Verdacht (1)
Der nächste Treffer wirbelte eine Wolke aus Staub und Steinchen auf.
"Mist!" Sergeant Torochew kniff sein Auge zusammen, um die Zielscheibe mit dem Optikimplantat zu fokussieren. Nichts. Die schlechte Sicht zwang ihn, das Feuer einzustellen.
Von außen betrachtet stand er vollkommen ruhig da, seine NH32 wartend auf den Kopf des Ziels ausgerichtet. Wie ein Raubtier, das in seinem Versteck auf die erste Bewegung seines Opfers lauerte. Wenn man seinen Blick allerdings zum Schlachtfeld wandern ließ, das er am anderen Ende des Schießstandes angerichtet hatte, verflog dieser erste Schein so schnell wie der synthetische Geruch seines Frühmorgenkaffees.
Noch wurde das Ergebnis seiner Schießübung von einer wabernden grauen Wand verborgen, doch nach und nach nahmen die schemenhaft verzerrten Formen Gestalt an. Eine Landkarte der Zerstörung zog sich über die Rückwand. Links begonnen mit Einschusslöchern steigender Größe, bis ein komplettes Segment von zwei Metern Breite einfach fehlte, pulverisiert in feinen Staub, der sich über die gesamten Breite des Raums verteilte. Weiter rechts vereinte er sich mit den brodelnden Pfützen geschmolzenen Metalls und Plastiks zu einem grauen Matsch. Dort hatte Torochew in einem Inferno aus Flammen, Blitzen und Licht die volle Batterieladung seiner Waffe verschossen.
Das Schlimmste: Ihm ging es wie dem Staub – er war immer noch aufgewühlt.
Wäre das Gefühl der Befriedigung größer gewesen, wenn er etwas von Bedeutung zerstört hätte? Der Schießstand reparierte sich, sobald er den Raum verließ, würde einfach wie neu aussehen. Ja, hätte er etwas Wichtiges innerhalb der Zitadelle zerstört, würde er sicher mehr fühlen. Oder weniger – seine Waffe wäre er für die nächste Zeit los gewesen. Ein Dilemma. Es gab eine dritte Option, eine Schießübung in der Außenwelt. Die ging aber immer mit der Gefahr einher, von etwas gefressen zu werden, das nicht im Geringsten von seiner Schießwut beeindruckt zeigte.
Mit einem schweren Schlag rastete die Bunkertür hinter ihm ein.
Die Waffenausgabe passierte er, ohne den wachhabenden Offizier eines Blickes zu würdigen, und steuerte direkt auf die Umkleideräume zu. Er hatte keine Lust auf belanglose Konversation. Es gab nur eine einzige Person, mit der er reden wollte – und die schien unerreichbar. Retten konnten ihn in dem Fall nur noch weiterführende Hinweise, damit er sich wieder in die Arbeit stürzen konnte. Doch auch die ließen noch auf sich warten. Hatte sich die Kommunikationsabteilung nun endgültig gegen ihn verbündet, weil er eine Kollegin angeschnauzt hatte? Schon möglich, aber wenn er wie Max und Harold hinter allem eine Verschwörung vermutete, würde er sich bald nicht mehr vor die Tür trauen können.
Sein Spind von der Größe eines Schuhkartons öffnete sich automatisch, als er davor anhielt. Natürlich gab es heute keine Schuhkartons mehr. Schuhe wurden, genau wie das meiste andere, in Form kleiner Syntheseplättchen geliefert, eingehüllt in ein minimal größeres Plastiketui. Und genau das enthielt auch sein Spind. Verschiedene Schutzwesten, zu denen sich nun auch die komprimierte Version derer gesellte, die er vorschriftsgemäß während der Schießübung getragen hatte. Den größten Platz nahm die Ladestation der Waffe ein, in der seine NH32 zufrieden einrastete, bevor Torochew seine Kleidung wechselte. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis er wieder Mantel, Hut und seine, mit frischer Energie und Projektilplättchen beladene Waffe trug.
Das Einzige, das immer noch fehlte, war eine Meldung der Kommunikationsabteilung.
Er konnte eigentlich gerade wieder kehrtmachen und den Schießstand ein weiteres Mal zerlegen. Doch er würde sich zwingen, zuvor wenigstens einen Kaffee zu trinken. Sergeant Torochew setzte die grimmigste Miene seines Repertoires auf und zog seinen Borsalino etwas tiefer. So verbarg seine Krempe wenigstens die Gesichter der größeren Kollegen. Die Fäuste rammte er tief in die Taschen des Mantels und stapfte mürrisch durch die Tür zum Gang.
Den Blick starr gerade aus, auf den Nahrungssynth gerichtet. Der Weg war frei, keiner seiner Kollegen hielt ihn diesmal auf. Noch fünf Meter, dann zwei und schließlich stand er davor, die Hand ausgerichtet auf das Touchfeld. Er nutzte die Bedienung per Hand, weil das ein offensichtlicheres Zeichen war, was er vorhatte als die Gedankensteuerung. Das Schicksal verstand seinen Wink nicht – die erwartete Unterbrechung, kurz bevor sich sein Finger auf das Bedienfeld senkte, blieb aus. Kein Anruf mit den neuesten Informationen. Nun, dann würde er jetzt sein Getränk genießen.
Genuss? Von wegen! Eher würde er, dem Kaffee gleich, vor sich hin kochen.
Eigentlich gab es ja genug zu tun, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte. Etwa Groenwalds oder Tamachis Arbeitskollegen und Freunde befragen. Doch er wusste, dass genau, wenn er bis zum Hals in den Verhören steckte, die heiß ersehnte Information doch eintraf. Da er für die Befragung beim besten Willen keine Motivation aufbringen konnte, begab er sich selbst auf die Suche nach dem geheimnisvollen Omega. So konnte er immerhin behaupten, keine Zeit für diese lästigen Aufgaben gehabt zu haben.
Torochew erreichte sein kleines Büro und Blickkontakt zu seinem Medienpanel reichte aus, um es ohne spürbare Verzögerung zu starten. Er aktivierte Kraken, das Werkzeug des Sicherheitskorps zur Datensammlung und Analyse. Kraken fand einfach alles. Alle Personen, die in der Zitadelle geboren wurden und alles, das in ihr produziert wurde. Lebewesen und Dinge waren mit ID-Chips versehen. In den Datenbanken waren diese IDs mit sämtlichen erdenklichen Informationen verknüpft. Die Kunst war, die richtigen Filter zu setzen, um in der Flut der Informationen nicht zu ertrinken. Bei abstrakten Begriffen, wie dem Omega, konnte es noch schlimmer sein. Kraken lieferte erst alles Wissenswerte zu dem Begriff, dann direkte Verknüpfungen zu Personen und Orten. Von denen gingen weitere Verbindungen aus. Um es besonders unübersichtlich zu machen, hingen die meisten sogar selbst miteinander zusammen.
Das Ganze wurde optisch aufbereitet. Das Objekt der Suche in der Mitte und die Verknüpfungen gingen wie die Fangarme eines Kraken von ihm aus. Informationsknubbel, die Bilder oder Texte enthielten, befanden sich am Ende der Arme und warfen wiederum eigene Arme aus. Das wiederholte sich immer weiter, bis der Inhalt der Knubbel kaum noch Relevanz zum Suchobjekt hatte. Torochew zoomte aus dem dichten Informationsgeflecht heraus, um abschätzen zu können, wie viel es war und wie weit es sich verzweigte. Wie erwartet, sehr weit. Es war so schlimm, dass die Querverbindungen aus dem Netz irgendwann eine dichte Wand aus verwobenen Linien machte.
Die Masse an Informationen war in dieser Form unbrauchbar für ihn. Was davon würde er ausblenden? Da die Morde in jüngster Zeit geschehen waren, konnte Torochew wohl davon ausgehen, dass historische Fakten ignoriert werden konnten. Nicht, dass sie nicht interessant waren. Genau das war ja das Problem. Wenn er sie nicht ausblendete, würde er sich stundenlang an Anekdoten aus der Vergangenheit erfreuen und gar nicht merken, wie die Zeit verging. In diesen Kaninchenbau wollte er sicher nicht stolpern.
Das Bild änderte sich nach Aktivierung des Filters komplett. Mit den historischen Knubbeln waren auch alle der Naturwissenschaft und sämtliche Werke, Berechnungen und Diagramme verschwunden, in denen das Omega vorkam. Aus der dichten Wand, schälte sich nun ein aufgespannter Regenschirm heraus. Dicke, dunkle Hauptstränge, verbunden von einer helleren Fläche an Querverbindungen. Die einzelnen Knubbel enthielten nun statt Bildern oder Texten meist Filme, die in der Ferne um die Wette zuckten.
Einen dichten Strang bildeten Medienbeiträge von und über Studenten. Studentenvereinigungen mit griechischen Buchstabenkombinationen hatten das Eis überlebt und ein neues Zuhause in der Oberwelt gefunden. Ein Datenabgleich zwischen seinen Opfern und denen seiner Kollegen zeigte, dass keiner von ihnen eine der Universitäten der Oberwelt besucht hatte. Nicht einmal die gleichen Schulen. Die Videos der Studenten waren in der Regel zweifelhafter Natur und für einen Kollegen der Sitte in Oberwelt sicher interessanter. Bei der Spitze der Zitadelle, dachte denn keiner der jungen Erwachsenen daran, dass auf all den Aufnahmen ihre IDs sichtbar waren? Wahrscheinlich war es ihnen egal. Ihre Eltern waren mächtig und die Siks konnten ihnen eh nichts. Wenigstens nicht die Kollegen, die dort oben zuständig waren.
Mit der Entfernung der Studentenorgien blieb nur noch ein Bruchteil der Verknüpfungen übrig. Ebenfalls fast nur Videos. Die meisten zeigten Straßen, Plätze oder Parks der verschiedenen Etagen oder Stadtringe. Die Szenen waren mal mehr und mal weniger stark belebt. Doch eines hatten sie alle gemeinsam: In der Mitte jeder Aufnahme stand ein einzelner Mensch, der zu den Leuten sprach. Die Redner hatten untereinander keine Gemeinsamkeiten, sie passten ideal in die Schicht, die am jeweiligen Ort vorherrschte. Anzüge in den niedrigen Oberweltetagen, Standardsynthetik in der Unterwelt, knallige Jugendkleidung in einem Schulhof nahe der Spitze. Besonders ins Auge fiel ihm ein ungepflegter Kerl im äußersten Ring.
Die Haare waren so verfilzt, dass sie beinahe so aussahen, als trüge er eine Mütze. Die Nase war krumm und offensichtlich schon mehrmals gebrochen worden. Lücken und schwarze Zahnstumpen ließen Torochew unwillkürlich zusammenzucken, als der Redner den Mund öffnete. Schwarze und braune Fetzen dienten ihm als Kleidung, notdürftig mit Metallstücken zusammengetackert. Auf seiner Brust trug er ein Stück Plastik, auf das ein Omega gemalt war. Er gestikulierte wild und zeigte auf die Zitadelle im Hintergrund der Aufnahme.
Was erzählte er der Menschenmenge? Was brachte sie dazu, ihm trotz seiner abschreckenden Erscheinung zuzuhören? Er aktivierte den Audiokanal der Aufnahme.
"Glaubt ihr, die Affen dort oben werden sich mit ihren Ärschen bis in alle Ewigkeit auf eurer Arbeit ausruhen können? Glaubt ihr das wirklich?"
Einzelne verneinende Zwischenrufe bestätigten ihn.
"Jetzt erscheinen sie euch noch übermenschlich. Weil sie die Macht haben!" Seine Augen weiteten sich und er zeigte auf einen alten Mann, der sich zitternd auf einen Stock stützte. "Die Macht, dir dein Essen wegzunehmen!" Der ausgestreckte Arm wanderte suchend über die Menge zur rechten Seite des Redners. Als er den Rand schon fast erreicht hatte, wechselte er ruckartig die Richtung und richtete sich auf eine Frau, die zusammengesunken an der Wand des gegenüberliegenden Wohnkomplexes kauerte. "Die Macht, dir dein Zuhause zu nehmen!" Den anderen Arm schwang er über die gesamte Menge hinweg. "Oder euch allen die Medienkanäle abzustellen, euren einzigen Lichtblick am Ende eines trostlosen Tages."
Einige der Zuhörer blickten verlegen auf ihre Füße, andere nickten zustimmend.
"Das, was ihnen diese Macht gibt, ist die verdammte Technologie." Er hielt inne, um diese Erkenntnis in den Köpfen der Zuhörer sacken zu lassen. "Fragt ihr euch manchmal, was ihr dagegen tun könnt? Die Antwort ist einfach: Nichts! Doch ihr müsst auch nichts tun. Ihre Technologie ist dem Untergang geweiht. Und der Tag, an dem ihr frei sein werdet, ist nahe. Achtet auf die Zeichen! Haltet euch bereit. Wenn der Tag kommt, nehmt euch zurück, was euch gehört!"
Torochew ließ die Aufnahme wieder verstummen. Er hatte genug gehört. Es mochte vielleicht naiv aussehen, in einer Welt, in der alle von Maschinen umgeben waren, gleich die Verbindung von einem Redner, der über Technologie sprach, zu scheinbaren Fehlfunktionen zu ziehen. Doch im Moment reichte ihm diese Spur. Wenn die Kommunikationsabteilung noch andere fand, sollte ihm das recht sein, aber nun hatte er wieder etwas zu tun. Er filterte die ID des Redners aus dem Video heraus – und stockte.
Das Gesicht, das ihn von der Holoaufnahme seines Profils anlächelte, war makellos. Kein Dreck, keine Narben, blitzend weiße Zähne. Doch ansonsten passten die biometrischen Daten. Der Mann trug den Namen Rufus Hall und war Boss einer der neuen Technologiesparten der Kanter-Gruppe, einer der mächtigsten Familien der Oberwelt. Schwerpunkt: Antigravitation und Fortbewegung. Nach Öffnung der Zitadellentore brauchte man wieder Fortbewegungsmittel, die auch weite Strecken zurücklegen konnten. Da es keine Straßen mehr gab und die Natur die Erde zurückerobert hatte, wurde die Schwebertechnologie der Voreiszeit aus einer Kiste hervorgeholt und erneuert. Er selbst durfte bereits einen der Prototypen für die Sicherheitsabteilung fahren. Eine spannende Erfahrung.
Es war so schräg. Dieser Kontrast zwischen dem verwahrlosten Redner und dem makellosen Konzernler. Diesem Mann würde er definitiv einen Besuch abstatten.
Wenn er ihn fand. Denn aus irgendeinem Grund konnte seine Position in der Zitadelle nicht festgestellt werden.
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