Verdacht (2)
Der Schnee unter Torochews Füßen knirschte und sein Atem zog in einer grauen Wolke durch die eisige Winterluft, als er auf die Versammlung zuging. Um die Heizröhren hatten sich kleine Gruppen versammelt. Eine freundliche Spende der Ring-Administration, die die Menschen in einen sonderbaren Rhythmus versetzte. Ihre Hände wanderten darauf zu, um sie zu wärmen, nur um einige Sekunden später wieder ruckartig weggezogen zu werden, damit die Haut nicht von den Knochen gebrannt wurde. Die verdammten Dinger waren antik, eine Gefahr für alle und sollten eigentlich schleunigst ihren Weg zurück in den Kreislauf finden. Doch die Menschen hier nahmen, was sie konnten und der Tanz zwischen Erfrierung und Verbrennung hielt sie nicht davon ab, gebannt den Parolen eines einzelnen Mannes zu lauschen.
Rufus Hall zu finden, hatte sich schließlich leichter erwiesen als gedacht. Zumindest seine Vogelscheuchenversion. Torochew hatte gerade den Maßnahmenkatalog zu seiner Ortung aufgestellt, da tauchte er aus dem Nichts auf dem Radar auf – mitten in dieser verwahrlosten Volksmenge im äußersten Ring. Nun musste sich Torochew nur noch zusammenreißen, damit er keine volle Ladung seiner NH32 auf die Kiste abgab, die sich der Mann als Bühne auserkoren hatte. Selbst wenn er mit seinen Aussagen inhaltlich nicht weit neben der Wahrheit lag, die Menge durfte er trotzdem nicht gegen die Zitadelle aufwiegeln. Aber seinem ersten Impuls nachzugeben und ihn sofort festzunehmen, hätte den Redner zum Märtyrer gemacht und das Publikum in seiner Haltung bestärkt. Das Opfer eines fanatischen Lynchmobs zu werden, das war wirklich das Letzte, das er heute gebrauchen konnte. Deswegen gesellte er sich unter die Zuhörer und wurde eins mit dem potenziellen Feind. Äußerlich stimmte er in ihre Sprechgesänge ein, innerlich verachtete er sie und wartete geduldig, bis die Ansprache beendet war.
"Nieder mit der Zitadelle!", rief einer aus der Menge.
"Nieder mit ihrer teuflischen Technologie!", antwortete ein anderer.
"Auf zur Administration!"
Die angestachelte Menge machte sich bereit, ein Stück Zitadelleneigentum zu verwüsten. Das lies ihn im Moment kalt. Mit Händen und Füßen konnten sie nichts ausrichten. Selbst Knüppel und Metallstangen, mit denen ein paar von ihnen bewaffnet waren, würden an den schweren Niveumtüren nicht den kleinsten Kratzer hinterlassen. Wenn die Administration einen kühlen Kopf bewahrte, würde sie warten, bis der Mob müde wurden und keinen Grund sehen, die Siks zu rufen.
Rufus Hall kletterte währenddessen von seinem Podest. Das Chaos war angerichtet und er konnte wieder in einer dunklen Gasse verschwinden. Nur diesmal würde er nicht weit kommen. Torochew zog den Kragen zurecht, stellte das Optikimplantat auf Verfolgungsmodus und drückte sich höflich aber bestimmt an den anderen vorbei. Als ahnten sie, dass der Sergeant es auf ihr Idol abgesehen hatte, stellten sich zwei der Fans in seinen Weg und bremsten seinen Vorstoß.
"Geht mir aus dem Weg!"
"Der Boss möchte nicht gestört werden."
Verborgen durch seine Hutkrempe sah der Sergeant die Gesichter der beiden nicht, nur ihre muskulösen Oberkörper, die durch die hautengen Synthetikshirts durchschienen. Dass so ein Straßenprediger zwei Gorillas als Bodyguards hatte, passte einfach nicht. Nur, wenn er in Wirklichkeit der Boss eines Familienzweiges war. Was die Kanter-Gruppe für ein Interesse an einem Aufstand der Armen hatte, war eine viel wichtigere Frage. Um die zu klären und ihre Verstrickung in die Todesfälle, musste er an den beiden vorbei.
"Jungs, geht mir aus dem Weg, sonst muss ich euch wehtun."
"Oh, der Zwerg hat Mut."
Torochew sah nicht, wer von den beiden sprach, machte sich auch nicht die Mühe, den Blick zu heben. Der Zwerg machte ihm nichts aus. Es war ja nicht so, dass er klein war, die beiden waren einfach nur verdammt groß. Leider sah er so auch nicht den Schlag, der auf ihn niedersauste. Der Borsalino wurde von seinem Kopf katapultiert, bevor die Faust knackend mit seiner linken Gesichtshälfte kollidierte. Der Gorilla hatte Wangenknochen und Zähne erwischt. Sergeant Torochew ließ sich zurückfallen, so entging er wenigstens der Kopfnuss, die dem Schlag folgte. Auf dem Weg zum Boden strich er sich prüfend mit der Zunge über die Eckzähne. Etwas locker – klasse.
Noch bevor er aufschlug, aktivierte sich der Gefechtsmodus des Optikimplantats. Der teilte die Körper seine Widersacher in Zonen ein. Wo lagen die Schwachstellen? Wie hoch war die Trefferwahrscheinlichkeit? Waren die entstehenden Verletzungen umkehrbar und welche Kosten entstanden dabei? Auf den letzten Punkt musste er besonders acht geben – zumindest wenn es nach der Rechtsabteilung des Sicherheitskorps ging. Er hatte die Gorillas nicht gewarnt, dass er ein Sik war. Wenn er sie gleich zerlegte, könnte Kanter also Klage einlegen – wie absurd das auch klang. Die Analyse ratterte eine Liste runter – er wurde kein geringer Aufwand betrieben, um die beiden von Straßenschlägern zu Kampfmaschinen aufzuwerten. Künstliche Muskelfasern, Niveum-Panzerplättchen an verwundbaren Stellen und gesteigertes Lungenvolumen, um nur die Top-3 der Verbesserungsliste zu nennen.
Verdammt! Egal, was er kaputtmachte, es würde teuer werden. Aber es half ja nichts. Torochews Waffe fand den Weg in seine Hand und er legte auf das linke Bein des Gorillas an, der ihm gerade eine verpasst hatte. Er biss die Zähne zusammen, sein Finger wanderte über den Abzug und die Reparaturkosten des anvisierten Körperteils blinkten warnend auf. Rote Schrift, schwarz umrandet. Im letzten Augenblick visierte er stattdessen den Boden zwischen ihm und den Schlägern an.
Das Explosivgeschoss schleuderte eine Fontäne aus Schnee, Betonstücken und Dreck in die Luft, bevor Torochew den Boden erreichte und nach rechts abrollte. Es war nicht seine Art, sich vor einen Kampf zu drücken – doch es würde gewaltigen Ärger bedeuten, wenn er unnötigerweise Menschen verletzte. Das galt leider nur für ihn. Die beiden würden ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, zu Brei verarbeiten. Nein, er musste ihnen entkommen und Rufus Hall einholen. Wenn alles nichts half, konnte er immer noch die Sik-Karte spielen und seinen Hals retten.
"Ah, verdammt!", fluchte er. Er hörte schon das Gelächter seiner Kollegen, wenn der Commander ihm eine Rüge erteilte. Irgendwie bereute er seinen Alleingang schon ein kleines Bisschen. Aber auch das half nichts. "Betty, gib mir einen Lageplan und Personenpositionen!"
Das Optikimplantat zeigte Rufus grün umrandete Umrisse, die sich entfernten, sowie rote Umrisse für seine beiden Leibwächter. Alle anderen Anwesenden wurden zu schwachen blaue Umrissen, dort wo Betty sie aus der Luft beobachtete. Sie hoben sich vom Grau des aufgewirbelten Schutts ab. Wegen ihm konnte hier auch ein Sandsturm wüten, so würde er sich immer noch orientieren können.
Torochew entdeckte eine Lücke zwischen den Gorillas und den anderen Zuhörern – seine Möglichkeit, zu fliehen. Er schwang sich auf die Beine und setzte zum Sprint an. Noch blieben die beiden Bodyguards stehen, drehten ihre Köpfe, suchten ihn in der Staubwolke. Gleich war er an ihnen vorbei.
Plötzlich drehten sich beide in seine Richtung. Seine Deckung war verflogen! Der eine breitete seine Arme aus, wollte sich ihm in den Weg stellen. Doch Torochew war zu schnell. Das motorische Gedächtnis seines Körpers funktionierte salbst nach der Tiefkühlkammer noch und er drehte sich unter ihm weg – wie damals beim Rugby. Er ließ die beiden hinter sich und sprintete durch die schmalen Gänge zwischen den Menschengruppen, dem grünen Umriss hinterher.
"Haltet den Mistkerl auf!", brüllte einer von ihnen. Seine Stimme ging im Grölen des Mobs unter und Torochew erreichte die Gasse, in der Rufus Hall gerade verschwunden war.
"Betty, Kraftfeld vor den Gasseneingang!"
"Sehr gerne, Sergeant Torochew."
Nun hatte er den Rücken frei. Zu schade, dass er die Gesichter der Gorillas nicht mehr sehen würde, wenn sie sich endlich durch die Menge gearbeitet hatten und erkennen mussten, dass ihre Mühe umsonst gewesen war. Aber damit seine sportliche Einlage nicht vergebens war, musste er sich beeilen. Rufus Hall hatte bereits einen Vorsprung von 107 Metern. Verschwand der Typ von der Bildfläche, bevor Torochew ihn eingeholt hatte, war jeder Meter zu viel.
Torochew schaltete den Gefechtsmodus ab und aktivierte das verbesserte Verfolger-Navi. Das zeigte ihm nicht nur die Strecke an, die sein Ziel benutzt hatte, sondern auch Abkürzungen, um ihm den Weg abzuschneiden. In dünnen grauen Linien wurde schemenhaft angedeutet, was sich in den letzten Sekunden hinter Wänden befand, Hindernisse wurden früher sichtbar und unterstützen Torochew in seiner Wegfindung. Er nahm Anlauf und kletterte einen Stapel Metallkisten hinauf, die eine Leiter zu einer Mauer bildeten. Das sah nach einer guten Idee aus und er fühlte sich wie der Action-Held einer der alten Filme – dann rutschte die oberste Kiste unter seinem Stiefel davon.
Adrenalin schoss durch seine Adern und Torochew stieß sich in Richtung Mauerkrone ab. Wenn er schon abstürzte, tat er es nicht ohne Gegenwehr! Der Schwung reichte aus, er bekam den Absatz zu fassen – beinahe. Seine Finger gruben sich nur in den Schnee, der darauf lag.
"Scheiße!", fluchte er und schickte einen Befehl hinterher: "Spikes!" Wenn er Glück hatte, schickte das Optikimplantat das richtige Bild an die angeschlossene Synthetikkleidung, andernfalls würde sie sich gleich aufblähen und er als gigantischer Kugelfisch die Mauer hinabrutschen.
Stacheln schossen aus den Handflächen seiner Handschuhe hervor und gruben sich knirschend in den Schnee, bohrten sich in das Mauerwerk darunter. Ohne Zeit zu vergeuden, wiederholte er die Anweisung für seine Stiefelspitzen, kletterte nach oben und schwang sich auf die andere Seite. Sein schwerer Mantel hob sich beim Sprung kaum merklich und zog ihn bei der Landung stattdessen unnachgiebig auf die Knie. Der Pulverschnee stob um ihn herum auf und Torochew hinterließ einen grauen Kreis gesäuberten Asphalts, bevor er mit schmerzenden Beinen weiter rannte.
'Kein Problem', dachte er sich unter zusammengebissenen Zähnen. Am Abend würde er kurz das MedCenter besuchen. Es hatte sich schließlich gelohnt – die Abkürzung hatte den Vorsprung auf 42 Meter verkürzt. Rufus Hall musste sich im Gegensatz zu ihm durch das chaotische Labyrinth dieses Rings kämpfen. Und er ahnte wohl, was auf ihn zukam, denn sein grüner Umriss rannte.
"Mist!" Seine Gorillas mussten ihn gewarnt haben.
Die nächste Mauer stellte sich dem Sergeant in den Weg und er entschloss sich kurzerhand, drastischere Methoden anzuwenden. Er streckte im Laufen die Waffe aus, feuerte ein Explosivgeschoss ab. Ein Hitzeschwall schlug ihm entgegen und er rannte mit der Schulter voraus durch das herabfallende Geröll. Ein kleiner Stein erwischte ihm am Kopf und er vermisste schmerzlich seinen Borsalino, der inzwischen sicher von den Massen plattgetrampelt worden war. Doch der Treffer war nicht ernst. Schlimmer war das Klingeln in seinen Ohren. Er hatte sich zu nah an der Explosion befunden. Dennoch grinste er. Das machte ihm definitiv mehr Spaß als der Besuch auf dem Schießstand.
Noch 17 Meter. Eine Ecke noch, dann hatte er Rufus Hall eingeholt. Torochew klopfte Stücke der Mauer von seinem Mantel, bog um die Ecke und ... stoppte – schwer atmend und irritiert.
Rufus Hall war weg. Der grüne Umriss verschwunden und seine Fußspuren im Schnee endeten mitten in der Gasse. Prüfend sah er nach oben, man konnte ja nie wissen. Der Himmel war klar und nur ein Schwarm Vögel zog in einem V gen Süden, nicht auf der Flucht vor ihm, sondern der unerwarteten Rückkehr des Winters. Mit dem nächsten Blick prüfte er den Boden.
Da!
Eine kaum wahrnehmbare Linie zog sich durch den Schnee, von einer Gassenwand zur anderen. Mit dem Stiefel trat er behutsam auf den Bereich hinter der Linie. Der Untergrund war fest, genauso, wie beim Rest der Gasse. Ein versteckter Eingang, der nach unten führte. Mit Sicherheit gab es einen versteckten Scanner – der ihn nicht hinein lies. Gut.
Torochew lächelte zufrieden und streckte seine Waffe ein weiteres Mal aus.
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