Verdacht (6)
Torochew lehnte sich gegen die Rücklehne der Parkbank. Im Licht der künstlichen Sonne streckte er die Beine aus, die in den letzten Stunden beim Rumlaufen sicher um zwei Zentimeter geschrumpft waren. Er blinzelte müde, fuhr sich mit der Hand durch die verschwitzen Haare und seufzte. Dann fluchte er. "Bei der verdammten Spitze der Zitadelle!" Das war für die Aufnahmefunktion des ComNets bestimmt. "Wie realistisch ist es, dass sich hier alle mögen?"
Er war immer noch von den Datenbanken abgeschnitten und machte sich lokale Notizen für später. Wenn ihm schon niemanden antwortete, redete er eben mit sich selbst. Thomas hatte sich für eine wichtige Aufgabe entschuldigt, nachdem er ihn knappe zwei Stunden durch das Gelände von Omega geschleppt und seine Zeit nach all seinen Möglichkeiten verplempert hatte.
Als er endlich die Leute befragen konnte, mit denen Groenwald und Tamachi am engsten zusammengearbeitet hatten, war das genauso unbefriedigend. Langweilige Routine. Keine Ergebnisse. Keine ungewöhnlichen sozialen Spannungen. Nichts, aber auch absolut gar nichts, bei dem der Lügendetektor angesprungen wäre. Es war gruselig. So wie es aussah, arbeiteten sie harmonisch zusammen. So ... so wie eine Ameisenkolonie. Voller Ameisen mit Superhirnen, die in ihren geheimen Kammern unvorstellbare Geräte austüftelten. Und das alles in ihrer Freizeit, wenn die eigentliche Arbeit erledigt war. Es blieb sogar noch Zeit für Vergnügungen. Thomas, Groenwald und einige andere zogen gemeinsam durch die Bars der Zitadellenstadt. Danach zwei Stunden in den heimischen Regenerationstank und es ging wieder zur Arbeit. Wer nichts von Omega wusste, würde nicht ahnen, was sie hier wirklich taten.
Hatte Groenwald auf diesen Streifzügen jemanden verärgert, und der hatte seinem Wechsel auf die letzte neue Existenzebene nachgeholfen? Nur, wo war dann der Zusammenhang mit den anderen Opfern?
Ein Schatten legte sich auf Torochews Gesicht und ein kalter Windhauch strich über seine Nase. Er sah auf und betrachtete die Illusion einer Wolke. Eine Masse aus wallendem Grau und Schwarz, die sich bedrohlich vor die Sonne schob. Hoffentlich hatten sie auf dieser Etage bei ihrem Streben nach Realismus auf echten Regen verzichtet.
Ein dicker Tropfen schlug mit einem Klatschen knapp unter seinem rechten Auge auf, so laut, dass es eine sichtbare Schwingung in der grafischen Darstellung der Aufnahmefunktion hinterließ.
Was hatte er auch erwartet?
Bevor der Himmel seinen ganzen, nassen Zorn auf ihn entlud, beförderte er den Chip seines Borsalinos aus der Tasche und schütze seinen Kopf. Keinen Moment zu früh, bevor ein Kugelhagel flüssiger Geschosse auf ihn nieder ging. Er zog den Hut tiefer und stellte den Kragen auf. Runter von der Bank und ab unter den nächstbesten Türrahmen, der zurück in die geheimnisvollen Gänge von Omega führten. Zurück zur Arbeit. Das Wetter musste eine Reaktion auf seine missmutige Laune sein. Vielleicht auch die Strafe dafür. Oder – und diesen Gedanken hielt er für am wahrscheinlichsten – irgendjemandem in dieser Gemeinschaft gefiel es nicht, dass er sich auf einer ihrer Bänke ausruhte. Verdammt! Warum konnte es nicht einfach sein? Omega war so vielversprechend gewesen und jetzt doch nur eine falsche Fährte? Irgendwas war hier faul, keine Frage, nur den Mörder würde er hier nicht finden.
Die Tür öffnete sich nicht. Ein gelbes Warnschild prangte hämisch darauf. "Betreten verboten!", brummte Torochew. Das war nicht die erste Tür dieser Art, die er heute gesehen hatte. Viele Türen waren während seines Rundgangs verschlossen geblieben. Hatten nicht auf seinen ID-Chip reagiert und auch nicht auf Thomas'. Gab es auch Dinge, die den Mitgliedern Omegas verborgen blieben? Und die Kinder ... sie waren Thomas nicht aufgefallen. Aber Torochew hatte sie sich nicht nur eingebildet. Wie um sich selbst zu überzeugen, spielte er die Aufnahme seines Optikimplantats jetzt zum inzwischen hundertsten Mal ab. Die Kinder, ihr Gelächter, alles war da. Hatte Thomas sich nur einen Spaß mit ihm erlaubt? Sollte er in Halls Auftrag am Ende dafür sorgen, dass er das Gelände als Verrückter verließ? Torochew lachte. Er war ja eigentlich nicht er der Verschwörungstheoretiker seiner Abteilung.
Er drehte sich um, presste sich mit dem Rücken gegen die verschlossene Tür, um dem Regen zu entkommen, der die Verfolgung kur vor seinen Stiefelspitzen aufgab. Torochew grinste. Ein Schemen huschte durch den Regen auf ihn zu und sein Grinsen verschwand. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er kniff die Augen zusammen. Der Regen war jetzt so dicht, dass er durch den Schleier nur Umrisse erkennen konnte, selbst mit dem Implantat. Sie waren nicht besonders groß. Wieder ein Kind?
Es blieb vor der Bank stehen, stemmte die Arme in die Seiten und starrte sie an. Als erwartete es, dass irgendjemand dort saß. Hatte Hall es geschickt, um ihn zu holen?
"Hey!", rief Torochew in das Rauschen des Regens hinaus. "Suchst du mich?"
Das Kind reagierte nicht. Unberührt von Torochews Ruf oder dem Wetter. Er musste wohl noch lauter rufen, damit er das Prasseln übertönte. Oder wieder hinaus laufen ... nein, lieber nicht. Also füllte er seine Lungen mit so viel Luft, wie er nur hinein bekam.
"Hallo-o!"
Jetzt sah es sich um. Einmal nach rechts, nach links in Torochews Richtung, dann wieder auf die Bank. Hatte das immer noch nicht gereicht? Natürlich hatte er Betty ausgerechnet jetzt nicht an seiner Seite. Der hätte der Regen genauso wenig ausgemacht, wie das Aufstehen mitten in der Nacht. Ein Flüstern von ihm, und sie hätte mit ihren Lautsprechern die Wände zum Beben gebracht.
Plötzlich setzte sich die kleine Gestalt in Bewegung – in die falsche Richtung. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich erneut in das künstliche Unwetter zu werfen. Mit einem Fluch für die Programmierer der Wettersimulation stapfte er ihr hinterher. Schon auf halbem Weg bereute er diese Entscheidung. Obwohl er den Mantel inzwischen mehrfach modifiziert hatte und er Schutz gegen alle erdenklichen Schrecken des Universums bot, fand etwas so vermeintlich Harmloses wie ein Regentropfen immer noch einen Weg zwischen Hutkrempe und Kragen hindurch. Es war wie ein Fluch. Es kribbelte, als sich die Feuchtigkeit bis unter den Körperpanzer ausbreitete, den er unter dem Mantel trug. Insgeheim wünschte er sich, dass der Wetterprogrammierer der Täter war. Das würde dem Fall zu einem zufriedenstellenden Abschluss verhelfen.
Der andere Ausgang aus dem Park tauchte auf, seine Tür schloss sich gerade. Der Sergeant beeilte sich, damit er das Kind nicht in den Gängen verlor. Im Trockenen angekommen nahm er den Hut ab, drückte den Knopf, damit er sich auflöste, und verteilte dabei einen Schwall Wasser auf dem Boden. Von seinem Mantel perlten dicke Tropfen ab und so ließ er nur eine kleine Insellandschaft trockenen Bodens hinter sich. Die Sauerei hatte sich Omega definitiv selbst zuzuschreiben.
"Bleib stehen!", rief er dem Kind hinterher. Den Haarschnitt erkannte er. Es war dasselbe Mädchen, das ihn vorhin angesehen hatte. Unbekümmert verschwand es am Ende des Ganges, wo er eine Biegung machte.
"Was solls", murmelte er in die unnatürliche Stille des Gangs hinein. "Ich habe ja Übung darin, Leuten hinterherzurennen." Unter dem Quietschen seiner feuchten Stiefel beschleunigte er seinen Schritt. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Er erreichte die Biegung, sah für einen kurzen Augenblick ihren Rücken, bevor sie erneut abbog. Er legte noch etwas zu, bis er wirklich rannte. Doch wieder: Kaum erreichte er die Stelle, an der er sie zuletzt gesehen hatte, da blitzte ihre Gestalt einen Moment auf, nur um dann hinter einer Abzweigung zu verschwinden.
Wie war das möglich? Rannte sie etwa, während er sie nicht sah? Spielte er unbewusst Fangen mit ihr? Er rief wieder nach ihr, doch statt seiner Stimme kam nur noch ein Krächzen aus seiner Kehle. Dann ließ er das jetzt. Sie reagierte ja sowieso nicht.
Ein weiteres Mal bog er um eine Kurve – und er triumphierte innerlich. Eine Tür am Ende des Gangs und sie stand wartend davor. Nur wenige Schritte trennten die beiden.
"Hab ich dich endlich eingeholt", sagte er mit dem Rest seines Atems. Er streckte den Arm aus, um sie festhalten zu können. Nur für den Fall, dass sie wieder versuchte, davonzulaufen. Gerade als er die Hand auf ihre Schulter legen wollte, trat sie einfach durch die verschlossene Tür. Als bestünde sie nur aus Luft. Verblüfft starrte Torochew die Stelle an. Das sah wie massives Niveum aus. Wie ...
Er trat näher heran, legte seine Finger auf die Tür. Vollkommen fest! Er tastete den Bereich ab. Drückte fester zu und scannte ihn mit seinem Optikimplantat. Es war genau, wonach es aussah. Torochew überlegte sich kurz, ob er mit Anlauf hindurch kam. Nein, nein, er würde sicher nichts so Lächerliches tun. Stattdessen kratzte er sich an der Stirn und klopfte an.
Nichts geschah.
Warum sollte sie ihm auch öffnen, wenn schon das Rufen nichts bewirkt hatte?
"Sergeant Torochew?", ertönte Thomas' Stimmer aus dem Gang hinter ihm und Torochew zuckte zusammen. "Haben Sie sich verlaufen?"
Sein lästiger Fremdenführer war wieder aufgetaucht. Sollte er den nach dem Mädchen fragen? Aber er glaubte ja selbst kaum, was er gesehen hatte. Vorher hatte Thomas angeblich auch schon keine Kinder gesehen, wieso sollte er ihm also jetzt glauben?
"Arbeitet Omega eigentlich auch an Technologien, mit denen man durch Wände gehen kann?", fragte er stattdessen.
"Wie kommen sie darauf, Sergeant?"
"Ich habe mich tatsächlich verlaufen und das wäre eine gute Erfindung, um aus diesem Labyrinth hinauszufinden." Er schob ein gespieltes Lachen hinterher.
"Das ist ein interessantes Gedankenspiel. Aber, wenn Sie Pech haben, stoßen sie dabei durch die Außenwand der Zitadelle. Bei einem Sturz aus dieser Höhe hätten sie wenigstens noch etwas Zeit, über den Unsinn so einer Erfindung nachzudenken."
"In der Tat." Torochew blieb höflich. Verbunden mit den Technologien, die sie jetzt schon im Sicherheitskorps einsetzten, wäre die Erfindung dennoch genial. Denn so langsam verspürte er den Wunsch, diesen merkwürdigen Ort zu verlassen, sich zu erholen und danach die Suche nach richtigen Anhaltspunkten fortzusetzen. "Ich bin hier fertig. Können Sie mir den Weg nach draußen zeigen?"
"Gerne." Das Lächeln des Mannes war eindeutig eine Spur zu ehrlich. "Folgen Sie mir bitte."
Torochew sah sich noch ein letztes Mal um. Irgendetwas störte ihn am Bild dieses Ganges. Was war es bloß? So schnell wie dieses Gefühl gekommen war, war es auch wieder weg und nach einem kurzen Zögern folgte er Thomas.
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