Defekt (2)
Torochew umklammerte mit einer Hand den Rahmen der Aufzugstür und lehnte sich weit in den Schacht hinein.
Ein Schwall warmer, verbrauchter Lüfterluft hüllte ihn ein. Eine stechende Note frischen Eisens ließ ihn instinktiv den Atem anhalten. Blut. Viel Blut. Nichts Unbekanntes. Er atmete weiter. Neben dem Blut war da noch mehr. Misstöne jüngerer, ekligerer Körpergerüche. Sein Optikimplantat versuchte die Quelle des Gestanks zu fokussieren, die sich weit unter ihm befand, auf dem Dach der Kabine: Die Überreste von Leo Groenwald, die ihm den Sturz aus 73 Metern und 22 Zentimetern sichtlich übel genommen hatten.
Anders als sich Weisz vielleicht insgeheim gewünscht hatte, wurde ihm bei dem Anblick nicht schlecht – schließlich war er kein Rekrut mehr. Ja, da war ein laues Gefühl in seiner Magengegend, aber das sagte ihm nur, dass es sich auch diesmal um keinen Mord handeln könnte.
Groenwald war aus freien Stücken durch die Absperrung vor der defekten Aufzugstür einige Etagen weiter oben gebrochen. Er hatte einen Moment vor dem Abgrund gestanden, um sich zu sammeln, und sich dann ruhigen Schritts in den Tod gestürzt.
Eine Drohne des medizinischen Dienstes schwirrte an ihm vorbei, um die Beweismittel an den Wänden des Schachtes zu sichern, bevor der Aufzug mit dem Rest des Körpers gemächlich auf Torochew zuschwebte. Ein entsetztes, mehrstimmiges Raunen empfing Groenwald, als er das Licht von Etage U3 erblickte.
Verdammt! Hier befand er sich schon fast nicht mehr in der Unterwelt, das hatte er vergessen.
"Betty, schließ den Schirm komplett!"
Ein Gurgeln durchlief den roten Schirm und halbdurchsichtige Blasen trieben nach oben. Die Gesichter der neugierigen Bürger verschwanden enttäuscht hinter einer festen Wand gehärteten Synthesepuddings. Nun war er ungestört und konnte sich wieder seiner Arbeit widmen.
Als Erstes scannte er die Kommunikationsaufzeichnungen des Toten. Selbstmorde kamen überall vor. Groenwald stammte aus der Oberwelt, aber man musste kein armes Schwein aus der Unterwelt sein, um sich umbringen zu wollen. Es gab genug Gründe, nur waren sie anders, genauso wie die Art, wie die Menschen abtraten.
Das Ergebnis war enttäuschend – zumindest was Hinweise anging. Er war ein fröhlicher Mensch gewesen. Hätte am Abend ein Date gehabt und war vor seinem Tod eigentlich auf dem Weg ins MedCenter. Zum monatlichen Routine-Check?
Die Gesundheit wurde in der Oberwelt hochgehalten. Die Menschen waren eine aussterbende Rasse – wenn man den Pharmazweigen der Familien glaubte. Wertvolles Leben musste bewahrt werden. So wurden die Menschen dort gut und gerne 120 Jahre alt und waren körperlich und geistig meistens fit, bis sie ihr Ende erreichten. Erst dann zeigten sich Resistenzen gegen die andauernden Verjüngungskuren und das Ende kam schnell – und qualvoll. Die Sache mit den Schmerzen stand natürlich in den Behandlungsverträgen – in Schriftgröße 2 und Weiß auf Weiß. Die behandelnden Meds waren zur Verschwiegenheit verpflichtet und so erfuhr es kaum jemand. Doch Leute wie Torochew, die in ihrem Beruf mit allen Facetten des Todes in Berührung kamen, kannten auch solche Details.
Ha, aber hier gab es etwas, das vom Muster abwich! Groenwalds Grund für seinen Termin war ein anderer. Diagnostizierter Diabetes, zu dessen Heilung er sich vor seinem Tod auf den Weg gemacht hatte. Wenigstens war es das letzte Ziel, auf das er in der Navigationsdatenbank zugegriffen hatte.
Torochew fischte sich die Adresse des Mannes und sein Ziel aus der Datenbank und fütterte sein eigenes Navi damit. Das animierte Ladesymbol erschien, eine Zitadelle, hinter der die Sonne aufging. Erst blutrot flimmernd, dann orange und schließlich stand sie gelb am Himmel darüber. Das Symbol verschwand und machte der Route Platz.
Er ignorierte den Hinweis, dass er sich nicht an der Startposition befand und wechselte in die 3D-Ansicht, beginnend bei Groenwalds Wohnkomplex. Imaginär raste er von dort bis zur Aufzugsgruppe, wo der Mann schließlich seinen Tod fand. Die Daten waren aktuell, sogar die Absperrung eingezeichnet. Sein Navigationsprogramm wählte einen der funktionstüchtigen Aufzüge.
Nun, einen Versuch war es wert gewesen. Manche Menschen wandelten blind durch die Stadt. Wegfindung in der einen Ecke ihrer Datenbrille, ein Film füllte den Rest aus. Vor Kollisionen mit Mitbürgern wurde gewarnt oder sie wurden direkt aneinander vorbeinavigiert, je nach Qualität des Programms.
War Groenwalds Datenbrille defekt gewesen?
Ein Blick zu seinem eingedrückten Gesicht, auf dem immer noch Stücke der zerbrochenen Brille hingen. Neongrüner Linien rahmten die Fragmente ein, die Option für einen drahtlosen Fernzugriff blieb aus. Das wäre auch zu einfach gewesen.
Vielleicht funktionierte noch eine der anderen Schnittstellen. Er verzog die Mundwinkel und brummte. Dazu würde er sich die Hände schmutzig machen müssen. Er kniete sich zu dem Toten hinab und zwei weiße Röhrchen wuchsen aus dem Ärmel seines Mantels. Das Dickere der beiden zerlegte Groenwalds biologische Masse, die ihren Weg über die Schnittstellen der Datenbrille gefunden hatte, und speicherte sie. Das zweite, ein Datenkabel, verband sich anschließend mit der Brille.
Ha! Egal wie kaputt das Teil aussah, es befand sich immer noch im Betriebsmodus. Bevor sich das noch änderte, zog er eine komplette Kopie der Datenträger und der Momentanspeicher. Nun würde er sehen können, was die Brille einige Zeit vor dem Tode Groenwalds bis zu genau diesem Augenblick aufgezeichnet hatte.
Nun, er würde es sehen können, wenn diese Daten sinnvoll zusammengesetzt waren. Eines der Dinge, die er nicht beherrschte und die ihm auch das Implantat nicht abnehmen konnte. Ab damit zum Labor seiner Abteilung, damit irgendein Tek ihm ein vernünftiges Bewegungsprofil Groenwalds erstellte.
Jetzt fehlte nur eins, dann war er hier fertig. Eine Meldung an die Meds: neues Material für den Leichensaal. Er richtete seinen Blick auf Groenwalds Körper, um der Nachricht seine ID und eine Momentaufnahme seiner Biowerte beizufügen, da tauchte ein roter Warnhinweis auf. Einer der Biowerte lag selbst für einen Toten weit außerhalb der Norm liegen.
Der Blutzucker.
Torochew war kein Med, aber wenn der Mann Diabetes hatte, war es verständlich, das da irgendwas nicht stimmte. Noch eine Aufgabe für das Labor.
Es klopfte knisternd gegen den Absperrungsschirm.
"Sergeant, draußen stehen zwei Meds von der Hypothermieabteilung", kam Betty melodisch seiner Frage zuvor, wer denn bitte den Sinn einer Absperrung des Sicherheitskorps nicht verstanden hatte.
"Die lassen auch keine Möglichkeit aus, mich bei meiner Arbeit zu unterbrechen!", brummte Torochew. "Mach einen Eingang neben der Wand auf und schließ ihn hinter mir."
"Sehr gerne, Sergeant!"
Eine durchsichtige Ellipse fraß sich durch das Rot des Wackelpuddings. Erst faustgroß, wuchs die Öffnung so lange, bis Torochew keine Gefahr mehr lief, an der klebrigen Masse hängen zu bleiben. Er machte einen Satz hindurch, zog seinen Mantel glatt und rückte den Borsalino zurecht.
"Meine Herren."
Die Aufmerksamkeit der beiden Männer, die ihrer Statur nach genauso gut als Schläger der Familien durchgegangen wären, wanderte von der Oberfläche des Schirms zu ihm.
Schwarze Laborkittel, schwarze Stiefel mit Stahlkappen und Handschuhe, die genauso gefärbt waren. Sie mussten die gleichen, einfallslosen Designer haben, wie das Sicherheitskorps. Mit dem Gedanken rang er der bevorstehenden Auseinandersetzung wenigstens noch etwas Komisches ab. Zwischen ihnen schwebte eine Bahre, mit der sie Groenwald abtransportieren wollten.
"Darf ich die Herren darauf hinweisen, dass es sich hier um einen Tatort handelt?"
Med Nummer 1 sah ihn abschätzend an. Er hatte eine auffallend platte Nase, die offenbar schon einige Prügeleien hinter sich hatte. Über seiner Glatze flimmerten eine Unzahl von Holotätowierungen und buhlte um Torochews Aufmerksamkeit. "Tatort?", grunzte er und zog die Nase hoch. "So?"
Großartig. Wen hatte die Abteilung geschickt? Einfache Handlanger. Gerade noch dazu geeignet, Opfer abzuholen und in die Eismaschine zu stecken. Wenn die mal ausfallen sollte, gab es für einen Patienten keine Hoffnung mehr. Gut, dass wenigstens die Meds des Sicherheitskorps etwas von ihrer Arbeit verstanden.
Eine Holo-Schlange wand sich um den Schädel, sauste nach vorne und zischte Torochew garstig an. So nahm es sein biologisches Auge wahr. Das Optikimplantat sah lediglich die winzigen Medienpanels, die in der Haut verankert waren. Holotätowierungen waren nicht sein Ding, aber wenigstens konnte man bei denen das Motiv ändern oder einfach ein Stück Haut auf die Oberfläche projizieren lassen, wenn man ihrer überdrüssig war.
Med Nummer 2 räusperte sich. Er war blass und eine markante Hakennase zierte sein Gesicht. Er trug eine schwarze Schirmmütze, unter der schwarze Strähnen hervorschauten. Warum stellte die Hypothermieabteilung bloß solche Vogelscheuchen ein? Klar, sie arbeiteten mit den Toten. Aber nachdem sie ihnen wieder neues Leben einhauchten, mussten ihre Mitarbeiter doch nicht wie Leichenbestatter der Voreiszeit aussehen. Zumindest der schien mehr als nur auf Ein-Wort-Sätze zu beherrschen.
"Die Aufzeichnungen seiner letzten Minuten lassen auf kein Einwirken einer weiteren Person schließen", stellte er mit schneidend dünner Stimme fest. Die Stimme verpasste Torochew eine Gänsehaut. Er hatte kein Problem, sich den Typen im Wilden Westen vorzustellen, neben einem frisch gezimmerten Sarg und mit einem Geier auf der Schulter. "Falls es keine Beweise für einen Mord gibt, würden wir nun retten, was noch zu retten ist."
"Ich muss Sie enttäuschen, meine Herren." Torochew verschränkte die Arme vor der Brust. "Selbst wenn es sich nicht um einen Mord handeln sollte, ein Selbstmord kann noch nicht ausgeschlossen werden. Groenwald hat sich vollkommen freiwillig in den Tod gestürzt."
Ob das nun stimmte oder nicht, er wollte sich auf keinen Fall in seine Arbeit hineinpfuschen lassen.
"Oh." Der Tätowierte nahm diese Information ohne eine sichtliche Gemütsregung an.
Die Hakennase verzog die Mundwinkel bevor er ein missbilligendes "Und?" ausspuckte.
"Tja, nachdem ich das erste Mal während meines Dienstes auf eure Kollegen getroffen bin und sie mir einen Strich durch meinen Fall gemacht haben, habe ich mich informiert."
"Das ist schön für Sie ...", ließ der Totengräber den Satz in der Luft hängen.
"Sergeant Torochew."
"... Sergeant Torochew. Würden Sie uns nun bitte zu unserem Kunden durchlassen. Jede Sekunde, die wir verlieren, macht die Restrukturierung seines Gedächtnisses und seines Körpers kostspieliger – wenn nicht sogar unmöglich."
Diese Restrukturierung würde auch Groenwalds letzten Augenblicke löschen. Wer wollte schon mit der Erinnerung an seinen eigenen Tod aufwachen, besonders mit so schmerzhaften? Was Gnade für Groenwald bedeuten würde, waren für Torochew und seine Ermittlung eine Qual.
Stellte er sich zwischen einen Mann und seine Rettung? Faktisch war der bereits seit einer halben Stunde tot, sein Körper kaum noch als solcher erkennbar. Und wenn er sich doch selbst umgebracht hatte, kam ein weiterer Grund hinzu, warum ihm die beiden Männer in Schwarz den Buckel runterrutschen konnten.
"Überprüfen Sie bei Gelegenheit mal die Klauseln der Hypothermieverträge. Im Falle eines Selbstmordes ist davon auszugehen, dass der Kunde von seinem Vertrag zurücktritt und weder eine Lagerung, noch eine Wiederherstellung seines Körpers oder seines Verstandes wünscht."
"Aber ...", versuchte es die Hakennase, doch Torochew schnitt ihm das Wort ab.
"Viel schlimmer wäre aber, wenn es sich um Mord handelt und mir der Täter entgeht, nur weil ihr zwei Spaßvögel unbedingt versuchen wollt, aus einem Haufen Matsch wieder einen Menschen zu basteln."
Der Tätowierte knackte mit den Knöcheln seiner Fäuste und funkelte ihn drohend an.
Torochew schob zur Antwort den Mantel an der Stelle beiseite, an der seine NH32 hing. Jetzt fühlte er sich wirklich wie ein Sheriff im Wilden Westen. "Behindern Sie mich bei der Arbeit und Sie verbringen die Nacht in einer Zelle."
Die Hakennase zuckte mit den Schultern, verzog das Gesicht. Er zögerte, dann zupfte er am Ärmel des Tätowierten, der dem Sergeant provokativ vor die Füße spuckte.
Schläger der Familien hätten es wahrscheinlich darauf ankommen lassen. Die würden einen Sik umlegen. Erst ihn und anschließend die Segmentüberwachung verschwinden lassen. Wobei zwei von denen niemals für einen wie ihn ausgereicht hätten.
Glücklicherweise waren die Typen zu schlecht bezahlt und nicht motiviert genug, eine Auseinandersetzung für einen Kunden zu riskieren, bei dem die Legitimität ihres Auftrags obendrein fraglich war.
Der Tätowierte warf ihm einen Blick zu, der sagte: 'Ich merk mir dein Gesicht, Kumpel'. Dann zogen sie murrend ab.
Torochew ließ den Mantel wieder über die Waffe rutschen und wartete auf seine eigenen Kollegen, damit Betty ihn zu Groenwalds Wohnung begleiten konnte.
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