihm jetzt auch aufgefallen, dass Aspen nutzlos war, wenn sie nicht ihre volle Stärke besaß.
Was auch immer es war, Aspen war es gewohnt, von allen verlassen zu werden.
Sie hatte gegen Casmiel gekämpft, damit der Widerstand, ihre Familie, zusammenhalten würde. Sie hatte alles getan um ihn zu retten, um Theseus zu retten. Aber niemand sah ihre Bemühungen. Niemand schien sich um die Zukunft des Widerstandes zu kümmern.
Auch wenn ihre Bemühungen geschätzt werden würden, wäre es sowieso nur Zeitverschwendung. Sie hatte endlich erkannt, dass sie nicht stark genug war, um etwas auszurichten. Sie war nicht Casmiel Tripe und würde es niemals sein. Sie würde niemals eine wichtige Rolle in diesem Krieg spielen.
Manche hatten sie schon verlassen, nutzten die Chance auf ein besseres Leben und ließen Amerika zurück. Sie zogen in ein anderes Land, meist Europa und begannen dort ein neues Leben in Frieden. Sie waren frei, Casmiel hatte die rote Hand aufgelöst und obwohl Theseus versuchte, alles zusammenzuhalten, bestand der Widerstand nur mehr aus denjenigen, die keinen anderen Ort hatten, zu dem sie gehen könnten.
Manchmal wurde es Aspen zu viel, wenn sie über diese Dinge nachdachte.
Sie sah dabei zu, wie ihre Familie auseinanderbrach und es tat Aspen weh, obwohl der Widerstand sie als eine Spionin und Verräterin abgestempelt hatte. Manche sahen sie noch immer misstrauisch an, wenn sie ein Gespräch mit Milany oder Liope führte. Aber das war okay.
Schließlich erwartete Aspen von ihnen nicht dieselbe Zuneigung, die sie für sie empfand. Sie war es gewohnt, niemals zurück geliebt zu werden.
„Was machst du hier, ganz alleine?" fragte eine sanfte Stimme hinter ihr und Aspen zuckte zusammen, ihre Hand glitt schon zu ihrem Messer, das sie in ihrem Gürtel trug.
Doch als sie die Stimme erkannt hatte, legte sie ihre Hand langsam wieder auf ihren vorherigen Platz, auf ihrem Oberschenkel.
Sie saß alleine auf der Wiese, wie sie es in letzter Zeit oft tat, obwohl der freie Platz sie nervös machte. Aspen konnte es nicht leiden, wenn Leute hinter ihr waren oder sie voraus gehen musste. Jeden Moment rechnete sie damit, von hinten erstochen zu werden. Dabei war es egal, wie sehr sie dieser Person auch vertraute, das beklemmende Gefühl kam immer wieder in ihre Kehle zurück.
Seit dem Ausbruch war sie noch sensibler und ängstlicher geworden, obwohl sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wie gestresst sie von solch unnötigen Dingen war.
„Alcyone. Dasselbe könnte ich dich fragen" erwiderte sie nur, ohne zurück zu sehen.
Aspen wusste genau, was sie sehen würde. Die absolute Perfektion in Person, die nicht einmal Casmiel erreichen konnte.
„Touché, Salem. Touché" antwortete Alcyone nur amüsiert und sie setzte sich neben Aspen hin ins frische Gras, das schon etwas welkte.
Aspen warf einen Blick auf die Frau neben sich und wünschte sich, sie hätte es nicht getan.
Wie immer sah Alcyone einfach unfassbar aus, auch in Zeiten eines Krieges während man das von Aspen nicht wirklich behaupten konnte.
Sie hatte ihre eigene Schönheit an sich, doch würde man diese niemals erkennen, wenn man nicht genau hinsehen würde. Dafür war Aspens Gestalt einfach zu angsteinflößend.
Nicht wegen ihrer Ausstrahlung, oder ihrer Erscheinung, sondern weil sie so furchtbar ungesund und erschöpft aussah, dass man sich sorgen machen musste, ob sie nicht jeden Moment in Ohnmacht fallen würde und Menschen übernahmen nur selten die Verantwortung.
Vor allem jetzt, da sie ein neues Trauma auf ihrer Liste zu verzeichnen hatte, sah sie schrecklich aus. Ihre schwarzen Haare waren noch immer so wild und lockig wie eh und je, doch graue Härchen hatten sich in den ansonsten schwarzen Locken verirrt und ließen Aspen älter erscheinen, als sie tatsächlich war.
Ihre Haut war fahler als sonst, auch wenn man es nur schwer erkennen konnte, durch die dunklere Hautfarbe, auf der man nun aber frische Narben entdecken konnte. Der Schnitt, der von ihrer Wange bis über ihren Hals gelaufen war, war nun beinahe vollkommen verheilt, würde jedoch ein ewiges Mahl auf ihrem Gesicht hinterlassen. Die Narbe, die beinahe ihr Auge erreichte, würde sie auf ewig an diesen Tag erinnern. Sie hatten zwar keinen direkten Heiler in ihren Reihen, jedoch hatten ein paar Reisende des goldenen Rades ihnen Medikamente zurückgelassen, die sie bekommen hatten, als sie in eine Apotheke eingebrochen waren (anders bekamen Phoenixe keine Medikamente, außer sie waren noch unentdeckt).
Dunkle Augenringe, die die von Casmiel Tripe im Frost-Zustand schlagen könnten, zierten ihre orange-grünen Augen, die ihr altes Leuchten verloren hatten und entweder vollkommen still in die Ferne starrten, oder nervös den Raum inspizierten. Etwas anderes schien es nicht mehr zu geben.
Aspen war auch dünner geworden. Sie hatte schon immer eine eher zarte Körperform mit wenigen Kurven, als würde sie nur aus Haut und Knochen bestehen, doch jetzt nahmen auch ihre harterarbeiteten Muskeln ab, da sie sich nicht dazu überwinden konnte, zu trainieren. Es war zu viel für ihren derzeitigen Zustand, ob körperlich oder psychisch wusste sie selbst nicht ganz.
Alcyone aber war perfekt.
Ihre Haare waren in einen hohen Dutt gebunden, aus dem ein paar Strähnen fielen und ihr rundliches Gesicht einrahmten. Die dunkelbraunen Strähnen hatten einen honigfarbenen Schimmer, wenn die Sonne direkt darauf schien.
Ihre himmelblauen Augen waren sanft und keine Augenringe untermalten sie, im Gegensatz zu Aspens, die schrecklicher nicht sein könnten.
Ihre Figur war einfach perfekt. Sie war nicht direkt schlank, hatte genügend Fleisch an den Rippen und beachtliche Kurven. Aspen wünschte sich ihre Figur, damit sie vielleicht einmal in den Spiegel sehen und sich auch danach noch wie sich selbst fühlen konnte.
„Nein, aber ernsthaft. Was machst du hier, ganz allein, während drinnen gerade geplant und nachgedacht wird? Naja, wenn man das depressive herumsitzen überhaupt so nennen kann" fragte Alcyone erneut, als ein paar Minuten der Stille vergangen waren.
„Keine Ahnung. Versuchen mit allem klar zu kommen? Ich...ich weiß nicht, ob es mir wirklich wieder gut geht" antwortete sie nur beschämt, ihren Blick gen Boden gerichtet. Sie erwartete Schreie oder noch schlimmer- Gelächter. Vermutlich würde Alcyone ihr nur sagen, was sie bereits wusste. Schließlich wäre Aspen nutzlos für den Widerstand, wenn sie nicht stark genug war, um dieses dumme Erlebnis zu vergessen.
„Wer hat gesagt, dass du okay sein musst? Ich bezweifle, das es Liope war und wenn doch, dann lernt er meine Faust erneut kennen" antwortete sie nur locker und Aspen sah sie verwirrt an.
Alcyone war nicht wütend oder enttäuscht. Sie tat so, als wäre es vollkommen normal, schwach zu sein.
„Nein, du verstehst das nicht. Ein Assassin darf von sowas nicht einfach außer Gefecht gesetzt werden. Man muss wieder aufstehen und weitermachen. So habe ich das früher auch gemacht, ich habe schlimmeres als das hier erlebt und dennoch..." sie beendete diesen Satz nicht. Allein die Erinnerungen daran, lösten einen Kloß in ihrem Rachen aus uns hielten sie von tiefen Atemzügen ab.
Nun war es Alcyone, die verwirrt war.
„Hast du schon einmal was von PTSD gehört? Kurz für posttraumatische Belastungsstörung. Es gibt Fälle, bei denen das Opfer sein gesamtes Leben lang misshandelt wurde und ein scheinbar einfacher Autounfall hat sie so stark traumatisiert, dass sie nicht mehr sprechen konnten. Es geht nicht darum, wie schlimm dein Erlebnis war, es hat noch immer etwas in deinem Gehirn verändert und das ist okay. Nicht unbedingt gut, aber auf jeden Fall okay. Egal ob Assassin, Massenmörder oder gewöhnlicher Mensch." Erklärte die Frau ihr nur und Aspen wandte sich wieder ab.
„Was- was genau ist PTSD?" fragte sie nur unsicher. Natürlich hatte Aspen davon gehört, aber sich nicht wirklich damit befasst. Schließlich hatte es keinen Grund gegeben es zu lernen in ihrer Ausbildung.
„Ich bin selbst kein Experte, also kann ich dir keine Diagnose geben. Aber ich weiß ein bisschen was darüber. Ein Freund von mir war Psychologie-Student. Er war ein kommunikativer Lerntyp, also hat er mir alles was er wissen musste im Detail erklärt" sie lachte leicht bei dieser unschuldigen Erinnerung an die Zeit bevor sie in diesen Krieg geworfen worden war.
„Es gibt ein paar Symptome, die ich mir gemerkt habe. Also, man hat Flashbacks und erinnert sich an die Erlebnisse plötzlich -man träumt beispielsweise davon. Manchmal erinnert sich auch nur dein Muskelgedächtnis daran und führt Bewegungen von damals als Ticks aus, also Zusammenzucken uns sowas in der Art. Uh...dann gibt es auch noch körperliche Dinge. Schwitzen, dir wird schlecht, plötzliche Beschwerden obwohl es dir körperlich eigentlich gut gehen sollte, etcetera etcetera. Äh- was gab es da noch?" sie überlegte kurz und nach einigen Sekunden schien ihr wieder einzufallen, was sie gesucht hatte.
„Man ist aufmerksamer und paranoid. Außerdem fällt einem Vertrauen schwer. Man kann auch noch Dinge entwickeln wie eine Angststörung oder Depressionen. Insomnie, Paranoia und so weiter. Das gesamte Paket eben. Aber wie gesagt, ich bin selbst kein Profi. Das sind alles nur Dinge, die ich irgendwann mal gehört habe, aber vertraue lieber nicht darauf," erklärte Alcyone nur schulterzuckend und Aspen nickte stumm.
„Findest du nicht, dass das alles auf Cassy zutrifft?" fragte Asperia die andere Frau nur leise, ihre Gedanken waren im Moment sehr verwirrend, da sie alle Menschen durchgingen, die genannte Symptome aufwiesen.
„Keine Ahnung. Ich habe Tripe nie kennengelernt. Nur Geschichten gehört. Aber ich habe mich schon immer eine Sache gefragt," Aspen richtete ihren Blick gespannt auf die Frau neben sich und wartete auf ihre Enthüllung.
„Was muss geschehen, um einen Menschen wie Casmiel Tripe zu erschaffen? Welche Fehler muss Gott gemacht haben, um einen Menschen zu einem solchen Monster zu machen?" fragte Alcyone sie nur und Aspen sah wieder in die Ferne, die Worte in ihrem Kopf wiederholend.
Was musste geschehen, um ein solches Monster zu erschaffen?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro