Verdacht (3)
Endlose Stufen, die einfach nicht enden wollten. Sie führten hinunter in die Tiefe. In ein Gebiet, dessen Grundrisse nicht in der Datenbank des Sicherheitskorps verzeichnet waren. Torochew folgte den Stufen, die sich im Schacht nach unten wanden, nun schon einige Minuten.
'Keine Verbindung zum Netzwerk', flackerte eine Warnung vor seinem Auge auf. Die Datenbank nutze ihm eh nichts, aber jetzt war er auch vom ComNet abgetrennt. War es leichtsinnig, dass er seiner Abteilung nicht Bescheid gegeben hatte? Sicher. Doch er musste Rufus Hall einholen. Das war der einzige Gedanke, der ihn antrieb. Bei der Spitze der Zitadelle, woher hätte er auch wissen sollen, dass er sich in einen stummen Bereich begab? Das Gebiet musste einer der Familie gehören, Kanter vielleicht – oder es war ein Geheimprojekt des Rates.
Würde schon gut gehen. Es war ja nicht so, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Die Abdeckung über der Treppe würde die nächste Zeit niemand mehr schließen können. Falls ihm etwas zustieß, würde ein Suchteam seinen letzten Standort orten können oder Bettys Position – falls sie nicht den Schrottis im Außenring zum Opfer fiel. Von dort aus hier hinab zu finden, sollte nicht schwer werden, selbst wenn in diesem Ring noch keine flächendeckende Überwachung installiert war. Die größte Sorge machte er sich tatsächlich um Betty. Die Schrottis verdienten ihren Lebensunterhalt ja eigentlich mit der Bergung antiker Technik aus den Ruinen außerhalb der Stadt. Wenn sie es aber mit der Stadtgrenze nicht so genau nahmen ...
Licht flackerte vor ihm auf, und die Nachtsicht des Implantats brauchte kurz, um die Helligkeit herunterzuregeln. Die Treppe war unbeleuchtet und Rufus Hall hatte eine Lichtquelle dabei. Gleich hatte er ihn eingeholt. Er sprang die Stufen schneller hinunter – und stolperte beinahe über einen Gegenstand am Boden. Aus dem Augenwinkel erkannte er einen Luminostab, der Licht speichern konnte und abgab, wenn man ihn schüttelte. Moderne Fackeln für die Außenwelt, in der es weniger Technik und noch weniger Energie gab. Lief der Mann blind weiter?
Der Luminostab flammte auf, viel heller als zuvor. Grell überstrahlte er alles, was das künstliche Auge wahrnahm. Es sprang zwischen zu hell und zu dunkel hin und her und Torochew musste es schließen. Nur seinem biologischen Gegenstück war es zu verdanken, dass er die Metallstange bemerkte, bevor sie ihn in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit befördern konnte. Mit einer fließenden Abwehrbewegung lenkte er den Schlag ab und die Stange traf stattdessen die Wand, an der sie funkensprühend entlang schrammte. Am anderen Ende der Stange: Ein erstaunter Rufus Hall, der sich vom verlotterten Untergangsprediger zum Geschäftsmann gewandelt hatte. Das Dunkelblau seines Anzuges hob sich kaum vom Schwarz des Treppenabganges hinter ihm ab, die grauen Nadelstreifen zitterten im Schein des Lichtes – genau wie sein Gesicht. Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er sich der Mündung Torochews Waffe gegenüber sah.
"Sicherheitskorps! Keine Bewegung!"
Vor Schreck ließ Hall die Stange fallen. Mit der Spitze traf sie auf einer Stufe auf, prallte ab, fiel hinab in die Tiefe. Der helle Klang bei jedem weiteren Aufprall ließ darauf schließen, dass es in Wirklichkeit ein Rohr war. Das hohle, rollende Geräusch am Ende kündigte den Boden an, der nicht mehr weit entfernt war. Dann hellte sich die Miene des Mannes plötzlich auf, ganz untypisch für Gauner, wenn sie den Namen seines Arbeitgebers hörten. "Sicherheitskorps? Und ich dachte schon, ein Attentäter hätte es auf mich abgesehen."
"Kein Grund zum Entspannen. Bei dem Mist, den Sie draußen verzapfen, kommt vielleicht wirklich noch einer."
Die Augen des Geschäftsmannes hoben sich, während er seine Hände an seiner Anzugshose abwischte. Angstschweiß, wie das Optikimplantat feststellte.
"Mist? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprechen, Captain ..."
Ha! Bis zu diesem Rang hatte er noch einen Weg vor sich, falls er solange überlebte. "Sergeant. Sergeant Torochew. Plumpe Schmeicheleien und unschuldiges Getue sind zwecklos."
Halls Gesicht verzog sich. Die Augenbrauen wanderten nach unten und sein Blick sprang unstetig zwischen der Waffe und seinem Besitzer hin und her.
"Herr Hall, gerade eben haben Sie noch den Untergang des Abendlandes prophezeit und zum Aufstand aufgewiegelt."
Der Mund seines Gegenübers öffnete sich einen Spalt. Hall wollte sicher etwas entgegnen, doch Torochew ließ ihm keine Zeit dazu. "Ja, ich weiß, was sie sagen möchten. 'Das muss eine Verwechslung sein. Sehe ich aus, wie eine Vogelscheuche, die seit einem Jahrzehnt kein MedCenter oder keine Druckluftdusche von innen gesehen hat?' Natürlich nicht. Aber selbst wenn Sie das Ende der Technologie predigen, sollten Sie doch wissen, dass der ID-Scanner nie lügt."
"Anwalt?", brachte Hall in der kurzen Pause hervor, die Torochew brauchte, um seine Lungen mit neuer Luft zu füllen.
"Bei der Zitadelle! Warum fragen Sie gleich nach einem Anwalt? Sind Sie Darsteller in einem schlechten Voreiszeit-Krimi? Wenn ich das richtig sehe, befinden wir uns hier nicht einmal in der Zitadellenstadt und damit außerhalb der Macht aller Anwälte der Welt."
Rufus Hall entspannte sich, als er entgegnete: "Sollte der Zuständigkeitsbereich des Sicherheitskorps dann nicht auch am Eingang zu dieser Treppe enden?"
"Das tut er. Wenn diese Zone einer Familie gehören würde, bräuchte ich einen Ratsbeschluss, um Sie hier zu verhören. Wenn das offiziell wäre. So wie ich das sehe, würde mich kein anderer Sik dafür verfolgen, wenn ich gleich den Abzug drücke."
Der Mann wurde bleich – soweit Torochew das im Schein des Luminostab erkennen konnte.
Torochew setzte ein breites Grinsen auf. "Oh, und ich drücke heute wirklich gerne ab."
"Aber sie haben es noch nicht getan, weil ...?"
"Weil Sie mir dann natürlich nicht mehr antworten können. Mann, wo ist nur ihre Rhetorik geblieben?"
Rufus Hall zuckte mit den Schultern. "Die ist beim Anblick ihrer Waffe geflüchtet. Falls Sie mich nicht erschießen wollen, Sergeant Torochew, könnten Sie bitte auf etwas anderes zielen? Diese Ungewissheit, ob ich die nächsten Minuten sterben werde, bringt mich sonst noch um."
Torochew lächelte schwach über diesen Witz und senkte seine Waffe. Nun zeigte sie nur noch auf Halls Oberschenkel, statt auf sein Gesicht. Kein Problem für ein MedCenter, falls er versehentlich doch noch die Kontrolle über den Finger am Abzug verlor – und Hall die Treppe hinauf nicht verblutete.
"Was wollen Sie überhaupt? Selbstverständlich bin ich im Besitz einer Redegenehmigung des Rates. Alles legal. Und nur, weil ich meine Ansprache in einer Verkleidung abgehalten habe, sollte ich doch gegen kein Gesetz verstoßen haben. Oder doch?"
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Rat auch den Inhalt dieser Ansprache genehmigt hat. Wenigstens nicht, wenn sich der Beamte die Mühe gemacht hätte, einen Blick darauf zu werfen."
Hall hob die Arme und entgegnete mit feierlicher Stimme: "Die Wege des bürokratischen Apparates sind unergründlich, Sergeant Torochew."
Was für ein Clown. Vielleicht würde er ihn doch noch erschießen. "Ich bin sicher, dass ich diese Wege sehr gut nachverfolgen könnte, wenn ich wollte." Torochew schwenkte seine NH32 auf das andere Bein und Hall zuckte zusammen. Dann ließ er die Waffe um seinen Finger kreisen und steckte sie elegant zurück ins Holster. "Aber um ehrlich zu sein, bin ich nicht wegen Ihrer Rede hinter Ihnen her."
"Nein?"
"Nein."
Wieder entspannte Hall sich und seine Hände wanderten ein weiteres Mal zur Hose, die durch den abgewischten Schweiß bereits eine Nuance dunkler geworden war.
"Nein, es geht lediglich um ... Mord."
Halls Bewegungen erstarrten. Seinem Gesicht konnte man auch ohne Implantat ablesen, unter welchen Höllenqualen er leiden musste. Wenn Torochew sich nicht beherrschte, erlitt der Mann am Ende noch einen Herzinfarkt und würde ihm ohne Antwort wegsterben. Falls er denn Antworten erhielt, wollte er natürlich auch etwas mit ihnen anfangen können. Deswegen gab er dem Luminostab einen Tritt und schickte ihm dem Eisenrohr hinterher. Es wurde wieder dunkel, außer für sein Implantat. Nun würde auch der Lügendetektor anspringen.
"Sagt ihnen der Name Groenwald etwas? Oder Tamachi?"
Halls Augen weiteten sich um eine Winzigkeit. Das reichte. Er kannte die Namen.
"Sie kennen sie", stellte der Sergeant fest.
"Ich habe noch gar nicht geantwortet", entgegnete Hall irritiert. "Es stimmt also. Euch Siks bleibt nichts verborgen."
"In der Tat. Sie können eigentlich sofort auspacken."
"Auspacken?"
"Stellen Sie sich nicht dumm! Ich will wissen, was Sie mit dem Tod der beiden zu tun haben."
Halls Augen weiteten sich noch mehr. Entsetzen. Das wäre ihm auch ohne Lügendetektor nicht entgangen. Bei der Zitadelle! Wenn sich seine Augen noch mehr weiteten, würden sie aus den Höhlen fallen."Die beiden sind tot? Wie das?" Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, von denen die ersten fast sofort nach ihrem Auftreten unter der Last ihres Gewichts kullernd den Weg hinab über seine Wangen nahmen. Er wischte sie mit seinem Ärmel ab, der bald genauso fleckig, wie seine Hosenbeine sein würde.
"Tamachi ist bei der Arbeit an einem Stromschlag gestorben und Groenwald in einen Aufzugsschacht gestürzt. Beides Unfälle – so sah es zumindest aus. Versagen der Zitadellentechnologie."
"Aber es waren keine?"
"Nein, sonst hätte ich mir kaum die Mühe gemacht, ihnen bis hier hinterherzurennen."
"Okay. Was habe ich damit zu tun? Werde ich etwa verdächtig?"
Auch wenn sich Rufus Hall nun Mühe gab, unschuldig und unwissend zu wirken, jede einzelne Körperreaktion verriet ihn. Gesteigerter Puls, Anstieg der Körpertemperatur, Schweiß. Das leichte Zittern seiner Finger. Jetzt musste er nur noch das richtige Stichwort geben, dann würde der Mann zusammenbrechen und alles gestehen.
"Omega."
"Omega?" Seine Körperreaktionen normalisierten sich ein Stück. Ehrliche Verwirrung. "Wenn es darum geht, kommen doch noch hunderte andere in Frage, die sie verdächtigen könnten. Warum ausgerechnet mich? Mal abgesehen davon, dass die beiden hoch angesehen waren."
Nun war es Torochew, über den die Verwirrung herfiel. Das war irgendwie nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Hall sprach so von Omega, als sollte es ihm bekannt sein, als wüsste jeder in der Zitadelle davon. Waren die Leute am Ende doch nur Teil einer Studentenvereinigung? Ehemalige? Und die Weltuntergangspredigten waren nur eine Art Werbung, die der Sergeant nicht verstand? Aber er hatte keine Lust mehr, herumzuraten. "Ich habe keine Ahnung, was Omega ist! Klären Sie mich auf, verdammt! Wenn Sie kooperativ sind, wird sich das auf ein späteres Urteil positiv auswirken."
"Urteil? Ich habe doch nichts getan. Wollen Sie den wahren Täter erwischen oder brauchen Sie für Ihren Fall einfach nur einen Sündenbock?"
Diese Frage warf ein trauriges, aber nur allzu wahres Licht auf das Sicherheitskorps.
"Den wahren Täter," brummte er.
"Dann will ich Ihnen helfen, soweit ich kann. Auch ich bin daran interessiert, dass der Mörder dieser Männer bestraft wird."
"Freunde von Ihnen?"
Hall schüttelte traurig den Kopf. "Nein, Sie waren mehr. Sie waren meine Brüder."
"Brüder? Biologisch? Das ist kaum möglich, bei den ethnischen Hintergründen der beiden."
"Nein, keine Brüder im Blute, eher im Geiste."
"Waren das auch so Spinner? Endzeitprediger?"
"Sie mögen vielleicht nicht viel von meiner Berufung halten, doch Sie ist wichtig." Hall lächelte trocken. "Aber nein. Die beiden gingen nicht auf die Straßen, um die Menschen vor ihrem Untergang zu bewahren, oder ihnen von ihrer nahenden Freiheit zu berichten. Die Aufgaben, die jeder von uns trägt, sind vielfältig."
"Und ihr seid wer?"
"Der Omega-Kult." Erkannte Hall das riesige Fragezeichen in seinem Gesicht? So ganz ohne eigenes Implantat?
"Sie scheinen nicht viel in der Oberwelt herumzukommen. In den Medienkanälen müssen Sie doch schon von uns gehört haben."
"Ich stehe mehr so auf Klassiker der Voreiszeit. Die hat kaum ein Kanal im Programm."
"Sich von der Verblendung durch die Medienkanäle abzuwenden, ist ein weiser Entschluss. Sie sind ein interessanter Mann, Sergeant Torochew. Ich will nachsichtig sein und vergessen, dass Sie gerade noch eine Waffe auf mich gerichtet haben." Hall wollte noch etwas hinzufügen, doch er stockte. Stattdessen schüttelte er energisch den Kopf, sah dabei aber an Torochew vorbei. Das galt jemand anderem.
Eine Hand legte sich mit festem Griff auf Torochews Schulter.
"Eine falsche Bewegung, und ich brech dir deine Knochen, du Zwerg", raunte ihm eine Stimme ins Ohr.
Verdammt! Das war einer der Gorillas, der, der ihm bereits gezeigt hatte, dass er den Körperkontakt nicht scheute.
"Der Sergeant ist mein Gast. Verzichtet bitte auf das Knochenbrechen." Dann wandte er sich wieder Torochew zu. "Bitte folgen Sie mir. Ich werde Ihnen zeigen, was der Omega-Kult ist. Und wer etwas über Groenwald und Tamachi wissen könnte."
Das hörte sich verdammt so an, als würde er nun doch Zeugen befragen müssen. Die Arbeit, vor der er sich drücken wollte, in der Hoffnung, schneller ans Ziel zu kommen. Aber er konnte sich nicht beschweren. Das war immerhin auch Teil seines Jobs – auch wenn er manchmal lieber erst schoss und dann Fragen stellte.
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